Bratislava. Die Regierung ist tot, es lebe die Regierung. So oder zumindest so ähnlich lässt sich die Situation in der Slowakei seit dem 8. Februar auf den Punkt bringen. Die Regierung von Ministerpräsident MikulᨠDzurinda ist mit dem Austritt der christdemokratischen KDH aus der Mitte-Rechts-Koalition zwar zerbrochen, der Premier selbst ist aber noch einmal mit einem blauen Auge davon gekommen, weil er zumindest noch in den kommenden vier Monaten im Amt bleibt - bis zu den vorgezogenen Parlamentswahlen am 17. Juni. Auch hier gilt: Das Parlament ist tot, es lebe das Parlament. Denn die nächsten regulären Wahlen zum Nationalrat hätten am 16. September stattfinden sollen. In der Praxis dürfte es also wegen der obligatorischen Sommerpause des Parlaments kaum einen Unterschied machen, ob die Wähler nun im Juni oder im September an die Urnen gehen.
Damit wurde die jüngste Regierungskrise in der Slowakei gütlicher beigelegt als vorige Streitereien in der ursprünglich aus vier Parteien bestehenden Koalition. Vor allem wurde schneller als sonst ein tragfähiger Kompromiss gefunden, bei dem alle Beteiligten ihr Gesicht wahren konnten. Im Ausland hingegen wurden die Vorgänge in Bratislava wohl so kritisch beäugt wie selten zuvor in den vergangenen vier Jahren. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass nunmehr völlig ungewiss ist, wie es mit den großen Privatisierungsvorhaben im Transportwesen und der Energiewirtschaft weitergehen soll; hier sind fundamentale Interessen ausländischer Investoren berührt.
Der Ausgangspunkt für den Koalitionsbruch ist relativ schnell in Vergessenheit geraten. Die Partei von Ministerpräsident Dzurinda, die SDKÚ, und die Partei des bisherigen Parlamentspräsidenten Pavol Hru¨ovský, die KDH, hatten sich nicht über die Verbriefung der Gewissensfreiheit für Katholiken im Beruf in einem Vertrag mit dem Vatikan einigen können. Außenminister Eduard Kukan (SDKÚ) hatte die Unterzeichnung des Konkordats mit dem Hinweis darauf verweigert, dass durch einen so gefassten Vertrag zu sehr in die Souveränität des weltlichen Staates eingegriffen würde, beispielsweise wenn Katholiken künftig unter Berufung auf den Vertrag Sonntagsarbeit verweigerten. In der Praxis könnte dies etwa wegen der durchgängigen Ladenöffnungszeiten bei Mitarbeitern von Supermärkten zu einem handfesten Problem werden.
Bemerkenswerterweise stammt der Entwurf für das Konkordat aber schon aus dem Jahre 2000. Dass sich SDKÚ und KDH ausgerechnet jetzt überwarfen, wird daher nicht nur als Konflikt divergierender Interessen bewertet. Vielmehr sehen Experten da-rin ein geschicktes Manöver des Regierungschefs, einem Wahlkampfmarathon mit der in den Umfragen mit knapp 35 Prozent neuerdings vor allen anderen Parteien liegenden linkspopulistischen Smer-Partei von Oppositionsführer Robert Fico auszuweichen.
Teilweise wird sogar vermutet, Dzurinda und Hru¨ovský seien sich, nachdem inzwischen fast alle wesentlichen Regierungsprojekte in die Wege geleitet seien, trotz oder gerade wegen der heftigen Wortgefechte zwischen SDKÚ und KDH im Zuge der jüngsten Ereignisse politisch einiger als je zuvor. Nun wollten sie - so die Vermutungen - gewissermaßen Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit bisher nicht in die Regierungsarbeit eingebundenen Parteien ausloten, um damit für den Fall gerüstet zu sein, dass es, wie den aktuellen Meinungserhebungen zufolge sehr wahrscheinlich, nach den Parlamentswahlen nicht mehr für eine Koalition aus SDKÚ, KDH und der SMK, der Partei der ungarischen Minderheit, reichen würde.
Dem Vernehmen nach würde die SDKÚ in einem solchen Falle für ein Zusammengehen mit der LS'-HZDS, der Partei des früheren Premiers Vladimír Meciar, plädieren, freilich ohne den international diskreditierten Ex-Regierungschef in verantwortlicher Position, die KDH wiederum spreche sich für eine Einigung mit der Smer-Partei aus - schließlich sei Fico in seinem Ansehen nicht beschädigt. Darüber hinaus fassen beide Parteien eine Kooperation mit dem Slobodné Fórum (Freies Forum) unter der SDKÚ-Abtrünningen und früheren Vizeparlamentspräsidentin Zuzana Martináková ins Auge, der gute Aussichten auf eine weitere Parlamentspräsenz eingeräumt werden.
All dies lässt die politische Landschaft der Slowakei für einen außenstehenden Beobachter auch 16 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und 13 Jahre nach der Erlangung der Eigenständigkeit des Landes alles andere als gefestigt und vielmehr als paradox erscheinen. Dabei verkörpert offenbar niemand die vermeintlichen Widersprüche besser als ausgerechnet MikulᨠDzurinda, der sich derzeit gerade noch der Stimmen eines guten Drittels der Parlamentsabgordneten sicher sein kann und ansonsten auf den "good will" der zahlreichen so genannten "unabhängigen" Abgeordneten ohne Parteizugehörigkeit setzen muss. Dzurinda wurde im In- und Ausland schon mehr als einmal totgesagt. Tatsächlich aber hat sich in den Transformationsstaaten des ehemaligen Ostblocks noch kein Regierungschef so lange gehalten wie er.
Dabei hätte dem studierten Verkehrsingenieur bei seinem Amtsantritt 1998 wohl kaum jemand eine derartige politische Überlebensfähigkeit attestiert. Hatte sich Dzurinda doch eigentlich als vermeintlich harmlosester Kompromisskandidat der politischen Rechten an die Spitze der Macht vorgearbeitet. Erst später wurde er zu der vor allem im Wes-ten geschätzten "Lichtgestalt" der radikalen Abkehr vom autokratischen System seines Vorgängers Vladimír Meciar.
Dzurinda habe einfach eine "integrative Begabung", glaubt der Publizist Juraj Alner, einer der engagiertesten Kämpfer für den EU-Beitritt der Slowakei. Als einziger habe der Premier die Regierungskoalition zwischen 1998 und 2002 zusammengehalten und damit die Grundlage für die Durchsetzung der tiefgreifenden Reformen während seiner zweiten Amtszeit geschaffen.
Mit der Fähigkeit, vermeintlich Unvereinbares miteinander zu verbinden, scheint Dzurinda tatsächlich relativ allein dazustehen und zugleich das kennzeichnendste Merkmal slowakischer Politik so gut erfasst und verinnerlicht zu haben wie niemand sonst: Lösungen und Kompromisse, werden meist aufgrund aktueller Notwendigkeiten, nicht aufgrund der Übereinstimmung mit Werthaltungen gefunden. Die jüngste Krise, wenngleich offiziell mit verschiedenen Positionen zur gesellschaftlichen Stellung der Katholiken begründet, ist ein anschaulicher Beleg dafür.
"Bisher existiert bei uns kein Modell wie in anderen Staaten, dass es am Anfang eine Idee gibt, um die herum sich eine Partei entwickelt, an deren Spitze dann wiederum der beste Repräsentant der Idee steht", meint Juraj Alner. Das klassische Links-Rechts-Schema gebe es nicht, nur wenige Parteien seien überhaupt mit anderen europäischen Parteien zu vergleichen. Vielmehr wollten viele Leute politische Karriere machen, "sie suchen sich dann die Partei mit den besten Aufstiegschancen aus", und so gehörten denn auch die meisten Parlamentsabgeordneten schon der zweiten oder gar dritten Partei an. Dies wundert nicht, wenn man weiß, dass in fast allen slowakischen Parteien schon mindestens einmal eine interne Spaltung stattgefunden hat.
Dieser Befund wirkt auf den ersten Blick ernüchternd. Eines sollte aber nicht vergessen werden: Wohl kaum ein anderer Staat hat in den vergangenen Jahren so viel Reformfreude, aber auch Reformfähigkeit an den Tag gelegt wie die Slowakei. Entscheidend scheint dabei, dass es allen politischen Reibereien und Zerfallsprozessen zum Trotz an einem nie gemangelt hat: einem parteiübergreifenden Konsens darüber, dass es für die Zukunftsfähigkeit des Landes durchgreifender Veränderungen bedarf, die sich in zügigem Handeln niederschlagen müssen.