Bereits am 27. Juni hätte alles klar sein sollen. Die aus den drei "orangen" Parteien, dem Timoschenko-Block "Bjut", Juschtschenkos "Nascha Ukraina" ("Unsere Ukraine") und den Sozialisten, gebildete neue Koalition wollte ihre knappe Mehrheit von 243 Abgeordneten (von insgesamt 450) in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, geschlossen dafür stimmen lassen, dass Julia Timoschenko, nach achtmonatiger Unterbrechung erneut Premierministerin wird. Dann sollte über die weiteren in zähen Verhandlungen festgelegten Spitzenämter, darunter das wichtige Amt des Parlamentspräsidenten, abgestimmt werden. Alles schien bestens vorbereitet. Doch man hatte die Rechnung ohne die Opposition gemacht. Diese hat sich in den anderthalb Jahren seit der Abdankung des Clans um den Ex-Präsidenten Leonid Kutschma seinerseits die Widerstandsformen der "orangenen Revolutionäre" angeeignet. Haben unter Kutschmas autoritärer Herrschaft Juschtschenko und seine Anhänger die Parlamentsarbeit blockiert und die Massen zu Protesten auf die Straße gerufen, so tun dies heute vor allem die in der von Ex-Premier Wiktor Janukowitsch geführten "Partei der Regionen" versammelten Nutznießer des alten Systems.
Am 27. Juni betraten die Anhänger Janukowitschs den Ratsaal bereits in den frühen Morgenstunden. Die oppositionellen Abgeordneten beschädigten die elektronische Abstimmungsanlage und besetzten die Rednertribüne. Die Opposition werde heute schlechter behandelt als unter Kutschma, begründeten sie die Aktion. Die Regierungskoalition stelle alle Ausschussvorsitzenden bis auf einen, behauptete Parteichef Janukowitsch vor herbeigeeilten Journalisten in Kiew. In den folgenden Tagen übernachtete jeweils ein gutes Dutzend Abgeordneter der "Partei der Regionen" im Ratsaal.
Erklärtes Ziel der "Partei der Regionen" ist es, die Blockade bis Ende Juli aufrechtzuerhalten. Denn, wenn es innerhalb von 30 Tagen nicht gelingt, die Regierung einzusetzen, müssen Neuwahlen ausgeschrieben werden. Die vor allem im Osten und Süden des Landes beliebte prorussische Partei hat in den Wahlen am 26. März 32,1 Prozent der Stimmen und damit die meisten Sitze gewonnen. Seitdem legt sie in Umfragen weiter zu: Die Ukrainer haben nach monatelangen Koalitionsverhandlungen der "Orangen" das Vertrauen in ihre einstigen Revolutionshelden zum großen Teil verloren.
Dazu kommt, dass die "Blauen", wie Janukowitschs "Partei der Regionen" und die mit ihnen verbündeten Kommunisten auch genannt werden, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung über Preiserhöhungen für Bahnfahrkarten, Gas und Strom ausnutzen. Am 27. Juni etwa hat die den Kommunisten nahestehende "Gewerkschaftsföderation" mehr als 10.000 Demonstranten auf dem Kiewer Majdan versammelt, dem Unabhängigkeitsplatz, auf dem im Spätherbst 2004 Hundertausende gegen das Regime Kutschma demonstriert hatten. Die Gewerkschaftsföderation will die Anzahl der Demonstranten im Juli angeblich verzehnfachen. Janukowitsch spricht bereits von einer "blauen Revolution", die die "orange" nun hinwegfegen würde.
Die "orangen" Regierungkoalition hält derweil bereits nach einem Ersatz-Parlamentsgebäude Ausschau. Im Gespräch ist das "Ukrainiski Dim" ("Ukrainisches Haus"), das ehemalige Lenin-Museum am heutigen Kiewer Europaplatz wenige Schritte vom Majdan. Es hatte bereits in der "orangen Revolution" eine wichtige Rolle gespielt; nun könnte sich hier die Parlamentsmehrheit versammeln und Julia Timoschenko zur Premierministerin wählen. Rechtlich allerdings wäre dieses Verfahren äußerst umstritten.
Dieser unorthodoxe Schritt würde zudem wohl noch mehr Spannungen in die Koalition bringen, als sie eh schon aushalten muss. Denn was auf dem Papier so schön als Wiederauflage der "orangen Koalition" aussieht, ist de facto ein ziemlich desperates Bündnis dreier Parteien, die vor anderthalb Jahren gegen das Regime Kutschma gekämpft haben. Die drei Parteien - Julia Timoschenkos Wahlblock "Bjut", der bei den Parlamentwahlen im März unter den "Orangen" mit 22,3 Prozent am besten abgeschnitten hat, die mit 13,9 Prozent empfindlich geschlagene "Nascha Ukraina" Juschtschenkos und die kleine Sozialistische Partei von Oleksander Moroz (5,6 Prozent) - trennen Programme und persönliche Ambitionen der Führer-persönlichkeiten. Genau darüber sind sie schon einmal gestolpert, Anfang September 2005 als Präsident Juschtschenko seine Premierministerin Timoschenko Knall auf Fall wegen angeblicher Korruption und ihrer kontraproduktiven, investitionsfeindlichen Wirtschaftspolitik entlassen hatte. "Nascha Ukraina" und die Sozialisten hatten danach unter Premier Juri Jechanurow fünf Monate als Minderheitskabinett weiterregiert. Nun wollen sich alle gegenseitig offenbar wieder eine Chance geben, denn die Wahlen haben klar gezeigt, dass es ohne Timoschenko eben nicht geht.
Dennoch versuchte "Nascha Ukraina" eine Rück-kehr der streitbaren "eisernen Lady der orangen Revolution" als Regierungschefin zu verhindern. Dass die stärkste Partei unter den Koalitionären den Premier stellen sollte, schien schon am Wahlabend Konsens. Doch als Timoschenko das Amt für sich beanspruchte, läuteten im Umfeld des Präsidenten die Alarmglocken. Jedes Mittel - bis hin zu Verhandlungen mit dem Erzfeind Janukowitsch und dessen "Partei der Regionen" - schien "Nascha Ukraina" recht. Dass dieser wahrscheinlich hinter dem Dioxinanschlag auf Juschtschenko im Jahr 2004 gestanden hatte und dass der Ex-Premier die "orange Revolution" mit einem Armeeinsatz beenden wollte, war schnell vergessen. "Alle gegen Timoschenko" lautete der Wahlspruch zwischen März und Juni.
Und Julia Timoschenko spielte gekonnt auf diesen Saiten. Juschtschenko wolle die Revolution verraten, ließ sie bald wissen. Die "orangen" Oligarchen wollten den Reichtum des Landes heimlich mit den "blauen" Oligarchen teilen. Der Donezker Ex-Mafioso Rinat Achmetow, der reichste Mann des Landes, werde neuer Premier, wurde spekuliert. Mitte Juni schließlich sickerte durch, "Nascha Ukraina" habe Janukowitschs "Partei der Regionen" dazu überredet, auf ihren Widerstand gegen den NATO-Beitritt zu verzichten. Auf einen EU-freundlichen Kurs war die prorussische Partei, die fast ausschließlich im Ostteil des Landes gewählt wird, bereits bei den jüngsten Parlamentswahlen eingeschwenkt. Allerdings wenig überzeugend.
Bis zuletzt dauerte der Machtpoker unter den drei "orangen Parteien". Kein Trick war zu schäbig, keine Drohung unstatthaft. Doch auch die Parteiprogramme der drei Koalitionsmitglieder könnten kaum unterschiedlicher sein. Alle sind zwar grundsätzlich pro-westlich ausgerichtet, aber "Nascha Ukraina" ist liberal, "Bjut" und die Sozialisten wollen eher möglichst viele Staatinterventionen in der Wirtschaft. "Nascha Ukraina" will in die NATO, die Sozialisten sind dagegen. Und Timoschenkos "Bjut" will darüber ein Referendum abhalten, womit ein NATO-Beitritt bei der gegenwärtigen Stimmung in der Ukraine nicht den Hauch einer Chance hat.
"Wie lange kann so eine Koalition halten?", fragt man sich bang in Kiew. Die meisten Politologen scheinen ihr etwa sechs Monate zu geben, allerdings sind auch Optimisten auszumachen. Von zwei Jahren spricht etwa der Direktor des Kiewer Instituts für Globale Strategien, Wadim Karasjow, in der Internetzeitung "Ukrainska Prawda". Optimistischere Einschätzungen sind in Kiew derzeit kaum zu finden.