Die abgewählte Minderheitsregierung trägt in den Augen der polnischen Kommentatoren eine Teilschuld an der Niederlage. Denn sie hatte wegen Affären und Korruption schon lange das Vertrauen der Wähler verloren. Dennoch erreichte die "Demokratische Linksallianz" (SLD) mit 11,4 Prozent ein überraschend gutes Ergebnis: Der 31-jährige Wojciech Olejniczak verwies auf die "Gnade der späten Geburt" und distanzierte sich als neuer Parteichef erflogreich von den Korruptionssünden seiner politischen Väter. Ein Zehntel Prozent mehr erreichte die "Selbstverteidigung", die Hauspartei des Radikal-Bauerns Andrzej Lepper, der den sozialistischen Verteilerstaat propagiert. Ins Parlament schaffte es auch die nationalklerikale Gruppe "Liga Polnischer Familien" (LPR) und die traditionelle Bauernpartei PSL. Am 19. Oktober wird sich der polnische Sejm konstituieren.
Davor steht eine weitere Entscheidung an - am 9. Oktober und vielleicht in einer zweiten Tour am 23. Oktober bestimmen die Polen ihren Präsidenten. Auch hier gelten als einzige Favoriten Vetreter der Gewinnerparteien in den Parlamentswahlen: Donald Tusk, der Parteichef der PO, sowie Lech Kaczynski, PiS-Politiker und Präsident der Stadt Warschau. Der beliebte Staatspräsident Aleksander Kwasniewski darf nicht ein drittes Mal antreten.
Der schwindende Vorsprung von Tusk verspricht nochmal einen harten Wahlkampf, und Wahlkampf bestimmt das politische Leben des Landes schon lange. Seit Anfang 2004 verharrte die linke Regierung im Umfragetief, verzögerte aber mehrmals anfangs versprochene vorgezogene Neuwahlen.
So regierte der eher schnörkellose Ökonom Marek Belka nach dem Rücktritt von Leszek Miller im Mai 2004 bis September diesen Jahres das Land; von Staatspräsident Aleksander Kwasniewski vorgeschlagen und nach langem Prozedere im Amt bestätigt. Belka ist seit Mai Mitglied der Partei "Die Demokraten" - Polen hatte somit einen Regierungschef, der in den letzten vier Monaten seiner Amtszeit einer außerparlamentarischen Opposition angehörte. Die Partei scheiterte bei den Parlamentswahlen an der Fünf-Prozent-Hürde. Dennoch hatten die kleinen Parteien durchaus ihre Chance. Parteienvertreter der ersten und zweiten Reihe stellten sich an mehreren Abenden auf Marktplätzen von konjunkturschwachen Provinzstädten den bohrenden Fragen der Fernsehjournalisten und den oft zornigen Reaktionen des Publikums, was zur besten Sendezeit direkt übertragen wurde.
PiS und PO entstanden beide als eine Art Bürgerrechtsbewegung. Sie gründeten sich 2001 aus der damals glücklos regierenden AWS "Wahlaktion Solidarnosc" aus. Die PiS - von den Zwillingen Jaroslaw und Lech Kaczynski entworfen - hatte anfangs vor allem das Profil "Verbrechensbekämpfung"; die PO orientierte sich wirtschaftspolitisch am Großbritannien Margaret Thatchers und verwahrte sich gegen den Einfluss der Gewerkschaften auf die Wirtschaft.
Gemeinsames Fundament der beiden Koalitionsparteien ist die Bekämpfung des unsauberen Interessengeflechts von Geschäftsleuten, Politikern und Geheimdienstmitarbeitern, das schon Gegenstand von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen war und ist.
Die Kaczynskis kündigen nun eine neue Zäsur an, sprechen von der Gründung einer "vierten Republik", nähren die Utopie eines gerechten Polens. Als "dritte Republik" gilt die Zeit nach der Wende 1989, in der verhindert worden sei, mit der kommunistischen Vergangenheit wirklich abzurechnen. Eine neue Untersuchungskommission mit vielen Vollmachten unter anderem mit Zugang zu allen Geheimdienstakten soll den polnischen Staat gründlich durchleuchten. Zudem sehen die Pläne der PiS die Gründung eines Antikorruptionsamtes vor. Die liberale PO will jedoch lieber Ämter wie Ministerien reduzieren und die Staatskassen durch Entbürokratisierung entlasten.
Vor allem bei der brennendsten Frage des Landes unterscheiden sich jedoch die Lösungsvorschläge beider Parteien deutlich: Seit Jahren bewegt sich die Arbeitslosenquote bei 18 bis 20 Prozent; unter den bis 25-Jährigen sind 40 Prozent ohne Erwerb.
Das marktradikale Ziel der PO, einen 15-prozentigen allgemeinen Steuersatz einzuführen, wird die Partei mangels Mehrheit kaum verwirklichen können. Die PiS sieht wiederum den Staat wirtschaftspolitisch in der Fürsorgepflicht. Sie wurde darum auch von der Gewerkschaft Solidarnosc unterstützt, die wegen der Feierlichkeiten zu ihrem 25. Jubiläum in der polnischen Öffentlichkeit wieder mehr Aufmerksamkeit genießt.
In der letzten Phase des Wahlkampfes, der durchgehend von der Frage nach der Präsidentschaft dominiert wurde, trugen die Vertreter der zukünftigen "polnischen großen Koalition" die Differenzen über das "liberale" oder "nationalsolidarische" Konzept verschärft in der Öffentlichkeit aus.
Im Kampf um die Stimmen spannte die PiS auch den xenophoben Medienpriester Tadeusz Rydzyk ein, der über seinen Sender "Radio Maryja" dazu aufrief, PiS zu wählen und die Liberalen zu "versenken".
Doch im Unterschied zum Streit um die Kanzlerschaft in Deutschland erbost die PiS ihren Partner gerade mit dem Rückzug des Kandidaten für den Posten des Regierungschefs. Jaroslaw Kaczynski enthüllte nach der Wahl, er werde nicht wie angekündigt Premier werden. Stattdessen soll dieses Amt Kazimierz Marcinkiewicz besetzen, ein eher unscheinbarer Wirtschaftsexperte der Partei. So soll verhindert werden, dass die polnischen Wähler ein Kaczynski-Doppelpack an der Spitze des Staates befürchten und Donald Tusk die Präsidentenwahl gewinnt. Zumal Jaroslaw Kaczynski im Gegensatz zu seinem Bruder, über keine Regierungserfahrung besitzt, sondern 16 Jahre Oppositionspolitik betrieb.
Bei einer weiteren Verschärfung zwischen beiden Lagern könnte ein Präsident Donald Tusk die Politik der PiS-geführten Regierung sabotieren. Denn das Staatsoberhaupt besitzt nach polnischer Verfassung die Möglichkeit, Gesetzesentwürfe durch ein Veto zu boykottieren und teilt sich mit Premier und Außenminister das Feld Außenpolitik, wobei dort die Komptenzgrenzen vage sind.
Nach Ansicht von Witold Gadomski, dem Kommentator der auflagenstarken "Gazeta Wyborcza", werden sich die Rechtspopulisten nicht so strikt an ihr Programm halten können, da es zu viele Versprechungen enthalte, die sich nicht wahr machen ließen. Zudem enthalte es viele Elemente, die auch die postkommunistische Partei SLD vor vier Jahren in ihrem Programm aufgeführt hatte.
Was jedoch die Außenpolitik betrifft, wird der angekündigte harte Verhandlungsstil wohl in die Tat umgesetzt werden. Im Wahlprogramm der PiS kommt der Name "Deutschland" nur als Bedrohung in Verbindung mit Russland vor. Nach Jaroslaw Kaczynski soll die geplante Ostsee-Pipeline, die Gas von Russland nach Deutschland unter Umgehung Polens leiten soll, verhindert werden. Nach der PiS müsse Polen eine Politik der "Stärke" betreiben, am liebsten in einem Europa der Vaterländer.
Es ist darum nicht sehr spekulativ zu befürchten, dass das Feld der Außenpolitik zur Ablenkung von innenpolitischen Problemen dienen wird. Ein von der CDU/CSU geführtes Deutschland wird immerhin von den Politikern der PO begrüßt, beide Parteien sind Mitglieder in der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP). Zudem wird sich die PO in Brüssel dafür einsetzen, eine einheitlich europäische Politik gegenüber Russland zu betreiben, sowie die Anbindung der Ukranie an die EU zu forcieren.
Es bleibt aber abzuwarten, ob Donald Tusk die angekündigte Politik des Dialogs mit Deutschland wirklich durchsetzen kann. Ihm und Jan Rokita - ebenfalls von der PO - wurden nach der Wahl die gleichen Vorbehalte wie Angela Merkel gemacht: zu wenig volksnah, sie hätten soziale Kälte ausgeströmt. Donald Tusk und Jan Rokita stehen daher unter Druck. Und als weiterer deutsch-polnischer Stolperstein gilt das in Berlin geplante "Zentrum gegen Vertreibungen". Die Gebrüder Kaczynski wollen es durch die Forderung von Kriegsreparationen verhindern. Allgemein stößt das vom Bund der Vertriebenen geforderte Projekt bei Politikern aller Parteien auf Ablehnung. Es war darum immer geeignet, einen nationalen Konsens gegen einen Feind von außen herbeizuführen.