Je mehr ich versuche, die Familienprobleme der Leute zu berücksichtigen, desto motivierter und leistungsfähiger sind meine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen", glaubt Gisela Erler. Die Berliner Unternehmensberaterin hat ein bundesweit tätiges Kinderbetreuungs-Netzwerk entwickelt. Ihr "Familienservice" vermittelt Tagesmütter, aber auch Plätze in Kindergärten und Horten an interessierte Betriebe. Erler propagiert ein Umdenken, eine stärker von privaten Bedürfnissen geprägte Arbeitswelt. Sie hat mitgeholfen, das von der Hertie-Stiftung finanzierte "Audit Beruf & Familie" zu entwickeln. Dort können sich Firmen und öffentliche Einrichtungen zertifizieren lassen, wenn sie eine familienbewusste Personalpolitik betreiben.
Mit ähnlicher Zielrichtung schreibt die Bundesregierung den Wettbewerb "Erfolgsfaktor Familie" aus. Die modische Formel von der "Work-Life-Balance" unterstellt Unternehmen ein profitables Eigeninteresse, wenn Beschäftigte berufliche und persönliche Interessen in ein Gleichgewicht bringen können. Studien betonen, dass beim Thema Familienfreundlichkeit stets alle gewinnen - und argumentieren dabei häufig mit einem bald drohenden Fachkräftemangel. Ganz eigennützig müssten sich Firmen um gut qualifizierte Mütter oder familienorientierte Väter kümmern. Ins Gewicht fielen auch die Einsparungen durch hohe Loyalität und sinkende Fluktuation, denn Personalwechsel seien teuer: Die Kosten für die Wiederbesetzung einer Stelle taxieren die Berater mit anderthalb Jahresgehältern. Fazit: Es lohne sich für jeden Arbeitgeber, Eltern zu helfen, Kind und Beruf unter einen Hut zu bekommen.
Doch die Lust auf Experimente, die sich angeblich betriebswirtschaftlich rechnen, bleibt in der Realität auffällig gering. Wenn familienbewusste Personalpolitik tatsächlich eine Rendite von 25 Prozent erwirtschaften würde, wie eine Modellrechnung des Prog-nos-Institutes behauptet, müssten Mitarbeiter mit Kindern umstellt sein von fürsorglichen Vorgesetzten, die ihre Schwierigkeiten zwischen Beruf und Familie ständig im Auge haben. Dem ist nicht so, im Gegenteil: Ob Mitarbeiter Kinder haben, interessiert in vielen Firmen bestenfalls die Buchhalter in der Personalabteilung.
Elternschaft bleibt am Arbeitsplatz weitgehend unsichtbar. Familiäre Verpflichtungen dürfen vor allem in keiner Weise die betrieblichen Abläufe stören. "Bei mir kommt keiner nach sieben und geht keiner vor sieben" heißt es einschüchternd schon im Bewerbungsgespräch. Wie soll "mehr Spielraum für Väter" entstehen - so hieß vor Jahren eine Kampagne des Bundesfamilienministeriums - wenn gleichzeitig ganz selbstverständlich erwartet wird, zwölf Stunden täglich zu arbeiten und lange Anfahrtswege zu pendeln?
Männliche Mitarbeiter haben stets verfügbar zu sein, während ihren Kolleginnen zumindest informell eher Sonderrechte eingeräumt werden. Mütter können relativ reibungslos in Elternzeit gehen; ihnen fällt es leichter, nach der Babypause eine Reduzierung ihrer Arbeitszeit durchsetzen; bei unvorhersehbaren privaten Problemen wie der Krankheit eines Kindes haben sie eine akzeptierte Begründung, warum sie fehlen. "Hat der denn keine Frau zu Hause?" lautet dagegen die Reaktion, wenn ein Mann auf familiäre Verpflichtungen hinweist.
Es gibt einzelne Betriebe, die nicht nur mütter-, sondern auch väterfreundlich sein wollen. So unterstützt die Frankfurter Commerzbank gezielt Männer bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das geschieht unter anderem durch die Förderung von Vätern, die Teilzeit arbeiten, und durch ein spezielles "Väter-Projekt". Müssen Mitarbeiter unvorhergesehen auf Dienstreise gehen, können sie ihren Nachwuchs kostenlos in der betriebseigenen Betreuungseinrichtung "Kids & Co" abgeben - sogar am Wochenende. Bei schwerer Erkrankung eines Kindes haben Väter wie Mütter das Recht, sich bis zu sechs Monate lang freistellen zu lassen. Ein Monat wird normal entlohnt, erst danach folgt eine unbezahlte Auszeit.
Familienfreundlichkeit gilt bei der Commerzbank als ein Thema, das bis hinauf zur Vorstandsebene verankert ist - und auch in Seminaren für Führungskräfte angesprochen wird. In anderen Firmen dominiert dagegen ein Arbeitsmuster, das private Wünsche und Aufgaben hinten anstellt. Das gilt selbst in Unternehmen, die sich dem Slogan von der Work-Life-Balance verpflichtet haben. Sehr plastisch hat die amerikanische Soziologin Arlie Hochschild die Zwickmühle beschrieben. Ihr Untersuchungsgegenstand, ein prosperierendes Unternehmen im Mittleren Westen der USA, will dem eigenen Anspruch nach seinen Mitarbeitern ermöglichen, persönliche und berufliche Interessen unter einen Hut zu bekommen. Der Konzern wirbt mit flexiblen Arbeitszeiten, Sabbatjahren oder Teilzeit. Als die Wissenschaftlerin aber konkret nachforschte, stellte sich heraus, dass fast niemand diese Angebote nutzt - "ein potemkinsches Dorf", wie es die Autorin nennt.
Ähnliche Erfahrungen sammelte Petra Zimmermann, Leiterin der Familienbildungsstätte in der Autostadt Wolfsburg, mit Managern und Ingenieuren des Volkswagen-Konzerns. Mitte der 90er-Jahre war allen VW-Mitarbeitern zumindest auf dem Papier die 28,8-Stunden-Woche verordnet worden, um Entlassungen zu vermeiden.
Wissenschaftler bescheinigten diesem Arbeitszeitmodell neben seiner beschäftigungssichernden Wirkung auch positive Effekte auf Familie, Partnerschaft und Privatleben. Die Führungskräfte aber, so der Eindruck der Pädagogin, machten weiter wie vorher: "Die freuen sich, wenn sie eine berufliche Perspektive haben und arbeiten dann ohne Ende." Von Balance könne keine Rede sein. "Die flexible Arbeitszeit orientiert sich an den Bedürfnissen der Fabrik, nicht an den Bedürfnissen von Familie." Zimmermann betrachtet das häufige Reden über das Thema als "Deckmäntelchen über den Tatsachen": Es sei "imagefördernd zu sagen, wir kümmern uns darum, dass unsere Mitarbeiter das alles ins Gleichgewicht bekommen".
Nicht nur die Topmanager, auch ganz normale Beschäftigte haben sich nach der vorherrschenden Anwesenheitskultur zu richten. Sie sind zum Beispiel konfrontiert mit "Dinosaur Dads", wie sie in Großbritannien bezeichnet werden: Vorgesetzte mit sehr konventionellem Rollenverständnis. Die Dinosaurier-Väter betrachten die Welt im Licht ihrer eigenen Generations-Erfahrung. Ältere Führungskräfte, die selbst das Hausfrauenmodell praktizieren, machen besonders wenig Zugeständnisse an die privaten Interessen ihrer Untergebenen. Sie verweigern die Wünsche von Männern nach Elternzeit oder reduzieren Arbeitszeiten mit vorgeschobenen Argumenten. Oder es heißt gleich kategorisch: "Diese Stelle ist nicht teilbar." Dabei haben Studien längst nachgewiesen, was dem gesunden Menschenverstand ohnehin einleuchtet: Leute, die kürzer arbeiten, sind besonders effektiv. Sie gehen frischer, gelassener und ausgeruhter ans Werk, sie machen weniger informelle Pausen und bewältigen ein im Vergleich höheres Pensum.
Der Kern des Problems liegt weniger in der Betriebswirtschaft als in der Psychologie. Die "Haltung" zur Arbeit ist ein wichtiger Bestandteil des heimlichen Lehrplans. Der Wunsch, weniger zu arbeiten, wird als Ausdruck von Unzufriedenheit und mangelndem Engagement interpretiert. Wer signalisiert, dass andere Lebensbereiche genauso wichtig sind, gilt als unsicherer Kantonist. Entsprechend sind familienorientierte Lösungen in den meisten Unternehmen nur für Mütter auf niedrigen Hierarchiestufen vorgesehen - Männer und kinderlose Frauen sollen sich ihrem Beruf vollständig verpflichten.