Der Weg zum Kult ist weit in der Stadt, die so gerne olympisch geworden wäre. In unmittelbarer Nachbarschaft einer Datschensiedlung, zwischen Ponyhof und Kolonie-Treff, Meisen-, Amsel- und anderen Vogelwegen residiert ein Verein, der an jedem Freitag, Samstag oder Sonntag zum Fußball ruft. Damit wäre aber auch schon so ziemlich alles genannt, was Lokomotive Leipzig mit anderen Clubs der Republik gemeinsam hat.
Es ist Freitagabend, 17.30 Uhr. In eineinhalb Stunden wird angepfiffen. 30 Jungen und Männer haben sich vor dem stählernen Einlasstor des Stadions versammelt. Sie sind in gelbe Leibchen geschlüpft, auf denen "Ordner" geschrieben steht. Ihnen zur Seite stehen 20 professionelle Security-Kräfte. Gemeinsam besprechen sie, wie sie mehrere Tausend Fans ins Stadion schleusen wollen, ohne dass es zu Rangeleien kommt. Ein großes Fußballspiel in Leipzig, der Stadt, die seit 2004 über ein WM-taugliches Zentralstadion mit 55.000 Plätzen im Wert von weit über 100 Millionen Euro verfügt? Mitnichten.
Im etwas maroden Bruno-Plache-Stadion am Rande der Stadt tritt der Tabellenerste der dritten Kreisklasse gegen den Tabellenletzten an. Dritte Kreisklasse, das ist elfte Liga. Tiefer als elftklassig kann man gar nicht Fußball spielen. Das durchschnittliche deutsche Kreisklassenspiel findet vor wenigen Müttern und ein paar mehr Vätern und kleinen Brüdern statt. Hier staut sich lange vor Spielbeginn der Verkehr auf der Zufahrtstraße, und es gibt nicht genug Parkplätze. Hektisch huscht die Buchhalterin Karin Pokalla durch das Vereinsheim, um zumindest zusätzliches Personal für die Kasse zu rekrutieren. Die Tickets kosten zwei Euro.
Ein Mythos ist zurück in Probstheida, dem tristen Vorort der sächsischen Vorzeigestadt, wo Goethe ebenso fern ist wie die Millionen Euro, die in die gescheiterte Olympiabewerbung gesteckt wurden. Hier ist ein Großteil der Häuser auch 15 Jahre nach dem Mauerfall nicht saniert.
Seit die Lok von neuem schnauft, hat Probstheida immerhin wieder ein Zentrum. Lokomotive, kurz Lok, Leipzig ist der traditionsreichste von 92 Leipziger Vereinen. 1903 wurde der Club, damals noch als "VfB Leipzig", erster deutscher Meister überhaupt. Später holte Lok Leipzig viermal den DDR-Pokal; 1987 stand man im Europacup-Finale in Athen. Nach dem Mauerfall stieg die Loksche - dann wieder als VfB Leipzig - in die Bundesliga auf. Fußballerisch ein enormer Aufstieg; aber eigentlich ging es fortan nur noch bergab. Ständig wechselnde Geschäftsführer, viele aus dem Westen, kauften für viel Geld, das sie nicht hatten, ständig wechselnde Spieler. Die spielten zwar, gewannen aber selten und taten, so erzählt man es hier zumindest, auch sonst nicht viel für den Verein. So wenig, dass ausgerechnet der Insolvenzverwalter der Buchhalterin Pokalla ein Plakat geschenkt hat, das diese begeistert über ihren Tisch pinnte: "Kopfbälle und Joggen machen dumm." Vor einem Jahr meldete der Verein Konkurs an. Wie es das Vereinsrecht will, wurde er daraufhin aus dem Register gestrichen.
Das aber wollten hunderte Anhänger nicht auf sich sitzen lassen. Flugs gründeten sie einen neuen Verein, für den sie den alten DDR-Namen wählten, und fingen wieder an - zwangsweise ganz unten, in der elften Liga. Der neue Vorstand, der Trainer, der Zeugwart - sie alle sind alte Fans, die nur eines wollten: die Lok wieder dampfen sehen, notfalls auch auf holprigen Ascheplätzen. Der neue Präsident heißt Steffen Kubald, ist 42 und ein Ex-Hooligan, der vor 30 Jahren sein erstes Lok-Spiel sah. "Menschen ändern sich", sagt er, das sehe man doch auch am Außenminister. Heute steht Kubald am Eingang zum Stadion und hat einen kleinen Sohn an der Hand.
Auch Ralf Nasada sah das Bruno-Plache-Stadion das erste Mal vor fast drei Jahrzehnten. Fünf Jahre war er alt, als sein Vater ihn das erste Mal mit ins Stadion nahm. Der Junge sah die Spieler auf dem Rasen und war hin und weg: Kicken, Tore schießen, ein großer Fußballer werden, das wollte er auch. Einer, der ein bisschen kicken konnte, wurde Ralf tatsächlich. Zum großen Fußballer hat es nie gereicht. Ein paar Jahre habe er gelitten, sagt er. "Aber was soll's? Es gibt wohl Dinge, die ich besser kann." Ralf Nasada ist einer der 30 Ordner. Und wie er da vor dem Tor steht, denkt man, dass er auf ein Spielertrikot kaum stolzer sein könnte als auf sein gelbes Hemdchen. "Das ist mein Club", sagt der 42-Jährige und macht mit ausgebreiteten Armen eine halbe Drehung nach rechts, eine halbe Drehung nach links. Wie zur Bestätigung bremst ein schwarzer Kleinwagen neben ihm; eine Hand wird aus dem Fenster gestreckt. Ralf Nasada drückt sie fest. "Hey, Ronny", sagt er, ohne in das Wageninnere zu gucken, "du bist spät!" Ronny Richter, einer der Spieler, lacht und gibt Gas.
Weil die Wiedergründer im Sommer 2004 nicht einmal mehr auf Kicker zurückgreifen konnten, luden sie kurzerhand zum "Casting". Da hatte sich schon wie ein Lauffeuer verbreitet, dass die Lok wieder dampft: 80 Spieler kamen zum Probeschießen. Das erste Training fand vor 200 Leuten statt; das erste Spiel vor 2.000. Als Kubald die künftige WM-Arena anmietete, schwappte die Woge der Begeisterung meilenweit über Probstheida hinaus: Vor fast 13.000 Zuschauern schlug Lok im vergangenen September Eintracht Großdeuben mit 8:0. Mit auf dem Rasen im Zentralstadion war der ehemalige DDR-Nationalspieler Heiko Scholz. Auch Herbert Frenzel, DDR-Fußballlegende und heute 62, hat sich schon mal zu einem Auftritt überreden lassen. Für dieses Jahr, so wird kolportiert, sollen sogar Otto Rehhagel und Lothar Matthäus Gastauftritte angekündigt haben.
Heute hat man Frank Baum, der 1987 um den Europacup gegen Ajax Amsterdam spielte, geworben. Er trägt die Nummer 3. Als er in der 61. Minute ein Tor schießt, kennt die Seligkeit der fast 4.000 Zuschauer keine Grenzen: "Baumi, wir lieben dich", singen sie. Gelb-blaue Fahnen wehen, Schals kreisen, Luftballons fliegen. Am Ende des Abends hat Lok Leipzig den SC Althen mit 11:1 geschlagen. Wieder einmal hatten die Nummerngirls, die die Anzeige ersetzen, weil die nur Ziffern bis neun kennt, viel zu tun. All das ist den Zuschauern aber völlig gleichgültig. Wie an jedem Wochenende waren sie beieinander. Vom Fünfjährigen, der die Aufschrift "Kleiner Lokfan" auf dem Rücken trägt, bis zum 75-Jährigen, der mit Mantel und Regenschirm auf einer der morschen Holzplanken ausharrt. Kollegen haben sich außerhalb ihres Schichtdienstes getroffen, Nachbarn, Schulklassen und Familien einen Abend miteinander verbracht.
Ralf Nasada setzt fort, was er vor dem Spiel begonnen hatte: der angereisten Zuschauerin zu erklären, warum der Verein ab-, der Fußball aber aufgestiegen sei durch den Konkurs. Statt um Geld gehe es jetzt nämlich wieder um Freude, um Gefühle, nicht um Karriere. Für die Zuschauer sei zur Lok zu gehen wie Nachhausekommen, schwärmt der zweifache Vater, der tatsächlich an jedem Freitag von seinem Job in Oderberg nahe an der polnischen Grenze nach Leipzig pendelt. "Wir sind eine Familie", sagt Nasada. "In einer Welt, in der sich so viel ändert, gibt es doch nichts Schöneres."