Das Grundübel, diagnostizierte die streitbare Juristin, liege im Gleichklang der Interessen von Richtern, Verteidigern und Staatsanwälten, das Verfahren möglichst schnell über die Bühne zu bringen. "Der Angeklagte findet nicht mehr statt." Sie forderte Justiz und Anwälte zur Rückkehr zu den Regeln der Strafprozessordnung auf, um den "Flächenbrand" einzudämmen.
Dazu wird es wohl nicht kommen. Stattdessen soll der Handel mit der Gerechtigkeit, umgangssprachlich "Deal" genannt, nun erstmals gesetzlich geregelt werden - immerhin dies könnte man als typisch deutsch erachten. Im Mai hat das Bundesjustizministerium einen Referentenentwurf vorgelegt, nachdem der Bundesgerichtshof (BGH) vergangenes Jahr in einer Grundsatzentscheidung wesentliche Grundzüge festgelegt und auf eine gesetzliche Regelung gedrungen hatte. Der BGH habe sich dadurch in einen Grenzbereich richterlicher Rechtsschöpfung vorgewagt, räumte BGH-Präsident Günter Hirsch kürzlich ein. Allerdings sei er durch das Schweigen des Gesetzgebers dazu gezwungen gewesen.
Das geplante Gesetz, das sich eng an die BGH-Vorgaben anlehnt, klingt vernünftig: Danach müssen die Gerichte die Tat aufklären und sich ein Bild über Schuld oder Unschuld des Angeklagten machen - ausgedealt werden darf nur die Höhe der Strafe. "Dementsprechend darf das Gericht einem abgesprochenen Geständnis nicht blind vertrauen, sondern muss es auf seine Glaubhaftigkeit prüfen", heißt es in der Erklärung des Bundesjustizministeriums. Außerdem ist der bei solchen Absprachen übliche Verzicht auf Rechtsmittel nur nach einer besonderen, "qualifizierten" Belehrung des Angeklagten möglich. Hinzu kommen Mahnungen an die Richterschaft: Die Angabe einer Strafober- und Untergrenze müsse sich innerhalb der allgemeinen Strafzumessungsregeln bewegen. Und weiter ist dort zu lesen: "Der Angeklagte darf ferner nicht durch Inaussichtstellen einer unangemessenen Strafe zur Absprache gedrängt werden."
Lässt sich die aufufernde Praxis der Absprachen in den Hinterzimmern, die nicht mehr nur bei Wirtschaftsprozessen üblich ist, damit in den Griff bekommen? Ein erster Versuch des BGH aus dem Jahr 1997, dem Deal Regeln zu geben, ist jedenfalls nach einhelliger Bewertung von Praktikern gescheitert: Der BGH wollte den Beteiligten ein Höchstmaß an Transparenz verordnen - nur hat sich keiner dran gehalten. Werner Leitner, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht im Deutschen Anwaltverein, ist skeptisch, ob dies mit einer gesetzlichen Regelung anders würde: Wenn ein Richter seine Macht ausspielen wolle, werde er sich auch durch ein Gesetz nicht davon abhalten lassen, sagte Leitner kürzlich bei einem Strafverteidigersymposium in Karlsruhe.
Dabei belegen die Berichte aus der Praxis, wie dringlich eine Regelung ist. Mitunter drohten die Richter mit uferlosen Strafrahmen, mit der Verhängung von Untersuchungshaft oder mit der zeitaufwendigen Abspaltung von Verfahrensteilen, falls der Angeklagte sich nicht zu einem Geständnis durchringe. "In diesem Fällen geht es um die blanke Macht, die Unterwerfung des Angeklagten, seine Degradierung zum Objekt", sagte Leitner. BGH-Richter Wolfgang Pfister zitierte einen Fall, in dem sich ein Richter "aus Fairnessgründen" grundsätzlich daran gehindert sah, in einem normalen Urteil eine mildere Strafe zu verhängen als im "ausgedealten" Prozess - weil ja sonst der zum Handel bereite Angeklagte benachteiligt würde. Nicht unschuldig am verbreiteten Hang zum Deal sind nach Pfisters Worten allerdings auch Anwälte, die den Kampf um jeden Preis pflegen und damit die Prozesse unnötig in die Länge ziehen.
Ein eindrucksvolles Exempel zum Thema Deal lieferte das Landgericht Paderborn, dessen Urteil der BGH im September 2004 kassierte. Es ging um einen Fall von Menschenhandel. Nachdem der Verteidiger die Vernehmung von Zeugen aus der Dominikanischen Republik ins Gespräch gebracht hatte - ein Gräuel für einen Richter, der an die Aktentürme auf seinem Schreibtisch denkt -, deutete der Vorsitzende an, womöglich müsse sein Mandant doch wieder in Untersuchungshaft genommen werden. Falls er aber ein Geständnis ablege, werde sich das Gericht mit einer Strafe von zwei Jahren und neun Monaten zufrieden geben - falls nicht, kämen die "bei der hiesigen Justiz üblichen Tarife" zur Anwendung. So kam es zum Geständnis und zum angekündigten Urteil. Als der Angeklagte auf die Frage nach einem Verzicht auf Rechtsmittel nicht reagierte, wurde der Vorsitzende ungeduldig: "Herr L., nicken Sie, nicken Sie!", forderte der Richter ihn auf - woraufhin dieser den Kopf gesenkt habe.
BGH-Richter Pfister sieht die Hauptursache für die Bereitschaft zum ausgehandelten und damit kurzen Prozess in der Überlastung der Gerichte. Tatsächlich wird nach Jahren der Einsparungen die Personaldecke in der Justiz immer kürzer. Überall werden Stellen eingespart, in Schleswig-Holstein und Thüringen sollen jeweils gut ein halbes Dutzend Amtsgerichte aufgelöst werden, in Berlin warnte der Richterbund vor einiger Zeit vor einem drastischen Personalabbau von bis zu 350 Stellen. "Der Personalabbau in der Justiz ist erheblich", lautet Pfisters Fazit.
Der in Leipzig ansässige 5. BGH-Strafsenat hatte die Knappheit der Ressourcen vor rund einem halben Jahr in einem Urteil zum Kölner Müllskandal auf den Punkt gebracht: "Nach der Erfahrung des Senats kommt es bei einer Vielzahl von großen Wirtschaftsstrafverfahren dazu, dass eine dem Unrechtsgehalt (...) adäquate Bestrafung allein deswegen nicht erfolgen kann, weil für die gebotene Aufklärung derart komplexer Sachverhalte keine ausreichenden justiziellen Ressourcen zur Verfügung stehen", heißt es in dem Urteil. Vorsitzende zu diesem Zeitpunkt war übrigens Monika Harms.
Womit die Wirkung des Gesetzesentwurfs aus Berlin begrenzt bleiben dürfte. Denn wenn die knapper werdenden Ressourcen der Justiz an der schädlichen Neigung zum kurzen Prozess schuld sind, kann der Bund wenig ausrichten - über die Ausstattung der Gerichte entscheiden die Länder.