Eigentlich ist das Palais de l'Europe ein Hort des diplomatischen Umgangstons. Die Debatte über die Errichtung eines Europäischen Gedenkzentrums für die Opfer von Vertreibungen und "ethnischen Säuberungen" in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats Anfang Oktober verlief hingegen ungwohnt hitzig. Zum Schluss wurde gar gerätselt, wofür die Volksvertreter aus den 46 Mitgliedsnationen bei dieser heiß umstrittenen Frage denn nun votiert haben. Zunächst wurde der Antrag des französischen Delegationsleiters Bernard Schreiner abgelehnt, dieses Thema von der Tagesordnung zu streichen. Nach dem politischen Schlagabtausch verwarfen die Delegierten dann den Vorstoß des Migrationsausschusses zur Schaffung einer solchen Institution. Doch das Votum wurde wegen Problemen mit der Wahlmaschine wiederholt und bei der zweiten Runde sprach man sich dann doch mit einer Stimme Mehrheit für ein Gedenkzentrum aus. Wiederum eine solche hauchdünne Majorität forderte bei der nächsten Abstimmung das Ministerkomitee als höchstes Gremium des Europarats auf, die Gründung einer solchen Einrichtung konkret umzusetzen. Freilich wäre bei diesem Votum nach der Geschäftsordnung eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich gewesen: Somit ist das knappe Ja ein Nein. Die Volksvertreter des Staatenbunds plädierten also im Prinzip für etwas, dessen Verwirklichung sie gleichwohl ausbremsen.
Ein Hornberger Schießen? Man mag den Kopf schütteln über seltsam anmutende parlamentarische Bräuche. Indes offenbarte dieser Konflikt über die Erinnerung an die Opfer von Vertreibungen, wie heftig umkämpft diese heikle Frage auch künftig sein wird: Schließlich geht es um Ursache und Wirkung, um Schuld und Sühne der Verantwortlichen und dabei nicht zuletzt um die Rolle Deutschlands unter dem Nazi-Regime samt dem Holocaust. Die Idee eines europäischen Gedenkzentrums wird nach dem Straßburger Abstimmungsdurcheinander wohl weiterhin für Aufregung sorgen. Und speziell das in Berlin vom Bund der Vertriebenen geplante Projekt, das auch den Europarat umtreibt, dürfte auch international noch Zündstoff liefern. Rund ein Jahr lang hatten die Migrationskommission und deren Sprecher Mats Einarsson (Schweden) von der Fraktion der Vereinigten Linken am Modell einer Gedenkinstitution gebastelt. Der Ausschuss wollte den Holocaust wegen seines "einzigartigen Charakters", so Einarsson, nicht in das Mandat dieser Einrichtung einbeziehen. Die Entschädigung für den Verlust des Eigentums von Zwangsumgesiedelten sollte ebenfalls außen vor bleiben.
Zum Auftrag der Erinnerungsstätte sollte die Befassung mit dem Schicksal von 60 bis 80 Millionen Vertriebenen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem in Mittel- und Osteuropa sowie von mehreren Millionen Opfern dieser Art während der Kriege auf dem Balkan und im Südkaukasus in den Neunzigern gehören. Einarsson: "Das hat tiefe Wunden im Gedächtnis der Völker geschlagen." Forschungen vorantreiben, Versöhnung fördern, Konflikte verhüten helfen, die Jugend sensibilisieren: So ist die praktische Arbeit des Gedenkzentrums konzipiert.
Doch während der Sitzung prallten die Meinungen unerwartet heftig aufeinander. Auf Gegenkurs ging zum Beispiel der polnische Delegationsleiter Karol Karski, für den die avisierte Institution "weit entfernt von der historischen Wahrheit ist". Deutsche und Polen würden gleichermaßen als die von Vertreibungen während des Kriegs am stärksten betroffenen Völker bezeichnet. So stelle man aber Aggressoren auf eine Stufe mit Opfern, klagte Karski, wo doch die Kriegsverbrechen in Polen von Deutschland ausgegangen seien. Konstantin Kosachew, Vorsitzender der Duma-Abgeordneten in Straßburg, kritisierte, dass der Holocaust nicht behandelt werden soll. Der Franzose Jacques Legendre mahnte Mitgefühl mit den Opfern von Zwangsumsiedlungen an, man dürfe aber nicht alle unter einen Hut stecken, womit der konservative Politiker die besondere Verantwortung des Nazi-Regimes für Vertreibungen ansprach.
Der holländische Sozialdemokrat Ed van Thijn, ein Überlebender des Holocaust, machte sich hingegen für eine Erinnerungsstätte stark: Vertreibungen und Nazi-Judenmord seien nicht vergleichbar, orientiere man sich aber an dieser Richtschnur, "wird man beschuldigt, den Holocaust verharmlosen zu wollen". Unterstützung erhielten die Migrationspolitiker auch vom polnischen Abgeordneten Tadeusz Iwinski. Zwar sei es problematisch, Deutsche und Polen als Opfer von Vertreibungen während des Kriegs gleich zu gewichten, zudem werde im Konzept des Ausschusses die Tragödie der Polen unter Stalin unterschätzt. Eine "unparteiische Einrichtung" auf internationaler Ebene, hoffte Iwinski, könne jedoch ein Gegengewicht zu nationalen Projekten wie etwa das in Berlin geplante Zentrum gegen Vertreibungen sein. Die Gemengelage im Palais de l'Europe war explosiv. Die SPD-Bundestagsabgeordneten Markus Meckel, Detlef Dzembritzki und Wolfgang Wodarg, die beiden letzteren sitzen im Europarats-Parlament, interpretierten die Straßburger Debatte dann auch als Beleg, "dass es in Europa möglich ist, grenzüberschreitend und in einem konstruktiven Dialog dieses schwierige und belastende Thema zu bearbeiten". Hinter dieser Formulierung könnte möglicherweise aber auch die Hoffnung stehen, ein solches Modell werde dem geplanten Berliner Zentrum den Wind aus den Segeln nehmen - und damit Konfliktstoff beiseite räumen.