Streitgespräch
dialog
Streitgespräch zum Aufbau Ost
Der Osten auf der Kippe?
Wieviel Geld benötigt der weitere Aufbau Ost? Gut zehn Jahre nach der deutschen Einheit ist darüber in der Politik ein Streit entbrannt. Unumstritten ist dabei, dass die neuen Länder weiterhin und dauerhaft verlässliche Hilfe brauchen. Aber über wie viele Milliarden Mark und Jahre soll der neue Solidarpakt laufen, den die Bundesregierung jetzt vorbereitet? Darüber führte Blickpunkt Bundestag ein Streitgespräch mit der stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion Sabine Kaspereit und der stellvertretenden Vorsitzenden der PDS-Fraktion Christa Luft, die von November 1989 bis März 1990 Wirtschaftsministerin der DDR war.
Blickpunkt Bundestag: Steht der Osten auf der Kippe, wie Ihr Parteifreund und Bundestagspräsident Wolfgang Thierse kürzlich meinte, oder ist die Geldnot gar nicht so schlimm, Frau Kaspereit?
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Die stellvertretende Vorsitzende der PDS-Fraktion Christa Luft. |
Sabine Kaspereit: Ich halte das Bild von der Kippe für falsch. Das assoziiert mir zu sehr das Abkippen oder Stehenbleiben einer Entwicklung.
Blickpunkt: Es kann auch nach oben gehen...
Kaspereit: Richtig. Aber leider zeigen die Wirtschaftsdaten, dass die neuen Länder eben nicht schnell genug zu einem selbsttragenden Aufschwung und damit zur notwendigen Steuerkraft kommen. Deshalb wird es ohne Zweifel nötig sein, weiterhin solidarisch mit Geld zu helfen. Aber ich sage auch: Geld ist nicht alles.
Blickpunkt: Wie ist Ihre Einschätzung, Frau Luft?
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Die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Sabine Kaspereit. |
Christa Luft: Es ist zweifelsfrei, dass in den letzten zehn, elf Jahren sich in den neuen Ländern manches zum Positiven entwickelt hat. Wir haben das modernste Telekommunikationsnetz Europas, wir haben sanierte Innenstädte, viele modernisierte Wohnungen, manchen industriellen Leuchtturm. Nichtsdestotrotz liegt eine Wegscheidung noch vor uns: Der eine Weg führt in den selbsttragenden Aufschwung, der andere ist der Weg, auf dem wir uns immer noch befinden: Wir werden alimentiert und sind die rückständigste Region Europas. Und wir haben eine Altenheimperspektive. Ich wünsche mir sehr den ersten Weg.
Blickpunkt: Immerhin sind allein aus dem Solidarpakt I rund 150 Milliarden Mark in die neuen Länder geflossen. Haben die keine Wirkung gezeigt?
Kaspereit: Doch natürlich, zumal insgesamt die Transferleistungen ja noch weit höher waren. Aber der größte Teil davon floss in ganz allgemeine Aufgaben. Nur 30 Prozent davon gingen in den investiven und wirtschaftlichen Bereich, zum Beispiel in die Infrastruktur. Ich möchte damit den Eindruck relativieren, dass die Transfer-Milliarden alle für Sonderaufgaben beim Aufbau Ost zur Verfügung standen.
Blickpunkt: Wo stehen die neuen Länder heute? Bestenfalls, wie Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Höppner meint, auf der Hälfte des Weges oder sind die Lebensverhältnisse nicht doch schon angeglichener?
Luft: Ich möchte den semantischen Streit über Kippe, Wegscheide oder Weghälfte nicht anheizen. Unbestritten aber ist: Die Schere zwischen Ost und West geht weiter auseinander. Das empfinden auch die Menschen so. Ich beteilige mich auch ungern an der Diskussion darüber, ob nun 300 Milliarden oder, wie das IW (Institut der Deutschen Wirtschaft, d. Red.) neuerdings sagt, nur 160 Milliarden Mark nötig sind. Wichtiger finde ich die Erkenntnis, dass mit dem Geld, das bislang geflossen ist, schon jetzt mehr hätte erreicht werden können. Wenn nämlich das Geld konzentrierter auf Schwerpunkte eingesetzt worden wäre, von denen wirklich Wurzeln auf den Arbeitsmarkt schlagen, wenn statt verlorener Zuschüsse an Großunternehmen mehr Klein- und Mittelbetriebe gefördert worden wären und wenn die Förderprogramme transparenter und gebündelt wären. Deshalb sage ich auch: Lasst uns das Geld, das es jetzt geben wird, sinnvoll anwenden.
Blickpunkt: Sind Sie einverstanden, Frau Kaspereit?
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Im Gespräch: Sabine Kaspereit und ... | ||||||||||
Kaspereit: Über die sinnvolle Verwendung ja. Aber: Wenn wir die großen Leuchttürme nicht hätten, würden auch die kleinen nicht strahlen. Denn das Dienstleistungs- und das verarbeitende Gewerbe schart sich häufig um die Großen herum. Natürlich kann man darüber streiten, ob man in der Fläche fördert oder ob man besser auf Großbetriebe setzt, die ihrerseits ausstrahlen. Entscheidend sind die wirtschaftlichen Impulse.
Blickpunkt: Milliardenhilfe ist weiter notwendig. Aber stimmt möglicherweise auch die These: Lieber mehr Ideen als immer neue Milliarden?
Luft: Ja, dem stimme ich durchaus zu. Deshalb haben wir zum Beispiel kürzlich dem russischen Präsidenten Putin und dem Bundeskanzler eine lange Vorschlagsliste übergeben, wie der ostdeutsch-russische Handel wieder aktiviert werden kann. Das gilt besonders für Chemieanlagen, bei denen es in Russland einen enormen Modernisierungsbedarf gibt. Mit staatlich verbürgten Krediten könnten ostdeutsche Unternehmen Know-how und Ausrüstungen nach Russland liefern, die dort zu Mehrproduktion und in den neuen Ländern bei uns zu starken Rück-Beschäftigungs-Impulsen führen könnten. Wir brauchen Ideen, die auf den Osten passfähig sind.
Kaspereit: Von der Idee ist das richtig. Aber Russland hat nun einmal selbst eine Menge Probleme und auch eine Menge Schulden. Also so einfach liegt die Sache nicht, zumal viele Geschäftskontakte abgerissen sind.
Luft: Ich könnte sofort 50 Unternehmen nennen, die bereit stehen, mit verbürgten Krediten den Handel aufzunehmen.
Kaspereit: Dazu braucht man nicht nur Anbieter, sondern auch Investoren.
Blickpunkt: Empfinden Sie Vorwürfe aus dem Westen als ungerecht, die neuen Länder seien ein Fass ohne Boden?
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... Christa Luft. | ||||||||||
Kaspereit: Das sind Stammtischparolen, die in der Regel jeder Grundlage entbehren. Gerade wenn der Osten nicht bis zum Sankt-Nimmerleinstag finanziert werden soll, müssen wir die neuen Länder an die Chancen heranführen, die in den alten Ländern längst bestehen.
Luft: Auch ich finde den Vorwurf völlig unberechtigt. Ich ziehe wirklich den Hut vor denen, die die Transferleistungen aus ihrem sauer verdienten Geld aufbringen. Richtig aber ist auch, dass viele Investitionen im Osten auch zu Konjunkturprogrammen in den alten Ländern wurden. Deshalb sage ich: Es ist nicht so, dass es in den alten Ländern nur Gewinner aus der deutschen Einheit gibt und im Osten nur Verlierer. Es gibt auf beiden Seiten beides.
Blickpunkt: Zurück zum geplanten Solidarpakt II. Wie hoch sollte er ausfallen? Die Ost-Ministerpräsidenten hätten gerne 300 Milliarden Mark.
Kaspereit: Vorsicht, hier werden in der Öffentlichkeit viele Zahlen und Daten gerne zusammengemischt, die mit dem Solidarpakt II gar nichts zu tun haben. Die besagten 300 Milliarden Mark etwa beschreiben die bestehende Infrastrukturlücke.
Blickpunkt: Dann lassen Sie uns über die Laufzeit reden: Wie lange brauchen die neuen Länder noch Unterstützung?
Luft: Zehn bis 15 Jahre werden unbedingt notwendig sein. Wobei heute noch offen ist, ob die Hilfe degressiv ausklingen kann.
Kaspereit: Das ist richtig, wobei bei einer Festschreibung der Summe im Solidarpakt II die Degression ja schon über die Inflationsrate eintritt. Zusätzliche degressive Elemente kann man einbauen, aber nicht für die ersten Jahre der Laufzeit. Vielleicht kann man nach sieben Jahren prüfen, wie groß dann noch die Lücke ist und ob man die Hilfe zurückfahren kann.
Blickpunkt: Sollte es zusätzlich auch ein dem Solidarpakt II vorgeschaltetes milliardenschweres Sonderprogramm geben?
Luft: Ich meine ja. Denn die Zeit bis 2004 ist ganz besonders wichtig. Bis dahin entscheidet sich, ob der Osten wirklich auf die Füße kommt. Und das ist im Interesse des ganzen Landes. Dafür nähme ich sogar die Streckung des Abbaus der Neuverschuldung in Kauf.
Kaspereit: Ich widerspreche. Erstens läuft ja bis 2004 der Solidarpakt I ungekürzt weiter. Zum anderen muss die Staatsverschuldung unbedingt weiter abgebaut werden. Da kann man nicht, wie Sie, mit immer neuen Milliardenforderungen kommen, die sich bei Ihnen – ich habe nachgerechnet – auf 60 Milliarden Mark summieren. Das ist das wohlfeile Bedienen von jedermanns Interesse. So geht es nicht.
Blickpunkt: Verstehen Sie, wenn Bürger im Westen sagen, irgendwann muss auch einmal Schluss sein mit der Finanzhilfe für die neuen Länder?
Luft: Sicher ja, aber: Wann ist irgendwann? Übrigens ist Engagement für Chancengleichheit kein Populismus. Bei manchen Politikern in den alten Bundesländern wird leicht vergessen, wie lange Bayern oder andere Länder am Subventionstropf hingen. Da ist ein Zeitraum von zehn, elf Jahren, den wir jetzt haben, überhaupt nicht vergleichbar. Denn es war eine Stunde Null, die für das ganze Land 1990 begann. Und die Menschen zwischen Elbe und Oder haben den Krieg nicht allein verloren, aber sie haben die meisten Folgen davon zu tragen gehabt.
Kaspereit: Hier hat Frau Luft Recht. Es kommt noch hinzu, dass die Menschen in den neuen Ländern eine unglaubliche Veränderung ihrer Lebensverhältnisse hinnehmen mussten. Für viele war das ein Schock. Bei dem Strukturwandel bei Stahl und Kohle war das längst nicht so krass.