Auch acht Monate nach Edmund Stoibers fluchtartigem Rückzug aus Berlin wird die Politik im Freistaat von der Frage beherrscht, wie fest und vor allem wie lang der bayerische Ministerpräsident noch im Sattel sitzen wird und wie es um seine Führungskraft bestellt ist. Vor diesem Hintergrund macht sich in der CSU kurz vor der Sommerpause alles andere als Aufbruchstimmung breit. Vielmehr herrschen zunehmend Unmut und Sorge über die Rolle der Partei als kleinster Kraft der Großen Koalition in Berlin und über schwindendes eigenes Profil. Nach dem Wirbel um Stoibers rasante Reform- und Sparpolitik im vergangenen Jahr spiegeln sich in den Schlagzeilen nun gehäuft innerparteiliche Aktionen, Attacken und Gegenschläge, wobei Landtagsfraktion und Staatskanzlei tragende Rollen spielen.
Gleichwohl darf sich Stoiber gestärkt sehen: Nach der jüngsten Umfrage im Auftrag des Fernsehsenders Sat 1 befürworten 70 Prozent der CSU-Wähler, dass Stoiber Ministerpräsident bleibt. 20 Prozent fordern allerdings seinen baldigen Rücktritt. Nach nur 49 Prozent Zustimmung aller Wähler im November würden jetzt bei einer Landtagswahl immerhin wieder 54 Prozent die CSU wählen - nur 18 Prozent die SPD, elf Prozent die Grünen, acht Prozent die FDP, die damit erstmals seit 1994 wieder in den Landtag einziehen würde.
Im Gegensatz zu Berlin, wo Stoiber mit seiner überraschenden Rückbesinnung auf Bayern einen großen Teil seines früheren Einflusses aufgab, kann er sich im Freistaat dank einer fast ruckartig vollzogenen Wandlung zum Landesvater, der bis in die Niederungen der Kommunalpolitik und des ländlichen Raums hinabsteigt, überraschend gut behaupten. Freilich helfen ihm hier sein eingespielter Apparat, geschickte Öffentlichkeitsarbeit und der Umstand, dass es in der Partei derzeit niemand wagt, gegen ihn anzutreten. Innenminister Günther Beckstein, der mit seinem Kabinettskollegen Erwin Huber - früher Chef der Staatskanzlei, inzwischen Wirtschaftsminister - noch im vergangenen Herbst um die Nachfolge des vermeintlich nach Berlin gehenden Stoiber stritt, bekunden Gefolgstreue: Niemand werde dem Parteivorsitzenden die Spitzenkandidatur 2008 streitig machen - so Beckstein, und Stoiber sei der "geborene Kandidat" - so Huber, versicherten sie.
Mit einer Gänsehaut denken viele in der CSU auch an die - noch kaum vernarbten - Wunden, die der damalige innerparteiliche Nachfolge-Kampf zwischen dem Franken und dem Niederbayern geschlagen hatte. Ein neuerlicher Kandidatenstreit würde die Kampfkraft der Partei schwächen und die Wahlaussichten für 2008 verdüstern. So stellen sich die allermeisten in der Fraktion hinter Stoiber, von dem sie sich auch im inzwischen reduzierten Format Vorteile beim Ringen um die Wähler versprechen.
Insofern werden derzeit auch dem als möglichen Thronfolger gehandelten CSU-Fraktionschef Joachim Herrmann keine Chancen eingeräumt, Stoiber die Staatskanzlei streitig zu machen. Der 49-jährige Franke aus Erlangen arbeitet seit längerem an seinem Erscheinungsbild und greift auf ein bewährtes früheres Stoiber-Muster aus der Ära Kohl zurück: Er wettert gegen die von der CSU mitgetragenen Kompromisse der Koalition in Berlin, die auch vielen anderen in der Partei als unvereinbar mit der CSU-Politik schwer im Magen liegen. Stoiber hatte sie zuvor um des Koalitionsfriedens Willen geschluckt. Den im Zusammenhang mit der Gesundheitsreform geplanten neuen Fonds nannte Herrmann eine "völlige Fehlkonstruktion", im Zusammenhang mit dem Antidiskriminierungsgesetz sprach er von einem "bürokratischen Monstrum" und ganz allgemein sah er für die Zumutungen aus Berlin die "Schmerzgrenze erreicht". Bereits nach Stoibers Berlin-Rückzug hatte Herrmann mit einer sensationellen Diskussion in der Fraktion ein Ventil für den Unmut in der CSU geöffnet und unter anderem "mehr oder weniger einsame Entscheidungen, deren Hin und Her die Menschen nicht mehr nachvollziehen können", gerügt.
Im CSU-Vorstand verwahrte sich Landesgruppen-Vorsitzender Peter Ramsauer gegen die Kritik an der Arbeit der Berliner Koalition und rief zur innerparteilichen Geschlossenheit auf. Diese Äußerungen wiederum führten zu einer merkwürdig auseinander driftenden Berichterstattung in den Medien. Während einige meldeten, Ramsauers strenge Worte seien deutlich auf Herrmann gemünzt gewesen und hätten diesen zur Ordnung gerufen, wähnten andere, Stoibers Umfeld habe diese Version gezielt in die Redaktionen getragen, um dem in Richtung Staatskanzlei strebenden Franken einen Dämpfer zu verpassen. Ramsauer selbst bekundete, er habe nur die allgemeine Stimmungslage in der Partei aufgreifen wollen. Eine Reihe von Sitzungsteilnehmern hatte dies ebenso aufgefasst.
Der von den Medien gern zu Rate gezogene Passauer Politologe Heinrich Oberreuter äußerte gegenüber der Passauer Neuen Presse den Eindruck, dass gezielt versucht worden sei, "Herrmann mit einem kolportierten Streit zu schaden", und zwar vor dem Hintergrund der Diskussion um Stoibers Nachfolger als Ministerpräsident. Hier bahne sich ein Konflikt zwischen Altbayern und Franken an. Weiter stellte Oberreuter fest, dass Stoibers Bedürfnis nach Harmonie mit Kanzlerin Merkel "momentan zu groß" sei.
Alle sommerlichen Depressionen und Gewitterlagen überspielte Stoiber selbst auf einem Kleinen Parteitag in Amberg mit der Diagnose: "Die Stimmung in der CSU in Bayern ist gut." Mit einem "Bündnis" mit Städten und Gemeinden versucht er, die sich vernachlässigt fühlende kommunale Ebene für die Kommunalwahlen im Frühjahr 2008 in CSU-Laune zu versetzen - dem letzten großen Test vor der Landtagswahl im Herbst desselben Jahres. Die mit der Berliner CSU-Politik Unzufriedenen seiner Partei belehrte er mit dem Hinweis, dass es "CSU pur" in einer Koalition nicht gebe. Die Hoffnung, dass ihr Vorsitzender bald wieder bundesweiter Stichwortgeber für eine klare und wegweisende Unionspolitik sein könnte, haben die meisten Parteigänger begraben.
Für den Fall, dass Stoiber keine großen Fehler mehr macht, dass die Umfragewerte stimmen und dass er sich weiter für unersetzbar hält, wie ihm Nahestehende attestieren, könnte sich die Antwort auf die Nachfolgefrage noch um etliche Jahre verzögern.