Der Tod komme so leicht, schreibt Larissa. Nichts könne ihn aufhalten. Larissa ist eine von rund 150 tschetschenischen Jugendlichen, die an einem Schreibwettbewerb der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial teilgenommen haben. Eine Auswahl dieser Aufsätze haben Memorial und die Heinrich-Böll-Stiftung in dem Sammelband "Zu wissen, dass du noch lebst. Kinder aus Tschetschenien erzählen" herausgebracht. Die Hauptrolle in den Geschichten spielt der Krieg. Russland führte ihn erstmals 1994 mit Tschetschenien, seit 1999 toben erneut Auseinandersetzungen um das Land. Das Buch ist keine einfache Kost, sondern enthält sehr persönliche Geschichten von Vertreibung, Bombenhagel und Massakern. Die Kinder und Jugendlichen erzählen vom Großvater, der im Krieg stirbt. Von der Nachbarin, die sich angesichts des Todes ihres Sohnes die Haare ausreißt. Von dem kleinen Bruder, der bei jedem Hubschraubergeräusch schreiend wegrennt. Von den Freunden, die verschwunden, erschossen oder verbrannt sind. Das Grosny der Vorkriegszeit wird dabei zum Symbol für das Paradies des Friedens. Die "schönste Stadt im Kaukasus" sei Grosny früher einmal gewesen, schreibt Diana aus der achten Klasse. Sie sei in Grün ertrunken und nichtsdestotrotz in Schutt und Asche gebombt worden.
Der Kloß im Hals sitzt tief beim Lesen der mal nüchtern, mal pathetisch geschriebenen Erzählungen von entsetzlichem Leid im Krieg. Es gibt nicht die erleichternde Erkenntnis, dass es sich um Fiktion oder längst Vergangenes handelt. Dafür quält der Gedanke, wie ungerecht der Zufall ist, der den einen in Ruhe und Wohlstand leben lässt, während gleichzeitig auf einem anderen Fleckchen Erde Kinder der schlimmsten Gewalt ausgesetzt sind. Auch bei den jugendlichen Schreibern kreist immer wieder alles um die Fragen nach dem "Warum?" und "Wieso wir?". "Wer ist schuld an dieser Tragödie? Weshalb hat man ein ganzes Volk angeklagt?", fragt beispielsweise Daniil. Dennoch erzählen die Kinder auch von kleinen Momenten der Hoffnung. Ganz unerwartet ist sogar vom großen Glück die Rede. Dazu brauche es nicht viel, meint Maxim: "Es reicht zu wissen, dass du noch lebst."
Ein paar Aufsätze von russischen Jugendlichen finden sich auch in dem Band. Sehr viel distanzierter und rationaler machen sie sich auf die Suche nach den Ursachen für die Feindschaft zwischen Tschetschenien und Russland. Sie suchen Antworten in den Geschichtsbüchern oder führen Interviews. Jewgenija hat russische und tschetschenische Frauen und Männer über ihre Haltung zum Krieg befragt. Die Antworten sind ähnlich: Der Krieg sei nicht von den einfachen Menschen, sondern abgehobenen Regierungen gemacht. Geldwäsche, Jagd nach Rohstoffen und Macht werden als Motive für den Konflikt genannt. "Das einfache Volk braucht diesen Krieg nicht, weder unseres noch das tschetschenische", sagt die Russin Olga. Die Interviewten verneinen feindschaftliche Gefühle gegenüber der anderen Nationalität. Die Welt sei nicht in Tschetschenen, Russen, Engländer und Chinesen aufgeteilt. "Die Welt ist in Menschen und Unmenschen untergeteilt", sagt der Tschetschene Alik.
Es ist das Verdienst des Buches, an einen vergessenen Krieg und von der Welt im Stich gelassene Menschen zu erinnern. Zugleich zeigt es auf, dass trotz allen Leidens kein unüberwindbarer Hass zwischen Tschetschenen und Russen entstanden ist. Das macht Hoffnung und könnte Appell an die Politik sein, die Konfliktparteien an den Verhandlungstisch zu drängen. Und sich zu Herzen zu nehmen, was der Acht-Klässler Surab schreibt: "Niemand wird mich je von meiner Überzeugung abbringen, dass das schlimmste Übel auf der ganzen Welt der Krieg ist."
Memorial / Heinrich Böll Stiftung (Hg.): Zu wissen, dass du noch lebst. Kinder aus Tschetschenien erzählen. Aufbau Taschenbuch-Verlag, Berlin 2006; 265 S., 8,95 Euro.