Und die Plattenbauten da hinten am Bahnhof, die sollten die auch noch abreißen", schlägt eine muntere 55-Jährige vor, als sie, kurz nach ihrer Ankunft in der Stadt, in der Lobby ihres Hotels zu einem ersten Rundgang durch den Innenstadtkern abgeholt wird. Abends wird eine andere Dame aus der schwäbischen Reisegruppe den Satz aussprechen, der in diesen Monaten in der Luft hängt, wenn westdeutsche Reisende die touristischen Zentren Mitteldeutschlands besuchen: "Jetzt weiß ich endlich, wo mein Solidaritäts-Zuschlag geblieben ist", sagt sie zu ihrer Freundin. Die Begleiterin stimmt zu. Fast klingt es etwas neidisch, als sie meint, dass es im Osten doch viel besser aussehe, als dies im Fernsehen immer gezeigt werde. Ganz anders kommt die erste Begegnung mit den neuen Bundesländern bei einem Herrn an, der - halb im Scherz, halb im Ernst - moniert, dass es trotz der Milliarden für den Aufbau Ost mancherorts noch immer Schlaglöcher in den Straßen gebe. Zu Stadtführer Matthias Lempe gewandt, fügt er in einer Mischung aus Gutmütigkeit und Überheblichkeit hinzu: "Aber das kriegt Ihr schon noch hin."
Lempe hat sich angewöhnt, in solchen Situationen zu schweigen. Für die neuerdings lauter werdenden Klagen seiner Landsleute über die Kosten der Wiedervereinigung fühlt er sich "nicht zuständig". Und so verabschiedet sich Lempe am Ende einer Tour manchmal recht zügig von seinen Gästen, selbst wenn sich das Trinkgeld dadurch reduziert. Dies fällt ihm um so leichter, als die Auftragslage trotz der kalten Jahreszeit hervorragend ist. Leipzig erlebt einen wahren Besucheransturm, die Wachstumsraten liegen im zweistelligen Bereich. Niemals zuvor haben so viele Touristen aus dem In- und Ausland die Stadt besucht, in der Vorweihnachtszeit meldeten die Beherbergungsbetriebe Vollbelegung. Aber auch Geschäftsreisende sowie Messe- und Kongressgäste spielen eine wichtige Rolle. Und die 30.000 Studenten der Leipziger Hochschulen laden Eltern und Freunde zum Besuch ein. Um acht Prozent auf 1,6 Millionen wuchs die Zahl der offiziell registrierten Übernachtungen im Jahr 2003, hinzu kommen Hunderttausende, die privat logieren. Dies sind die höchsten Steigerungsraten, die deutschlandweit registriert werden, berichtet Andreas Schmidt vom Verkehrsverein der Stadt.
Dabei spielt der Bus-Tourismus eine wachsende Rolle. Tages- oder Kurzreisende, die lange nicht zu den Lieblingsgästen der Reisebranche gehörten, ließen nach einer Berechnung der örtlichen Industrie- und Handelskammer im vergangenen Jahr fast 800 Millionen Euro in der Stadt zurück. Mit gezielten Werbeaktionen, die Leipzig zum Beispiel als Musik- und Kulturstadt für Studienreisen anpreisen oder als Stadt des Sports, des Automobilbaus (Neuansiedlungen von Porsche und BMW) und der Messe, gelang es in jüngster Vergangenheit, neue Besucherschichten zu akquirieren. Auch mit dem Handbuch "Busstopp Leipzig", das speziell an Reiseveranstalter und ihre Busfahrer adressiert ist, landeten die Tourismusmanager einen Erfolg, der ihnen für die Vermarktung des Reiseziels Leipzig den "Bus-Oscar 2005" einbrachte, eine begehrte Auszeichnung der Tourismus-Branche. Das Konzept, die Stadt als geschichtsträchtige und zugleich junge, wirtschaftlich aktive und lebenslustige Ausnahmeregion im Osten zu zeigen, die sich vom ansonsten vermittelten tristen Bild der Neuen Länder absetzt, geht auf. Und obwohl nach dem hämisch kommentierten Ende der Träume um die Ausrichtung der Olympischen Spiele 2012 ein Einbruch vorausgesagt worden war, ist davon bislang nichts zu spüren. Im Gegenteil, die Zahlen lassen - nach dem Erfolgsjahr 2004 - auch für 2005 hervorragende Ergebnisse erwarten.
Wer die Touristen aus den wichtigsten Herkunftsregionen Bayern, Baden-Württemberg und Hessen bei ihrem ersten Kontakt mit der Stadt, der häufig auch der erste Kontakt mit den neuen Bundesländern ist, beobachtet, dem fällt eine seltsame Diskrepanz auf: Die Begeisterung vieler westdeutscher Reisender über die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten steht in starkem Kontrast zu der Unlust, gar Wut, mit der sie über den nach ihrer Einschätzung ins Stocken geratenen Aufbau Ost räsonieren. Gelegenheit zu ambivalenten Empfindungen gibt es zur Genüge, denn Leipzig verkörpert in seinem Stadtbild - wie auch andere Städte in Mitteldeutschland - sowohl das Gelingen als auch das Misslingen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation. Erfahrene Reiseführer nehmen das Beispiel der allgegenwärtigen Baustellen zur Illustration des Stimmungswandels: Während sie mit ihren Hinweisen auf Großbaustellen und weiterhin nötige Sanierungsarbeiten viele Jahre lang bei ihren Gästen mitfühlende oder anerkennende Freude auslösten, wird seit dem vergangenen Sommer von Reisenden öfter einmal die Frage gestellt, "ob wir das alles noch bezahlen können".
Mit dieser Frage wird Konstanze Hollitzer bei einer Führung von Pensionären aus dem Ruhrgebiet nicht konfrontiert. Die 31-Jährige, die im Hauptberuf Pianistin und Klavierlehrerin ist und die Stadtspaziergänge "Auf den Spuren der friedlichen Revolution des Jahres 1989" nur in ihrer Freizeit anbietet, hat es heute wieder einmal erlebt: Es gibt sie noch, die Damen und Herren, die Tränen in den Augen haben, als sie aus dem Stasi-Museum in der "Runden Ecke" kommen und sich an die Schikanen beim Grenzübertritt zum Verwandtenbesuch und an ihre Freude beim Fall der Mauer erinnern. Zwar ist beim Gang durch die Stadt auch immer wieder einmal zu vernehmen, "dass hier alles vom Feinsten" renoviert wurde; und Konstanze Hollitzer hat in diesen Monaten immer häufiger das Gefühl, "dass manche Touristen die Stadt nur noch mit den Augen des Steuerzahlers taxieren". Weil sie jedoch weiß, dass diese Reise für viele ihrer Gäste die erste, späte Begegnung mit den Neuen Bundesländern ist, erzählt sie lieber noch, wie wichtig ihr und vielen Leipzigern Freiheit und Demokratie waren und sind. Als sie an Originalschauplätzen berichtet, wie sie als regimekritische Schülerin die Montagsdemonstrationen und das Ende der DDR erlebte, ist zu spüren, wie groß das zeitgeschichtliche Potenzial der jüngsten Geschichte der Stadt ist.
Kein Wunder, dass sich dies nicht nur die Tourismus-Manager der Stadt, sondern auch die Experten der politischen Bildung gerne zunutze machen möchten, um Interesse für den Prozess der deutschen Wiedervereinigung zu wecken. Rainer Eckert, der Direktor des "Zeitgeschichtlichen Forums", des einzigen großen ostdeutschen Veranstaltungszentrums und Museums zur Geschichte der deutschen Teilung und Wiedervereinigung, freut sich über eine starke Zunahme der Besuchergruppen, nicht nur aus dem Ausland, sondern vor allem aus den alten Bundesländern, die sich die Dauerausstellung über die Geschichte von Diktatur, Widerstand und Zivilcourage in der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR ansehen.
Die Museumspädagogen des inmitten des touristischen Treibens zwischen Rathaus, Nikolaikirche und Thomaskirche gelegenen Instituts haben eine anspruchsvolle Aufgabe zu erfüllen. Denn das Basiswissen über das politische System der DDR und die deutsche Wiedervereinigung nimmt ab - und zwar sowohl in den neuen als auch in den alten Bundesländern. Eine typische Reaktion auf Berichte und Dokumente über Mauerbau, Schießbefehl und den Unterdrückungsapparat ist bei jüngeren Besuchergruppen die ungläubige oder entsetzte Nachfrage: "Ist das denn wirklich alles so schlimm gewesen?" Letztlich könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Freude vieler Deutscher über die Wiedervereinigung aufgebraucht ist. Und dass sich die meisten Menschen keine Vorstellung mehr davon machen können, wie groß der Zerfall einst war.
Möglich wäre das schon. Zwar ist die wechselvolle Geschichte Leipzigs auf Faltblättern, Stadtplänen und durch zahlreiche Gedenkstätten im öffentlichen Raum vorbildlich dokumentiert. Informationen zu Unterdrückung und Widerstand in den Jahren der DDR sind auf weithin sichtbaren gelben Stelen für interessierte Passanten problemlos auffindbar. Wer jedoch wissen möchte, wie ruinös der Zustand der Stadt und ihrer (Bau-)Substanz in den späten Jahren des real existierenden Sozialismus war, ist auf Fotografien in Büchern angewiesen - oder muss auf eigene Faust die Sanierungsgebiete abseits der touristischen Pfade aufsuchen. Macht und Banalität des SED-Regimes sind für Fremde nur noch in der "Runden Ecke" nachzuem-pfinden. Am einstigen Sitz der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit wird vom Bürgerkomitee ein bescheiden ausgestattetes Museum betrieben, das durch die Authentizität der Räumlichkeiten und Ausstellungsobjekte, vor allem aber durch engagierte Führungen, glänzt. Dort und im "Zeitgeschichtlichen Forum" trifft man neben Sensationslustigen, die sich eine Art "Gruselkabinett" erwarten, auf diejenigen Touristen, die sich für die jüngste deutsche Geschichte interessieren. Oder aber - wie im Falle von manchen Touristengruppen oder Schülern - von engagierten Reiseleitern oder Lehrern erst auf die einmalige Chance hingewiesen werden müssen, sich ein lebendiges Bild von der deutschen Teilung und Wiedervereinigung zu machen.
Während ostdeutsche Jugendliche oder gar Studenten heute schon Probleme mit Abkürzungen und Begriffen wie FDGB oder FDJ haben, seien bei ihren westdeutschen Altersgenossen in aller Regel "keinerlei Kenntnisse über die deutsche Teilung mehr vorhanden", stellt Forums-Direktor Rainer Eckert nüchtern fest.