Der bekannte israelische Schriftsteller Abraham B. Jehoshua (geboren 1936 in Jerusalem) schrieb zu diesem Thema einst folgenden Satz: "Die Juden sind Leute, die Wesensmerkmale sowohl einer Nation als auch einer Religion aufweisen. Jedoch sind sie weder eine Nation noch eine Religion, sondern eine problematische Mischung." Die scheinbar androgyne Form des Judentums kommt auch in der Tatsache zum Ausdruck, dass Israels Parlament innerhalb der letzten 50 Jahre schon sechsmal die staatliche Definition zur Frage "Wer ist Jude?" geändert hat. Eng verbunden mit dieser Frage, aber nicht ganz identisch, ist die ebenso schwierige Frage "Wer ist eigentlich Israeli?". Denn schließlich sind fast 20 Prozent der israelischen Bevölkerung keine Juden und dennoch Bürger des Staates Israel, repräsentieren das Land als Botschafter im Ausland, arbeiten in Ministerien als Beamte oder leisten teilweise gemeinsam mit ihren jüdischen Altersgenossen Wehrdienst in der Armee.
Das Judentum hat viele Gesichter. Orthodoxe Juden wie der legendäre New Yorker Rabbiner Menachem Schneerson, aber auch liberale, reformierte oder gar assimilierte Juden wie Albert Einstein, Martin Buber oder Franz Kafka. Eine einzigartige Mischung aus Religion und ethnischer Zugehörigkeit, die die jüdische oder israelische Identität noch komplizierter macht.
Was also sind die Juden? Religion, Nation oder wohlmöglich beides? Sicher ist nur, dass in der Antike, zu Zeiten des ersten eigenen Staatswesens, die Juden ein Volk mit eigener Religion waren. Auch nach der Vertreibung durch die Römer galt diese Definition noch. Zwar traten in folgenden Jahrhunderten immer wieder kleine Volksgruppen zum Judentum über, doch spätestens mit der nach dem 1. Kreuzzug massiv einsetzenden Judenverfolgung endete der Zugang von außen fast völlig, auch wenn es weiterhin in allen Kulturkreisen Menschen gab, die sich bewusst dem Judentum anschlossen.
Bis in die Neuzeit änderte sich daran nichts. Ob in Ost- und Mitteleuropa oder in den orientalischen Ballungszentren des Mittelmeerraums und im Nahen Osten. Die Juden lebten häufig in eigenen Wohnvierteln, oft als staatenlose Fremde unter Zwang zusammengedrängt, manchmal aber auch freiwillig, um die Tradition und das kulturelle Erbe der Vorväter zu bewahren. Besonders in Osteuropa, wo bis ins 20. Jahrhundert offene, brutale Diskriminierung durch die Nachbarvölker und die christliche Kirche bittere Realität geblieben war, bildete sich in der feindlichen Umwelt ein eigener enger Kulturkreis mit Jiddisch als Umgangssprache heraus, bei dem das Gefühl der nationalen Identität immer eine wichtige Rolle spielte. Im Gegensatz zu den sich zunehmend sicher und etabliert fühlenden Juden in Westeuropa nahmen die jüdischen Massen in Osteuropa auch voller Begeisterung die Ideen des Zionismus auf.
Während der Jahrhunderte im Exil gab es zwischen den Juden in den Städten des Orients und den Bevölkerungszentren Osteuropas immer wieder einen religiösen und kulturellen Austausch, aber auch persönliche Kontakte. Es soll in diesem Zusammenhang betont werden, dass es nicht eine religiöse Bewegung, gleich ob mystischer oder philosophischer Tendenz, nicht eine Kontroverse zwischen Traditionen und Interpretationen bei den europäischen Juden gab, die von den Juden des Orients nicht auch wahrgenommen und dis-kutiert wurde. Zu keiner Zeit brach die Verbindung zwischen den großen geistigen Zentren des Judentums in Arabien, in West- und Osteuropa oder Nordafrika ab. Trotzdem bildeten sich rituelle Eigenarten, die bis heute in der Einteilung in Sephardim und Aschkenasim grob widergespiegelt werden.
Auch die Sehnsucht nach der alten Heimat Jerusalem blieb den verstreuten Juden als gemeinsamer Bindungsfaktor. "Die Juden haben die ganze Nacht ihrer Geschichte hindurch nicht aufgehört, diesen königlichen Traum zu träumen: Nächstes Jahr in Jerusalem!", schrieb Theodor Herzl am Ende des 19. Jahrhunderts in seinem Buch "Der Judenstaat".
In Westeuropa und den USA wurde, beginnend mit dem Zeitalter der Emanzipation und der Aufklärung ein völlig neues Selbstverständnis entwickelt. In den Metropolen Westeuropas entstand der Staatsbürger jüdischen Glaubens, der sich als Deutscher, Franzose oder Engländer fühlen konnte, aber der jüdischen Religion verpflichtet blieb. Dieses Selbstverständnis wurde durch den Holocaust sehr stark erschüttert. Dennoch dominiert auch heute in den meisten europäisch geprägten Ländern und in Nordamerika das Selbstverständnis des Staatsbürgers jüdischen Glaubens. Wie empfindlich dieses Konstrukt jedoch ist, hat die jüngste Gewaltwelle gegen Juden in Frankreich gezeigt, die nach dem Beginn der zweiten Intifada ausgebrochen ist. Über einen relativ kurzen Zeitraum von nur vier Jahren mutierten viele der französischen Staatsbürger jüdischen Glaubens zu Juden in Frankreich, von denen jährlich über 3.000 das Land in Richtung Israel verlassen. Der Staatsbürger jüdischen Glaubens ist eben doch von der politischen Situation in seinem jeweiligen Heimatland abhängig.
In Deutschland hat die Vergangenheit dazu geführt, dass der deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens nur eine kleine Minderheit innerhalb der jüdischen Gemeinschaft ist. Denn die meisten deutschen Juden stammen heute aus der ehemaligen Sowjetunion, wo "jüdisch" als Nationalität galt und selbst in den Reisepass eingetragen wurde. Dieses Selbstverständnis als Volksgruppe hat sich auch nach der Einwanderung nach Deutschland weitgehend erhalten. Es wird an dem Verhältnis zwischen Deutschland und seinen Juden liegen, ob aus "Russischen Juden" deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens werden.
Zentralratspräsident Paul Spiegel hat dieses Dilemma in seinem Buch "Was ist koscher?" auf den Punkt gebracht: "Erst heute, im Zeitalter der großen Migrationswellen und des Multikulturalismus, ist es kein 'Privileg' der Juden mehr, zumindest zu zwei Kulturen zu gehören. […] Allmählich begreifen Menschen, dass man als Jude ein guter, loyaler Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland sein kann, während zugleich das Herz für Israel schlägt."
Die in der Menschheitsgeschichte fast einzigartige Verbindung von Glaube und Volk hat den Juden in der Diaspora jahrtausendelang zu schaffen gemacht. Selbst nach der Wiedergeburt des jüdischen Staates im Jahr 1948 hat sich dieses Dilemma zumindest in Teilbereichen fortgesetzt. Die Juden strömten aus aller Welt ins Heilige Land. Unter ihnen waren religiöse, säkulare und auch völlig assimilierte Juden, sogar Nichtjuden (in der Regel mit jüdischen Partnern verheiratet). Deshalb ist Israel auch ein Mosaik verschiedener Grüppchen geworden, eine moderne Replik der zwölf Stämme Israels. Aber eben auch ein Schmelztiegel, in dem ein neues israelisches Staatsvolk entsteht und teilweise schon entstanden ist. Aschkenasim heiraten Sephardim, äthiopische Juden heiraten jüdische Neueinwanderer aus Russland und so weiter. Fast 40 Prozent von Israels jüdischer Bevölkerung wurde bereits dort geboren, und Hebräisch hat sich als Nationalsprache gegenüber Jiddisch, Russisch, Deutsch, Polnisch und Arabisch durchgesetzt.
Wie jüdisch muss ein Judenstaat sein? Bedeutet Israeli-Sein automatisch jüdisch zu sein? Wer ist überhaupt Jude? Diese und andere Fragen beschäftigen israelische Politiker, Rabbiner und Journalisten täglich. Die Meinungen von Rechten, Linken, Liberalen und Religiösen gehen dabei häufig stark auseinander. Ein paar ultraorthodoxe Juden lehnen den Staat Israel sogar gänzlich ab, weil er nicht auf dem jüdischen Religionsgesetz "Halacha" basiert. National-religiöse Gruppen fordern eine Rückkehr zur Tugend und Tradition. Andere wiederum fordern, dass Israel den Einfluss religiöser Gruppen gänzlich zurückdrängt und nur noch weltliche Einflüsse in Gesellschaft und Politik duldet. Zwischen den verschiedenen Extremen gibt es eine kleine Mehrheit der Israelis, die verzweifelt eine Art "Status Quo" zwischen Religion und weltlichem Staat suchen. Diese Probleme wirken sich auf beinahe alle Fragen der israelischen Politik aus, selbst in den Beziehungen zu den Nachbarstaaten und zu den Juden in der Diaspora. Und in diesem Durcheinander suchen auch die Minderheiten - Muslime, Christen und Drusen - ihren eigenen Platz in dem Mosaik aus Glauben und Ethnien.
Israels Unabhängigkeitserklärung geht auch indirekt auf diese Problematik ein. Und aus diesem historischen Dokument, welches vor fast 60 Jahren von den Gründervätern unterzeichnet wurde, hat das Oberste Gericht in Jerusalem später den Grundsatz entwickelt, dass "Israel ein jüdischer und demokratischer Staat ist". Es sind diese beiden Säulen, die jüdische und die demokratische, die das Fundament des Staates Israel und seiner pluralistischen Gesellschaft bilden und dem bunten Mosaik somit eine Form geben. Dieses Fundament ermöglicht das oft komplizierte Zusammenleben von religiösen und weltlichen Juden, von Orthodoxen, Liberalen und von linken Intellektuellen sowie von Juden und Nicht-Juden. So kann der Staat Israel gleichzeitig beides sein: Ein Judenstaat und ein Staat für alle seine Bürger, auch wenn dieser Spagat nicht immer einfach ist.
Marc Simon lebt als freier Autor in Köln und befasst sich vor allem mit jüdischen Themen.