Wenn es allein auf die Wirtschaft ankommt, braucht sich Labour um die nächste Wahl keine allzu großen Sorgen zu machen. Zumal der nächste Labourführer aller Voraussicht nach Gordon Brown heißt, der nun seit fast zehn Jahren für ökonomische und finanzpolitische Stabilität im Land sorgt. Großbritanniens wirtschaftliche Verfassung kann sich sehen lassen. Die OECD stellte Großbritannien kürzlich ein hervorragendes Zeugnis aus und bescheinigte dem Land eine "Goldilocks"-Ökonomie: Gemeint ist damit ein Zustand, bei dem die Wirtschaft gerade richtig tickt, nicht zu heiß oder zu kalt, sodass die Regierung darauf verzichten kann, dämpfende oder belebende Maßnahmen zu ergreifen. Die Prognosen sagen für die kommenden Jahre eine Phase stetigen Wachstums voraus.
Ökonomische Effizienz, flexible Arbeitsmärkte und soziale Gerechtigkeit zu kombinieren, war das erklärte Ziel von New Labour. Das Marktprinzip wurde uneingeschränkt bejaht - ein Eingeständnis, dass die Rechte die ökonomische Debatte gewonnen hatte. Dem Staat wurde "enabling", eine "ermöglichende" Rolle, zugewiesen, was Labour nicht daran hinderte, in den vergangenen neun Jahren an die 700.000 neue Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst zu schaffen. Die Staatsquote ist auf knapp 41 Prozent gestiegen, wird in zwei Jahren 42 Prozent erreichen und damit über dem Durchschnitt der Eurozone liegen. Zugleich praktizierte die Labourregierung mit Mindestlohn und Steuerkrediten für niedrige Einkommensbezieher ein gewisses Maß an Umverteilung und linderte so die Ungleichgewichte, die ein ungezügelter Kapitalismus erzeugt.
Aber es gibt auch dunkle Flecken. Nicht nur die Beschäftigungsrate ist mit beinahe 80 Prozent auf einen Rekordstand hochgeschnellt. Auch die Arbeitslosigkeit, die Krankheit der 70er- und 80er-Jahre, steigt wieder. Der scheinbare Widerspruch lässt sich leicht auflösen. Unter Labour hat sich die Einwanderungsrate vervierfacht. Die Nettoimmigration pro Jahr beträgt rund 270.000.
Massenhafte Einwanderung gehörte zur ökonomischen Strategie von Schatzkanzler Gordon Brown. Er sorgte für einen flexiblen Arbeitsmarkt, eine scharfe Wettbewerbspolitik und den Zustrom billiger Arbeitskräfte aus dem Ausland. Das erlaubte Wachstum, hielt die Löhne unten und die Inflation im Zaum. Ökonomisch machte das Sinn. Die Wirtschaft war zufrieden, das linksliberale Milieu und die meisten Medien begrüßten diese Politik.
Nun erweist sich, dass massenhafte Immigration auch unerfreuliche Konsequenzen haben kann: negativ wirkt sie sich vor allem für Minderqualifizierte Arbeitnehmer aus, eine Bevölkerungsgruppe, die bislang überwiegend Labour wählte. Die Konkurrenz um Jobs ist gewachsen, die Löhne sinken. In manchem Wahlkreis legte die rechtsradikale British National Party (BNP) auf Kosten Labours zu.
Labour beginnt, sich Sorgen zu machen. Ein Schreckensszenario kursiert bei Think-Tanks und Politikberatern. Labour, so fürchten sie, könnte das gleiche Schicksal erleiden wie die australischen Genossen Ende der 90er-Jahre. Dort hatte eine Labourregierung unter Premierminister Paul Keating den gleichen Weg eingeschlagen, den dann auch New Labour in Großbritannien wählte. Wie Keating entschied sich auch die Regierung Blair für eine Doppelstrategie: Sie übernahm die Wirtschaftspolitik der Konservativen - Deregulierung, flexibler Arbeitsmarkt, Privatisierung -, ergänzte sie um Umverteilung und Maßnahmen zur Reduzierung von Armut und kombinierte diese ökonomischen Rezepte mit einem gesellschaftspolitischen Kurs, der den dominanten kulturellen und sozialen Vorstellungen der Linken folgte, also Multikulturalismus, Schwulenrechte, umfassende Antidiskriminierung und ein Ja zur Einwanderung.
In Australien erwies sich genau das als eine fatale Kombination. Trotz wirtschaftlicher Erfolge, von denen der Kontinent noch heute profitiert, verlor Labour die folgenden drei Wahlen. Kann sich das in Großbritannien wiederholen? Derzeit fließen Ressentiments und Ängste der Bevölkerung zu einer gefährlichen Mixtur zusammen: allzu hohe, unkontrollierte Einwanderung, die ganze Stadtteile kolonisiert; der Aufstieg des extremistischen Islams, der immer stärker versucht, Grenzen zu seinen Gunsten zu verschieben, sei es, dass er Zensur verlangt oder neue Rechte, bis hin zur Forderung, die Scharia in britisches Recht einzuführen; wachsende Gewaltkriminalität und das verbreitete Unbehagen daran, dass die Ideologie des Multikulturalismus zu weit getrieben worden ist und zu Lasten der Mehrheitsgesellschaft geht. Ganz oben auf der Prioritätenliste der Wähler rangieren Einwanderung, Furcht vor dem radikalen Islam und Terrorismus.
Wie soll man einem kulturellen "Backlash" begegnen, der von unten und von rechts kommt? Die Regierung hat bereits begonnen, auf die Gefahr zu reagieren. Sie reißt das Ruder hart herum. Das entspringt der Einsicht, dass ein Kurswechsel sachlich gerechtfertigt ist, und fällt umso leichter, weil er wahlpolitisch unbedingt erforderlich ist.
So gesehen kam die Debatte über die Vollverschleierung, die Jack Straw, der frühere Außenminister, losgetreten hatte, nicht von ungefähr. Der Schleier, sagt auch Tony Blair, sei ein Zeichen bewusster Abschottung. Ob das mit dem Bestreben nach Integration zu vereinbaren sei, müsse offen debattiert werden. Der Premier signalisierte damit einen radikalen Bruch mit der bisherigen Politik. Man ist zur Überzeugung gelangt, dass Großbritannien nicht die richtige Balance gelungen ist zwischen Toleranz für kulturelle Vielfalt und der Notwendigkeit für Minderheiten, sich in die Gesellschaft zu integrieren.
Als gravierender Fehler wird es nun angesehen, die Trennung der muslimischen Minderheit von der britischen Gesellschaft hinzunehmen, ja sie im Namen des Multikulturalismus auch noch zu fördern. Nun wird dem Muslimrat, den die Regierung bislang als bevorzugten Dialogpartner behandelte und auch finanziell förderte, der Geldhahn zugedreht. Ruth Kelly, Ministerin für "Community", will Fördergelder jenen muslimischen Organisationen zukommen lassen, die aktiv gegen die Radikalisierung junger Muslime vorgehen. Öffentlich unterstützten Premier und diverse Minister einen Schuldirektor, der eine muslimische Lehrerin entließ, weil sie darauf beharrt hatte, verschleiert zu unterrichten.
British Airways wird scharf kritisiert, weil man dort einer Angestellten das Tragen eines Kreuzes um den Hals verboten hatte. Es kennzeichnet den Stimmungsumschwung im Land, dass dieser Fall weithin als Paradebeispiel angesehen wird für eine Fehlentwicklung: Solche Blüten treibt ein institutionalisierter Multikulturalismus, heißt es. Lange war dieser die unumstrittene Doktrin von Staat und Gesellschaft in Großbritannien. Befolgt und umgesetzt in immer zahlreicherer Gesetzgebung und Regulierung, auf deren Einhaltung die "Commission for Racial Equality" wacht. Ausgerechnet ihr Präsident, Trevor Philips, Einwanderer aus der Karibik, hatte bereits vor zwei Jahren verkündet, dass der Multikulturalismus verheerende Folgen habe.
Nun ist die Regierung ihm gefolgt und erklärte den Multikulturalismus ganz offiziell für gescheitert. Er habe zur Ghettoisierung geführt, die Gräben in der Gesellschaft vertieft und Integration verhindert. Fataler noch: Er beschädigte das Ideal der Gleichheit vor dem Recht, so die neue Lesart. Eine Fülle von Antidiskriminierungsgesetzen führte zu einer Situation, wonach laut dem Think-Tank "Civitas" 73 Prozent der Bevölkerung "Opferstatus" besitzen und durch besondere Gesetze geschützt würden. Die Lage erinnert an George Orwells visionäre Novelle "Farm der Tiere": "Alle Tiere sind gleich, aber einige sind gleicher als andere."
Der Labourparty fällt der Kurswechsel nicht leicht. Traditionell neigt die Linke zu postkolonialen Schuldgefühlen, ihr ist unbehaglich angesichts des Anspruches der "Mehrheits- oder Leitkultur" und sie glaubt, das Konzept nationaler Identität sei schwer zu vereinbaren mit dem Streben nach einer gerechten Gesellschaft. Zwar hat New Labour die alten Reflexe der Linken abgelegt, aber sie sind tief eingegraben in die DNA der Partei. Doch verlieren diese Stimmen zunehmend an Gewicht. John Denham, Vorsitzender des Innenausschusses und wegen des Irakkrieges als Staatsminister im Innenministerium zurückgetreten, brachte es auf den Punkt: "Einer Gesellschaft mit einem gering entwickelten Gefühl für eine zusammenhaltende Identität wird es zwangsläufig immer schwerer fallen, die kollektiven Antworten zu finden und durchzusetzen, die notwendig sind, um Benachteiligung zu bekämpfen, den Sozialstaat zu reformieren und den Bürgern Sicherheit zu garantieren." Hier schimmert die Sorge Labours durch, der Sozialstaat lasse sich angesichts immer größerer gesellschaftlicher Vielfalt nicht mehr aufrechterhalten.
Die Regierung trägt nun auch dem Umstand Rechnung, dass zwei Drittel der Wähler eine Begrenzung der Einwanderung fordern. Bei der ersten Etappe der EU-Erweiterung gehörte Großbritannien zu den wenigen Staaten, die die Schotten nicht dicht machten. Man beschränkte sich darauf, abzuwiegeln und sagte voraus, es würden maximal 13.000 Polen und Tschechen pro Jahr nach Großbritannien kommen. Binnen zwei Jahren drängten mehr als 600.000 Zuwanderer aus Ost- und Mitteleuropa auf den britischen Arbeitsmarkt; inoffizielle Schätzungen des Innenministeriums sprechen von bis zu einer Million.
Rumänen und Bulgaren bleibt der Weg auf die Insel vorerst versperrt. Verkündet hat das John Reid, ein Schotte, der einen harten Kurs als Innenminister fährt, kein Blatt vor den Mund nimmt und sich für den unwahrscheinlichen Fall bereit hält, dass Gordon Brown, klarer Favorit auf die Nachfolge von Tony Blair, doch noch auf dem Weg nach 10 Downing Street stolpern sollte. Brown ist sich der Herausforderung bewusst.
Kürzlich lieferte er eine knallharte Rede zu Terrorismus und innerer Sicherheit, die der um sich greifenden Furcht Rechnung trägt. Sie ließ das linksliberale Milieu aufstöhnen. "Schlimmer als Blair", schrieb eine Kolumnistin des "Guardian", plötzlich sei die Vorstellung von einem Premier Gordon Brown eine "Furcht einflößende Aussicht". Genau dieses Milieu umwirbt Torychef David Cameron derzeit mit seinem grün angehauchten Schmusekurs. Er versucht alles, um das Image der Torys als verknöchert und ausländerfeindlich abzulegen. Cameron trägt damit dem Sieg der Linken auf kulturellem und sozialem Gebiet zu einer Zeit Rechnung, da der "Backlash" dagegen bereits begonnen hat.
Wenn es sich als notwendig erweisen wird, eine Politik zu verfolgen, die sich um Nation, Identität und Sicherheit dreht, dürften die Torys jedoch allemal wendig genug sein, um die neuen kulturellen Ängste aufzugreifen. Moderne Parteien reisen mit leichtem ideologischem Gepäck. Das weiß auch Gordon Brown, der zuletzt auffällig oft über das Thema "Britishness" gesprochen hat. Er wird alles daran setzen, David Cameron zuvorzukommen. Zu seiner Strategie gehört es, die Konservativen in Fragen der inneren Sicherheit als unzuverlässig hinzustellen. Bei Asyl und Einwanderung wird er sich ebenfalls keine Blöße geben. Schon vor einigen Monaten verlangte Gordon Brown, die Frist auf drei Monate auszudehnen, in der die Polizei Terrorismusverdächtige festhalten darf, ohne Anklage erheben zu müssen. Blair hatte im Parlament nur vier Wochen durchsetzen können, nicht zuletzt wegen des Widerstandes der Konservativen. Auch auf anderen Feldern wird ein Premier Brown für Überraschungen sorgen.
Zurzeit umwirbt er die Londoner City, die über zu viel Regulierung und eine wachsende Steuerlast stöhnt. Während die Konservativen wie die Katze um den heißen Brei der "Tax Cuts" streichen, darf man getrost damit rechnen, dass Gordon Brown vor der nächsten Wahl mit einem Coup aufwarten und eine Steuersenkung verkünden wird. Was er dann bei der Wahl zum Labourführer noch braucht, ist ein Herausforderer vom linken Labourflügel, um unübersehbar zu demonstrieren, wo er steht.