Jährliche Länderberichte der Kommission sollen der seit Jahren vor sich hin plätschernden Debatte um die so genannten "Lissabon-Ziele" eine handfeste Grundlage geben. Im Frühjahr 2000 hatten die Regierungen bei ihrem Gipfel in Lissabon beschlossen, die EU bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Die jedes Frühjahr veranstalteten Beschäftigungsgipfel hatten aber außer Absichtserklärungen wenig konkrete Ergebnisse gebracht. Denn: Die Mitgliedsstaaten legen die Richtung ihrer Wirtschaftspolitik weitgehend eigenverantwortlich fest. Nur wenn sich ein Land hoch verschuldet, hat die Kommission über den Stabilitätspakt Einfluss auf die wirtschaftspolitischen Maßnahmen.
Mittlerweile hat die Globalisierung die Konkurrenz für den Standort Europa weiter verschärft. Asien erlebt einen gewaltigen Aufschwung und die EU ist von ihrem Ziel weiter denn je entfernt. Deshalb setzten sich die Regierungen letztes Jahr konkretere Ziele: Bis 2010 soll die Beschäftigungsrate in der Union 70 Prozent erreichen und die Investitionen für Forschung und Entwicklung drei Prozent des Bruttosozialprodukts betragen. Die Kommission wurde beauftragt, Wirtschaftsindikatoren zu erarbeiten, an denen sich Wachstumspotentiale und Wettbewerbsfähigkeit messen lassen. Heraus kamen 14 so genannte Schlüsselbereiche, deren Werte jährlich veröffentlicht werden sollen. Die Kommission hofft, damit Ansporn für Nachzügler zu schaffen und eine Aussage darüber zu ermöglichen, ob eine Volkswirtschaft - über mehrere Jahre betrachtet - auf dem richtigen Weg ist.
Die Zahlen zeigen, dass in Deutschland das Pro-Kopf-Einkommen, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung und auch die Beschäftigungsrate leicht über dem EU-Durchschnitt liegen. Das Ausbildungsniveau junger Menschen und die Investitionsrate der Unternehmen bleiben hingegen unter dem EU-Schnitt. Die Energiebilanz in der Produktion ist erfreulich niedrig, die Rate für Langzeitarbeitslosigkeit sehr hoch - nur Griechenland, Litauen, Polen und die Slowakei verzeichnen einen noch höheren Prozentsatz an Langzeitarbeitslosen.
Die Große Koalition in Berlin kann sich aber damit trösten, dass ihr aus Brüssel bescheinigt wird, sie sei wirtschaftspolitisch auf dem richtigen Weg. Mehr Wettbewerb müsse allerdings bei der Vergabe öffentlicher Aufträge erreicht werden, bei Dienstleistungen und beim Zugang zu Breitband-Netzen. Auch die Kinderbetreuung lasse noch zu wünschen übrig. Die Kritik am Nachbarn Frankreich fällt viel härter aus. Dort sei der Arbeitsmarkt noch immer gegen Konkurrenz abgeschottet, vor allem bei der Bahn, der Post und den Energieunternehmen. Die Kommission "ermutigt die französischen Behörden" zu mehr Marktöffnung, heißt es im Bericht. Eine Botschaft, die von den französischen Gewerkschaften sicher nicht sehr gern gehört wird.
Die Doppeldeutigkeit europäischer Entscheidungen zeigt sich daran, dass die von der Kommission als Wachstumsbereiche erkannten Politiken im neuen Haushaltsplan gekürzt werden. Während die EU-Regierungen einerseits eine stärkere Rolle der Gemeinschaft als Wachstumsmotor fordern, sparen sie bei Forschung und Entwicklung, bei Investitionen in transeuropäische Energie- und Verkehrsnetze sowie bei Ausbildung und Strukturförderung. Deshalb hat das EU-Parlament in seiner letzten Plenarsitzung die beim Gipfel im Dezember von allen Regierungen mühevoll ausgehandelte Finanzplanung für die Jahre 2007 bis 2013 zunächst abgelehnt. Wie der zuständige Berichterstatter Reiner Böge letzte Woche darlegte, seien aus Parlamentssicht Kernbereiche betroffen.
So würden die Mittel für Erwachsenenbildung von 11 Milliarden auf 5,6 Milliarden Euro gekürzt. Die Transeuropäischen Netze sollten statt 18 Milliarden nur noch 8,4 Milliarden Euro erhalten. Auch bei den Programmen für den ländlichen Raum seien die Einschnitte gewaltig.
Ein Kompromiss könnte darin bestehen, dass für einige Politikbereiche zusätzliche Kredite der Europäischen Investitionsbank gewährt werden. Für Forschung und Entwicklung sind 10 Milliarden Euro im Gespräch. Ferner sollen Mittel, die im laufenden Haushaltsjahr nicht abfließen, für weitere drei Jahre bereit stehen oder in andere Haushaltstöpfe umge-lenkt werden. Bislang floss das Geld nach zwei Jahren an die Mitgliedstaaten zurück.
Vor allem aber wird das Europaparlament versuchen, seine Zustimmung zu dem Sparprogramm gegen mehr Mitsprache in künftigen Finanzverhandlungen einzutauschen. In Brüssel kann sich niemand vorstellen, dass die beiden großen Fraktionen CDU und SPD einen Kompromiss platzen lassen, der als diplomatische Glanzleistung der neuen deutschen Kanzlerin gefeiert wird. Der Vorsitzende der europäischen EVP-Fraktion, Hans-Gert Pöttering, gilt als Merkel-Vertrauter. Der Vorsitzende der Sozialdemokraten in Europa, Martin Schulz, muss ebenfalls darauf achten, die große Koalition nicht zu beschädigen.
Am 1. Februar will die EU-Kommission einen Vorschlag machen, wie die im Dezember bewilligten Mittel auf die einzelnen Politikbereiche verteilt werden. Erst danach beginnen die eigentlichen Verhandlungen zwischen Rat, Kommission und Parlament, der so genannte Trilog. Wenn alle drei Institutionen sich auf einen Finanzkompromiss geeinigt haben, wird die Kommission die Rahmenbedingungen für Förderinstrumente rechtlich festlegen. Hinter den Kulissen wird aber schon über Details gerungen.
Wirtschaftsminister Glos verlangte in einem Brief an seinen österreichischen Kollegen Bartenstein, dass Unternehmen, die Arbeitsplätze innerhalb der EU verlagern, nicht mit EU-Mitteln gefördert werden dürfen. Dem Wirtschaftsministerium schwebt eine Formulierung vor, die einem ähnlichen Passus in der Gemeinschaftsaufgabe entspricht. Danach würden durch Firmenabwanderungen geschädigte Länder ein Einspruchsrecht gegen bestimmte EU-Beihilfen erhalten.
Industriekommissar Günter Verheugen sagte am 25. Jnauar in Brüssel, er habe sich bei der zuständigen Abteilung der Kommission erkundigt. "Es gibt keinen einzigen Fall, in dem eine Firmenabwanderung durch EU-Mittel finanziert wurde", sagte der deutsche SPD-Politiker. "Es gibt klare Regeln für die Bewilligung von Strukturmitteln: Sie müssen neue Arbeitsplätze schaffen und dürfen keine bestehenden Jobs zerstören." Der Präsident der EU-Kommission José Manuel Barroso wurde noch etwas deutlicher: "Ich appelliere an die Politiker der Mitgliedstaaten: Vermeiden Sie diese Art von nationalistischer Wertung", warnte Barroso an die Adresse des deutschen Wirtschaftsministers. Deutschland solle vielmehr daran denken, dass es von den neuen Mitgliedsstaaten wirtschaftlich auch enorm profitiere.