Der Herr im Elysée-Palast, dessen zwölfjährige Regentschaft 2007 mit der Wahl eines neuen Staatschefs zu Ende geht, steht ganz in der Tradition seiner Vorgänger Francois Mitterrand und Valery Giscard-d'Estaing, deren amouröse Eskapaden ebenfalls Legende sind. Aber Franz-Olivier Giesbert belässt es diskret bei der Erwähnung von Chiracs Galanterien, er blickt nicht durchs Schlüsselloch auf die erotischen Abenteuer, es reicht ihm, die Phantasie der Leser zu beflügeln.
Der Promi-Journalist enthüllt Kabale und Liebe bei Hofe, und da darf Letzteres natürlich nicht fehlen. Aber in erster Linie widmet sich Giesbert den intrigenreichen Machtkämpfen im rechten Lager der politischen Klasse. Brutalität und Heimtücke der Kombattanten werden mitleidlos aufgedeckt. Chirac, der seit den 60er-Jahren zum Inventar der französischen Politik gehört und der für den Verfasser seit dem verlorenen Referendum über die EU-Verfassung im Mai 2005 "politisch gestorben" ist, steht im Mittelpunkt dieses Buchs. Doch der Autor, kein Freund der Linken, zeichnet zudem ein verheerendes Sittengemälde des Mikrokosmos an der Staatsspitze, dessen Protagonisten überwiegend als macchiavellistische Finsterlinge vorgeführt werden.
Es dürfte deutschen Lesern nicht leicht fallen, die Schilderungen der verästelten französischen Innenpolitik über zwei Jahrzehnte nachzuvollziehen. Wer kennt schon all die Premiers, die Minister, die kommen und gehen? Wer weiß um die Konstellationen diverser Präsidentschafts- und Parlamentsurnengänge? Wer erinnert sich an die Kohabitationszeiten? Zwischen 1986 und 1988 war der Neogaullist Chirac Regierungschef unter dem sozialistischen Staatschef Francois Mitterrand, zwischen 1997 und 2002 hatte der Sozialist Lionel Jospin diese Funktion unter Mitterrands Nachfolger Chirac inne. Rechts des Rheins weithin vergessen ist wohl auch, dass der damalige rechte Premier Edouard Balladur bei den Präsidentschaftswahlen 1995 mit einer eigenen Kandidatur beinahe Chiracs Sieg über Jospin gefährdete, was ihm der seither amtierende Staatschef nie verzieh. Und dann die komplizierten Details der Skandale. Affären um Parteispenden und "fiktive Jobs" bei der Stadtverwaltung aus der Zeit Chiracs als Pariser Bürgermeister hängen dem Präsidenten noch immer an. Ungeklärt ist der neuere "Clearstream"-Skandal: Innenminister Nicolas Sarkozy wurde in einem Geheimdienstdossier fälschlicherweise beschuldigt, Schwarzgeldkonten zu unterhalten. Wer hat intrigiert? Vielleicht gar der verfeindete Regierungschef Dominique de Villepin? Einen Beweis gibt es bisher nicht.
Die derbe Sprache und saftige Polemik dieses Buchs sind ein Lesegenuss. Da ist die Rede von der "Mähmaschine Chiracs, die seit Generationen alles niedermäht, was aus der breiten Masse emporragt". Er erscheint als kalter Machtmensch, der auch enge Vertraute sofort fallenlässt, sobald sie keinen Nutzen mehr für ihn haben. Zusammen mit Mitterrand werde er "als einer der größten Lügner der Fünften Republik in die Geschichte eingehen".
Die Urteile des Autors muten in ihrer Summe und Härte wie eine publizistische Hinrichtung an. Er geizt nicht mit Zitaten aus Insiderwissen. So wettert Chirac über Sarkozy als "Zwerg" und "Winzling", der sei "komplett verrückt". Sarkozy beschimpft den Präsidenten als "verkohlten Greis". Als eine Art Rasputin in den Kulissen nimmt Giesbert den heutigen Premier Villepin ins Visier: ein "Mozart der Manipulation, honigsüß gegen außen und erbarmungslos hintenrum". Chiracs Tochter Claude mischt als dessen enge Mitarbeiterin im Elysée kräftig mit im Intrigantenstadel.
Woher aber der Furor, der Giesbert zu seiner erbarmungslosen Abrechnung treibt? Chirac, das ist "die Verkörperung des französischen Niedergangs", er sei ein "Nachtportier in einem Altenheim, der mit müdem Schritt das Licht ausmacht". Nur außenpolitisch mag der Autor dem Präsidenten Verdienste zuerkennen. All die Hiebe verwundern in ihrer Unerbittlichkeit schon etwas: Schließlich sind die Machtkämpfe im rechten Lager nichts Neues. Giesbert als Kenner des "Mikrokosmos" weiß dies bestens, er hat auch schon mal ein wohlwollendes Buch über Chirac geschrieben.
Warum gerade jetzt? Der Wirtschaftsliberale Giesbert macht seinem Ärger Luft, dass die Konservativen unter Chiracs Präsidentschaft nicht mit dem französischen Sozialmodell aufgeräumt haben. Dabei spielt der Verfasser seinerseits mit gezinkten Karten: Seine immer mal wieder eingestreute Forderung nach Unterwerfung unter die so genannten Zwänge der Globalisierung, nach Einschnitten in den Kündigungsschutz und in Sozialleistungen, nach mehr Druck auf Arbeitslose und manches mehr begründet er nicht, dies verkündet er kurzerhand apodiktisch als angeblich unumstößliche Wahrheit und Notwendigkeit. Chirac und dem rechten Politklüngel wirft Giesbert vor, aus Opportunismus und Machterhaltungstrieb stets vor den Protesten der Franzosen gegen Eingriffe in soziale Errungenschaften gekniffen zu haben. Mit den Motiven des Widerstands breiter Bevölkerungskreise setzt sich der Autor erst gar nicht auseinander. Die rüden Attacken dieses Buchs auf den "Mikrokosmos" sind auch ein Angriff auf die Franzosen selbst, auf die "risikoscheue Gesellschaft", die den "Schlaf des Landes" nicht gestört sehen will. Und Chirac, das ist eben der "Wärter des französischen Sozialfriedhofs".
Jenseits der spannenden Abrechnung mit dem Machtzirkus entpuppt sich das Buch denn auch als politische Kampfschrift im Vorfeld der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Es ist ein Appell an das konservative Lager, 2007 mit einem wirtschaftsliberalen Programm in Verbindung mit einem innenpolitisch repressiven Kurs anzutreten. So findet Giesbert lobende Worte für Alain Juppé: Der zwischen 1995 und 1997 regierende Premier propagierte seinerzeit Eingriffe ins Sozialsystem, wurde aber angesichts des Volkszorns auf der Straße von Staatschef Chirac ausgebremst. Ganz gut weg kommt beim Verfasser auch der als Favorit für die Präsidentschaftskandidatur der Rechten gehandelte Innenminister Sarkozy, der sich mit schärferen Gesetzen und robusten Polizeieinsätzen profiliert. Die in den Vorstädten schwelenden Unruhen vermag der Hardliner bislang freilich nicht aus der Welt zu schaffen, von der Beschneidung der Liberalität ganz abgesehen. So etwas thematisiert Giesbert lieber nicht.
Franz-Olivier Giesbert: Jacques Chirac. Tragödie eines Mannes und Krise eines Landes. Skandale und Enthüllungen. Aus dem Französischen von Ulrike Thiesmeyer, Barbara Sperling, Dr. Heiner Must, Angelika Hildebrandt. Econ-Verlag, Berlin 2006; 399 S., 17,95 Euro.