Der Binnenmarktausschuss des Europäischen Parlamentes hat der Versuchung widerstanden, die politische Debatte über den freien Dienstleistungsverkehr in Europa noch einmal zu eröffnen. Mit breiter Mehrheit lehnten die Abgeordneten am 23. Oktober alle Änderungsanträge zu dem zwischen der EU-Kommission, dem Ministerrat und dem Parlament gefundenen Kompromiss über die Dienstleistungsrichtlinie ab.
Die sozialdemokratische Berichterstatterin Evelyne Gebhardt wollte in den Text an elf Stellen "Klarstellungen" einfügen. Damit wollte sie sicherstellen, dass zum Beispiel soziale Dienste oder hoheitliche Berufe dem Wettbewerb nicht ausgesetzt werden. Konservative und Liberale waren dagegen. Die Änderungsanträge hätten den vorliegenden Text "nicht verbessert, sondern zusätzliche Unsicherheiten erzeugt", sagte der Sprecher der konservativen EVP-Fraktion, Malcolm Harbour. Der liberale Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff zeigte sich zufrieden, "dass die Richtlinie nicht weiter verwässert" worden sei. Dagegen kritisierte der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB), dass die bestehenden Arbeits- und Sozialgesetze der Mitgliedstaaten nicht ausreichend geschützt würden.
Evelyne Gebhardt will den Kompromiss in der vorliegenden Form aber nur unterstützen, wenn die Kommission vor der Abstimmung im Plenum Mitte November eine Erklärung abgibt. Binnenmarktkommissar Charlie McCreevy hat zugesagt, die Kommission werde die Dienstleistungsrichtlinie nicht als Hebel benutzen, um in das Arbeits-, Straf- und Sozialrecht der Mitgliedstaaten einzugreifen. Derzeit arbeiten die Beamten der Kommission mit Hochdruck daran, den Kompromisstext zur Dienstleistungsrichtlinie auszulegen.
Bereits im April hatte sie so genannte "Leitlinien" für die Entsendung von Arbeitnehmern in andere EU-Staaten vorgelegt. Sie greifen damit zwei Artikel der Dienstleistungsrichtlinie wieder auf, die vom Parlament gestrichen worden waren. Mit den "Leitlinien für die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleis-tungen" wolle man "den Regierungen der Mitgliedstaaten, Unternehmen und Arbeitnehmern zu einem besseren Verständnis ihrer Rechte und Pflichten verhelfen", sagt Sozialkommissar Vladimir Spidla.
Glaubt man der Kommission, fasst sie nur zusammen, was durch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes bereits geltendes Recht in der Europäischen Union geworden ist. Mit den "Leitlinien" werde es den Betroffenen nur erleichtert, diese Rechtslage zu erkennen. Teure Prozesse vor den nationalen und europäischen Gerichten zur Auslegung der Entsenderichtlinie könnten so vermieden werden.
Die Entsenderichtlinie trat 1999 in Kraft, um Lohndumping vor allem am Bau zu verhindern. Danach müssen zum Beispiel portugiesische Arbeitnehmer, die auf einer Baustelle in Deutschland arbeiten, mindes-tens den niedrigsten deutschen Tariflohn bekommen. Nach Ansicht der Kommission können Behörden von ausländischen Dienstleistungsfirmen verlangen, dass sie sich an bestimmte Kontrollmaßnahmen halten. Sie dürften dabei aber nicht gegen die Grundsätze des freien Dienstleistungsverkehrs im Binnenmarkt verstoßen.
Nach dem in der Europäischen Union geltenden Grundsatz der Nichtdiskriminierung müssen ausländische und inländische Firmen und Arbeiter von den Behörden gleich behandelt werden. Man könnte vom ausländischen Unternehmer nicht verlangen, einen "ständigen Vertreter" im Hoheitsgebiet des Aufnahmelandes bereitzustellen. In Brüssel bezeichnet man es als "absurd", dass sich eine polnische Baufirma, die einen Arbeiter für einen Tag nach Deutschland schickt, einen teuren rechtlichen Vertreter leisten muss. Wer seine Arbeiter zur Erledigung eines Auftrages in ein anders EU-Land schicke, brauche dafür nicht jedes Mal eine Genehmigung einzuholen, sagt die Kommission.
Die Mitgliedstaaten dürften allerdings in bestimmten Sektoren eine "allgemeine Genehmigung" verlangen, wenn das von der Sache her gerechtfertigt sei. So könnten die französischen Behörden von einem deutschen Installateur, der Gasthermen in Frankreich anschließen will, eine einmalige Genehmigung verlangen. Die "Leitlinien" der Kommission haben nicht nur die Gewerkschaften aufgeschreckt. Auch die Lobbyisten arbeitsintensiver Branchen wie Handwerk oder der Bauindustrie haben in Brüssel bereits Alarm geschlagen.