Die israelisch-deutschen Beziehungen haben ihre Vorgeschichte. Dazu gehören nicht nur Shoah und Weltkrieg, nicht nur die reichen wie zwiespältigen deutsch-jüdischen Beziehungen. Israel erbte auch Beiträge vor allem kirchlichen Engagements im arabischen Palästina. Einiges blüht bis heute, so die evangelische deutsche Erlöserkirche in Jerusalem mit ihren Institutionen wie der Himmelfahrtkirche auf dem Ölberg. Die meisten Erbstücke gingen im israelischen Unabhängigkeitskrieg verloren: die Siedlungen der freikirchlichen Templer aus dem Württembergischen. Oder das "Syrische Waisenhaus" der Schneller-Stiftung; einst so groß wie die Jerusalemer Altstadt. Israels Armee besitzt derzeit diesen Komplex. Die Gebäude werden wohl nicht mehr zurückkehren, auch wenn dazu eine Kirche gehört, deren Eigentumsübertragung vor Gericht anfechtbar wäre.
Mit Israels Unabhängigkeitskrieg verloren die Kaiserswerther Diakonissen ihre Mädchenschule Talitha Kumi im Zentrum Westjerusalems. Nur noch der Uhrengiebel erinnert an sie. In den 70er-Jahren eröffneten die Schwestern dann über Bethlehem in Beit Jala eine neue Talitha-Kumi-Schule für arabische Jungen und Mädchen, die heute das Berliner Missionswerk trägt. Nun bedroht Israel auch diese Einrichtung. Nach den jetzigen Plänen könnte der Trennzaun längs der Siedlerstraße nach Hebron den Zugang für palästinensische Schüler und Lehrer aus Nachbarorten versperren. Talitha Kumi würde von Jerusalem abgeschnitten. Bundespräsident Köhler und Außenminister Fischer setzen sich bei Ministerpräsident Scharon für Talitha Kumis Zukunft ein.
Stets hat im krisengeschüttelten Nahen Osten die Politik entscheidenden Einfluss auf die Möglichkeiten religiöser Institutionen genommen. Das dürfte so bleiben: Was will Israel? Wie sieht das zukünftige "Palästina" aus. Die Zukunft Jerusalems? Die Palästinenser fordern den arabischen Teil. Bisher verteidigen aber alle israelischen Regierungen die 1980 zumindest gesetzlich vollzogene "Einheit" als "ewige Hauptstadt" und verbauen das arabische Jerusalem. Wenn Jerusalem allein israelisch wird, wohlmöglich mit Mauern und Siedlungen abgeschottet gegen die arabischen Dörfer, dann würden die Bande zwischen den Kirchenführern in der Stadt und den Gemeinden draußen eingeschränkt. Im anderen Fall würde Ostjerusalem zu "Palästina" gehören. Das wäre für die arabischen Christen kein Gewinn. In Palästina soll nach jetzigen Plänen das muslimische Familien- und Religionsrecht der Scharia herrschen. Palästinensische Christen gerieten im eigenen Staat in Bedrängnis.
Um die deutsche Gemeinde möglichst aus diesen politischen Konflikten herauszuhalten, ist es wichtig, ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Dafür sollte sie ranghoch geführt und von Deutschland aus gestärkt werden. Es handelt sich übrigens nicht nur um zwei Kirchengebäude und ihre Gemeinde, sondern um ein kulturpolitisch wichtiges Zentrum, was sich leicht aus dem vierteljährlich erscheinenden Gemeindebrief mit all den Angeboten erkennen lässt. Dieses Zentrum öffnet sich über die Gemeindeglieder hinaus den Israelis und Arabern; bietet ein Forum, wo sich beide angefeindete Seiten treffen, ohne sich von der einen oder anderen Seite vereinnahmt zu fühlen. Ausstellungen, Kolloquien, Konzerte, zwischenreligiöse Begegnungen stehen neben den Gottesdiensten auf dem Programm. Darauf weisen auch die deutsche Botschaft in Tel Aviv und das Vertretungsbüro in Ramallah hin, die auch mit katholischen Mitarbeitern zur Erlöserkirche kommen, und sei es nur wegen der Kindergottesdienste.
Nach ihrer Aufgabe sind die Erlöserkirche und die Himmelfahrtkirche keine Missionskirchen. Die Missionskirchen wurden nicht wie die anderen Kircheneinrichtungen der Vergangenheit dafür geschaffen, örtlichen Arabern, meist griechisch-orthodoxen Christen, eine neue Kirchenheimat zu geben. Sie sollten den deutschsprachigen Christen am Ort und aus der Heimat dienen. Darum ist die Kirche die "Botschaft" der "Evangelischen Kirche Deutschlands" (EKD) und Heimat für Millionen deutscher Protestanten. Ihr Botschafter ist der Propst.
Bis zum Sechs-Tage-Krieg 1967 schien es so, als würden wegen der Jerusalem durchschneidenden Mauer kaum mehr Deutsche in das jordanische Ostjerusalem kommen. Darum wurde in den 50er-Jahren die neben der kleinen deutschen Gruppe gewachsene arabische Missionsgemeinde in der Erlöserkirche besonders gefördert und in die Unabhängigkeit entlassen; ähnlich wie die arabischen Gemeinden in Bethlehem, Beit Sahur, Ramallah oder Beit Jala. 1959 fand die erste Synode der "Evangelisch-lutherischen Kirche in Jordanien" (ELCJ) statt, die diese arabisch-lutherischen Gemeinden zusammenfasste. Ihr Oberhirte blieb zunächst der deutsche Propst, der arabische Pastoren unter sich hatte. Von 1967 an aber kehrten die Deutschen in großer Zahl zurück. Ostjerusalem war wieder für Botschaftsangehörige aus Tel Aviv oder für Volontäre der "Aktion Sühnezeichen" erreichbar. Das beschleunigte den Abtrennungsprozess. 1977 kam es zur verwaltungsmäßigen Loslösung der ELCJ von der Propstei. Zwei Jahre später erhielt die ELCJ ihren eigenen Bischof. Weil sich arabische und deutsche Kirche "brüderlich" trennten, unterblieb der Bau einer separaten Bischofskirche. Die Propst-Gemeinde, die arabische Ortsgemeinde und ihr ELCJ-Bischof nutzen bis heute die Erlöserkirche und die Propstei.
Doch mittlerweile will dieser Bischof mehr sein als der Propst, und die Erlöserkirche soll mehr Bischofs- als Propstkirche sein. Das schafft Probleme mit der Propst-Gemeinde, die ihre Identität und ihren Auftrag wahren will. Der derzeitige palästinensische Bischof der ELCJHL (Evangelisch-Lutherische Kirche in Jordanien und im Heiligen Land) versucht in seiner Autorität als Vizepräsident des Lutherischen Weltbundes seine Vormacht auszubauen. Schon ordnete er sich andere nichtarabische Gemeinden unter: die englischsprachige oder die dänische, die in der "Johanniter-Kapelle" der Erlöserkirche ihre Gottesdienste abhalten.
Die EKD steht dabei mehr auf Seiten des arabischen Bischofs und beugt sich dem Druck der lutherischen Kirchen. Die EKD will mit dem Lutherischen Weltbund eine "Kirchengemeinschaft" eingehen. Davor aber will der Bund in Jerusalem - wie in Timbuktu oder Kinshasa - das Primat der Ortskirche vor den Ausländergemeinden durchsetzen. In Jerusalem sollen sich alle Protestanten dem palästinensischen Ortsbischof unterstellen. Aus Sicht der EKD scheint die liturgische Unterordnung des Propstes beim Segen annehmbar. Dass so für Gottesdienstbesucher der Propst-Status als Kirchenführer und Hausherr unterminiert wird sowie die Unabhängigkeit seiner Gemeinde in Zweifel gerät, wird übersehen. In arabischen Zeitungen wird der Bischof gern als Chef aller Protestanten und der Erlöserkirche zitiert. In Israel fällt das auf: es ist feindlich von "Arabisierung" die Rede.
Unter den verschiedenen evangelischen Auslandsgemeinden in Jerusalem sollte die Propstkirche weiter eine Sonderrolle spielen. Zu ihr und ihrem Gemeinderat gehören Menschen aus Israel und aus den palästinensischen Gebieten. Die deutschsprachige Kirche steht auch wegen ihrer einzigartigen Immobilien für sich, Gebäuden, die Begierden wecken. Zudem hat die Propstgemeinde mit dem lutherischen Bischof schon deswegen nichts zu tun, weil sie nicht nur Lutheraner, sondern Protestanten aller Art umfasst. Sie sieht sich mit Blick auf die politische Situation theologisch, seelsorgerisch und kulturpolitisch geradezu gezwungen, ihre Eigenständigkeit zu verteidigen.
Aus der deutsch-jüdischen Historie ergibt sich eine besondere Beziehung deutscher Protestanten und der Propst-Kirche zu jüdischen Strömungen: Aus der "Wissenschaft des Judentums" im 19. Jahrhundert erwuchsen nichtorthodoxe Gemeinden. So hegt zum Beispiel die liberale um die Nachfolger von Schalom Ben-Chorin in Jerusalem freundschaftliche Bindungen zum Propst. Es bleibt die schwere Last des Holocaust. Die Propst-Gemeinde nimmt Anteil an Israels Gegenwart. Sie bemüht sich um Yad Vashem. Der Propst legt am Ort von Terroranschlägen Blumen nieder.
Weil die Gemeinde ihren Platz in Israel ernst nimmt, wird sie auch von Israelis ernst genommen, wenn sie sich für palästinensische Belange einsetzt. Und darin sieht sie ihre Hauptaufgabe. Fast alle Sozialhilfen fließen in den arabischen Sektor, es gibt enge Kooperationen mit arabischen Partnern. Gemeinderäte arbeiten mit syrisch-orthodoxen Christen in Bethlehem oder mit arabischen Diabetes-Kranken zusammen. Wie schon beschrieben, zieht die Schule Talitha Kumi Nutzen daraus, weiter in deutscher Trägerschaft zu sein. Die Rückendeckung der Gemeinde und ihrer Institutionen durch die Bundesregierung ist stärker als jede internationale oder lokale Kirchenorganisation.
Eine unabhängige Propst-Kirche wird der arabischen Bischofskirche, die leider seit den Abwanderungen wohl nur noch gut 1.000 Mitglieder zählt, besser helfen können als eine internationalisierte Weltbundkirche. Unabhängig kann der Propst auch besser Schutz und Hilfe gewähren, sollte sich die arabische Kirche dem muslimischen Scharia-Gesetz unterwerfen müssen, sagt die Gemeinde. Auch theologisch sollte die Gemeinde für sich bleiben: als einziger Ort, an dem die Lutherbibel in Urfassung gelesen und interpretiert wird. Die Gemeinde sieht sich nicht als Gast. Und das nicht nur wegen ihrer Tradition, die sich über Kaiser Wilhelm II. und die württenbergischen Templer, über den Johanniter-Orden bis auf Karl den Großen zurückverfolgen ließe. Sie ist "einheimisch" wegen der einzigartigen Magnetkraft der Heiligen Stadt Jerusalem. Sie ist immerwährende Präsenz der EKD-Glieder und vertritt jene, so wie die Benediktiner der Dormitio auf dem Sion die deutschen Benediktiner vertreten und gar nicht daran denken, daran etwas zu ändern. "Der Propst hat nur einen Platz, und der ist zwischen den Stühlen", sagte einst Propst Friedrich, heute bayerischer Landesbischof. Allein diese einzigartige Präsenz ist Angebot zu "Versöhnung und Aufklärung", stellt eine Entschließung der Gemeinde fest.
Einst lehnte Bischof Gregor von Nyssa Reisen ins Heilige Land ab. Der Heilige Geist wehe auch in Kappadozien, sagte der byzantinische Geistliche. Als der Kirchenvater dann doch kam, packte ihn dies: Er atme das heilige Geschehen ein, ähnlich wie den Duft des Parfums im leeren Flakon. Dieses Erlebnis will die deutsche Gemeinde weiter bereit halten und bietet der EKD an, dies Angebot stärker als bisher zu nutzen, um Christen im deutschsprachigen Raum zur Bibel zurück zu bringen. Sie kann sich aber nicht auf Internationalisierungen einlassen. Sie kann nur auf ihr geachtetes Erbe bauen, auf ihren kulturpolitischen und theologischen Auftrag für die Zukunft und auf den Schutz der Bundesregierung. Die baute stabile Beziehungen zum Staat Israel und vertritt glaubwürdig palästinensische Interessen. Sie tut im Großen, was die Propst-Gemeinde im Kleinen leisten will.
Jörg Bremer ist FAZ-Korrespondent für Israel und die palästinensischen Gebiete.