Vier Polizeiwagen und ein Krankenwagen fahren am Nachmittag des 26. Oktober 2004 im Fort National in der Umgebung von Port-au-Prince vor. Die Insassen tragen schwarze Uniformen mit dem Wort "Polizei" auf dem Rücken, ihre Gesichter sind maskiert. Einige gehen in Schießstellung auf die Straße, die anderen betreten das Haus von Ti Richard, der nicht zu Hause ist. Aber 13 Jugendliche befinden sich dort. Die Männer befehlen ihnen, sich auf den Boden zu legen, dann eröffnen sie das Feuer.
Die Körper von vier der Jugendlichen werden später im Leichenschauhaus der haitianischen Hauptstadt gefunden, die anderen bleiben verschwunden. Der Menschenrechtsorganisation amnesty international, die von einer dramatischen Zunahme der Menschenrechtsverletzungen auf Haiti berichtet, sind die Namen von neun Opfern bekannt, die im Fort National kaltblütig umgebracht wurden. Wer die Mörder, deren Hintermänner und die Motive der Tat sind, ist bis heute nicht bekannt. Der Abteilungsleiter der Nationalpolizei, Renan Etienne, sagt später, er habe nie einen Einsatz am 26. Oktober angeordnet. Und die Polizei-Sprecherin bestätigt, einen Einsatz in dieser Gegend habe es an diesem Tag nicht gegeben.
Die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass die Morde jemals aufgeklärt werden. Sie können politisch motiviert sein, von ehemaligen Rebellen verübt, von demobilisierten Mitgliedern der ehemaligen Haitianischen Armee oder von einer der vielen bewaffneten Banden, die Haiti unsicher machen. Im Vorfeld der für Ende 2005 angesetzten Wahlen sind politisch motivierte Festnahmen, Misshandlungen, außergerichtliche Hinrichtungen, Morde an Zivilisten, Vergewaltigungen und massive Einschüchterungen an der Tagesordnung. "Die universellen Menschenrechte werden auf Haiti immer wieder von allen Beteiligten schwerwiegend missachtet", schreibt amnesty international in seiner jüngsten Dokumentation mit dem Titel "Entwaffnung verzögert, Gerechtigkeit verweigert"
Die Krise hat ihre Ursachen in der bewaffneten Rebellion, die den früheren Präsidenten Aristide im Februar 2004 zum Rücktritt zwang, sowie in dem Streit innerhalb des Landes um die Legitimität der von Gérard Latortue geführten Übergangsregierung. Seit dem 30. September vergangenen Jahres sind hunderte von Menschen in einer Welle politischer Gewalt getötet worden, die auf eine Reihe von Demonstrationen - organisiert von Jean-Bertrand Aristides "Fanmi Lavalas"-Partei - folgte.
Die politische Gewalt geht einher mit einer schweren humanitären Krise. Haiti ist das ärmste Land des amerikanischen Kontinents und belegt weltweit Platz 153 des Human Development Index (HDI, Index der menschlichen Entwicklung). Die Kindersterblichkeit liegt bei 79 von 1000 Geburten, der Analphabetismus ist weit verbreitet und fast zwei Drittel der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Außerdem hat Haiti mit schweren Gesundheitsproblemen zu kämpfen; mit 5,6 Prozent ist HIV/Aids in Haiti jenseits des subsaharischen Afrikas am meisten verbreitet.
Vor gut einem Jahr entschloss sich die internationale Gemeinschaft zum Eingreifen. Die auf der Geberkonferenz in Washington zugesagten finanziellen Hilfen wurden bislang allerdings nur in begrenztem Umfang geliefert. Aus der Sicht von UN-Generalsekretär Kofi Annan sind langfristige Anstrengungen und internationaler Einsatz nötig, um die ökonomischen und sozialen Strukturen wieder aufzubauen. Aber auch die Präsenz der UN-Friedensmission (MINUSTAH), die das Mandat einer US-geführten Truppe übernommen hatte, hat das Land nicht auch nur ansatzweise aus der Krise führen können.
Amnesty international stellt in ihrem Bericht zudem fest, dass die massenhafte Verbreitung von Waffen die politische Krise noch verschlimmert hat. Daher sei Entwaffnung vorrangig, wenn die im November (Parlament) und Dezember (Kommunen) geplanten Wahlen zu demokratischen Spielregeln führen sollen. Untersuchungen der Genfer Kleinwaffenstudie aus 2004 weisen darauf hin, dass sich in Haiti fast 170.000 Kleinwaffen im Besitz verschiedener Gruppen und krimineller Banden sowie von Sicherheitsagenturen, Gesetzeshütern und Einzelpersonen befinden. Das Problem wird durch die Tatsache verschärft, dass laut Verfassung alle Haitianer ein Recht haben, Feuerwaffen zu besitzen. Offizielle Zahlen besagen, dass die Nationalpolizei seit 2001 etwa 20.300 legale Waffen im Besitz von Zivilisten registriert hat.
Die zahlreichen Waffen, verbunden mit hoher Arbeitslosigkeit (nahezu 60 Prozent) und tiefem Misstrauen der gesellschaftlichen Schichten untereinander, haben zu einem explosiven Gemisch geführt. Die von der Menschenrechtsorganisation als unberechenbar bezeichnete Lage kann nur teilweise von der UN-Friedenstruppe ausgeglichen werden. Zwar gab es im vergangenen Jahr Versuche, die Haitianer zu ermutigen, ihre Waffen freiwillig abzugeben. Doch es fehlte sowohl am nötigen Nachdruck als auch an einem abgestimmten Plan - von den haitianischen Verantwortlichen wie auch von der MINUSTAH.