Die Schatten der Vergangenheit liegen wieder über dem Land. Und der Skandal der Skandale droht auch jene einzuholen, die einst im Zuge dieses um einen spektakulären Mord kreisenden Polit-Krimis durch einen demokratischen Aufstand an die Macht gelangten. Mehrere Monate dürfte sich der momentan in Kiew laufende Prozess gegen die Killer des Journalisten Georgij Gongadse hinziehen. Doch die Drahtzieher und Hintermänner, deren Spuren nach vielen Indizien bis zum Ex-Staatschef Leonid Kutschma führen, sitzen nicht auf der Anklagebank - was nicht nur Gongadses Angehörige empört, sondern auch der Europarat kritisiert. Der Eifer von Präsident Viktor Juschtschenko, der als Held der "Revolution in Orange" eine schonungslose Aufklärung angekündigt hatte, scheint erlahmt zu sein.
Schlagzeilen macht Kiew durch den Gasstreit mit Russland, durch das politische Intrigenspiel oder durch die miserable wirtschaftliche Lage. Indes wirft die Gongadse-Affäre zudem ein Schlaglicht auf die demokratisch-rechtsstaatlichen Defizite in der Ukraine. Seit dem Umsturz in Kiew Ende 2004 hat der Europarat mehrfach kritisiert, dass die einstige "Revolutionsrethorik" nur zögerlich in konkrete Reformen umgesetzt werde. So heißt es in einer erst im Herbst verabschiedeten Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Staatenbunds: "Die Rechtsstaatlichkeit ist in vielen Bereichen noch nicht vollständig hergestellt."
Vergangene Woche waren die Abgeordneten Renate Wohlwend (Liechtenstein) und Hanne Severinsen (Dänemark) erneut in der Ukraine, um für die Straßburger Volksvertretung fünf Tage lang die Lage zu inspizieren. Die Aufklärung des Mords an dem Journalisten gehörte natürlich auch zum Rechercheauftrag der beiden Gesandten, deren Bericht nun mit Spannung erwartet wird.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger fordert von Kiew, "die Umstände der Ermordung Gongadses endlich aufzuklären" und auch deren Auftraggeber zu belangen. Die FDP-Politikerin kümmert sich neben Severinsen und Wohlwend als Sonderbeauftragte des Europarats speziell um diesen Skandal. Mit der Verurteilung der "Vollstrecker" der Tat, argwöhnt die Liberale, versuche man wohl, den "Fall Gongadse endgültig abzuschließen". Dessen Mutter Lesja kritisiert den laufenden Prozess als "Farce" und "Augenwischerei". Im November gab der Straßburger Menschenrechtsgerichtshof einer Klage von Gongadses Witwe Miroslawa statt und befand, dass die Ermittlungen der ukrainischen Justiz jahrelang lückenhaft und schleppend verliefen und insofern gegen die Normen der Menschenrechtscharta des Europarats verstießen.
Die Affäre Gongadse liefert Stoff für einen Kino-Thriller. Der regimekritische Journalist hatte im Internet häufig Korruption und undemokratische Machenschaften unter Kutschmas Regime bis in höchste Regierungskreise angeprangert. Im Herbst 2000 verschwand der Medienschaffende spurlos, später wurde seine enthauptete Leiche in einem Wald bei Kiew gefunden. Für Furore sorgte bald danach ein von einem Leibwächter Kutschmas im Präsidentenpalais aufgenommenes Tonband: Zu hören war eine Stimme, offenkundig jene des Staatschefs, die Innenminister Juri Krawtschenko anwies, Gongadse "zu den Tschetschenen zu schaffen". Nach diesem Mitschnitt soll der Minister zugesagt haben, das Problem zu "lösen".
Der Streit um die Verantwortung für Gongadses Tod führte 2001 zu Demonstrationen gegen Kutschmas Herrschaft. So erblickte eine Protestbewegung das Licht der Welt, die fortan für politische Unruhe sorgte und in die Revolution vom November 2004 mündete. Nach deren Sieg kam unter Juschtschenko neuer Schwung in die Ermittlungen. Drei Polizisten, die ehedem Krawtschenko unterstanden, wurden als Killer verhaftet und sitzen nun als einzige auf der Anklagebank. Als jedoch der Ex-Innenminister verhört werden sollte, wurde er kurz zuvor mit zwei Kugeln im Kopf tot in seiner Wohnung aufgefunden: Selbstmord laut offizieller Version. Ein der Verwicklung in Gongadses Hinrichtung verdächtigter Polizeigeneral ist untergetaucht.
Die Hintermänner des Skandals scheinen aus Justitias Visier entschwunden zu sein. Im Dunkeln liegt auch die Rolle des heutigen Parlamentspräsidenten Wladimir Litwin, unter Kutschma Chef der Präsidialverwaltung. In Kiew kursieren Vermutungen und Gerüchte, dass es bei Kutschmas Abgang einen Deal gegeben haben könnte, wonach der Ex-Präsident im Ruhestand von Staatsanwälten verschont wird.
Die Affäre Gongadse ist zwar das spektakulärste, aber keineswegs das einzige Problem der "neuen" Ukraine. Nicht ohne Grund lehnt es der Europarat bislang ab, Kiew aus dem "Monitoring"-Verfahren zu entlassen: Dabei wird in einzelnen Mitgliedsnationen die Beachtung demokratisch-rechtsstaatlicher Standards kontrolliert. Gegenüber der Ukraine obliegt diese Aufgabe Severinsen und Wohlwend, die bei ihren bisherigen Recherchen mit Kritik nicht hinter dem Berg hielten.
Aus Sicht des Staatenbunds kann in dem Land von echter demokratischer Rechtsstaatlichkeit noch keine Rede sein. Mit der Gewaltenteilung hapere es weiterhin. Straßburg verlangt Reformen, um die Unabhängigkeit der Justiz von politischer Einflussnahme zu gewährleisten. Eine neue Strafprozessordnung stehe nach wie vor aus, moniert der Europarat. Garantiert werden müsse der "Schutz vor willkürlicher und gesetzwidriger Inhaftierung", heißt es in der Bestandsaufnahme, auf deren Grundlage Severinsen und Wohlwend jetzt auf Inspektionstour waren. Die Pressezensur sei zwar abgeschafft worden, doch müsse nun auch konsequent jedwede Einmischung seitens staatlicher Stellen in die Medien unterbunden werden. Nicht zuletzt verlangt Straßburg eine Bekämpfung des Erzübels Korruption: "Die Wirtschaftsreformen dürfen nicht zu einer Neuverteilung der Macht unter den Oligarchen führen." Auch unter Juschtschenko ist es mit der Trennung von Wirtschaft und Politik nicht allzu weit her.