Wer Erika Biehn diese Fragen stellt, sollte ein bisschen Zeit mitbringen - denn die Gefragte kann ziemlich weit zurückblicken. Vor 15 Jahren trat sie zum ersten Mal in ihrer damals noch neuen Funktion vor die Presse: als stellvertretende Vorsitzende der Nationalen Armutskonferenz, eines Zusammenschlusses deutscher Wohlfahrtsorganisationen, die sich mit einem eindringlichen Appell gegen Kürzungen für Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose zu Wort meldete. Im Winter 1991 rechnete Erika Biehn im Auftrag der neu gegründeten Nationalen Armutskonferenz vor, wie viele Menschen von wie wenig Geld leben.
Die Macher der Studie hatten errechnet, dass die Zahl der Sozialhilfeempfänger zwischen 1980 und 1990 um mehr als 75 Prozent gestiegen war und dass die für einen Monat gedachte Sozialhilfe im Schnitt nur 20 Tage reicht. Danach, erzählte Erika Biehn, äßen ihre Empfänger vor allem Kartoffeln, Nudeln, Marmeladenbrote und Puddingsuppen. Spricht man sie heute darauf an, sagt sie: "Neu ist nichts von den Dingen, über die wir zurzeit reden. Es lebten und es leben zu viele Arme in Deutschland. Was neu ist: Man spricht über sie. Das ist höchst erfreulich."
Deutschland ist kein armes Land, 1990 nicht und 2006 nicht - sondern ein hoch entwickelter Industriestaat, in dem auffallend viele Arme leben. Natürlich nicht nach dem Armutsbegriff der Weltbank, laut dem arm ist, wer weniger als einen Dollar pro Tag zur Verfügung hat; ein grausames Schicksal, das mit 1,2 Milliarden Menschen fast jeden fünften Weltbürger trifft. Aber nach der Definition von OECD und Europäischer Union ist auch arm, wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens zur Verfügung hat. In Deutschland ist das jeder, der im Westen weniger als 930 und im Osten weniger als 604,80 Euro im Monat zur Verfügung hat. Allen, die diese Definition nicht akzeptieren wollten, hatte der CDU-Vordenker Heiner Geißler bereits in den 70er-Jahren in seinem Werk "Die neue soziale Frage" mit auf den Weg gegeben, warum sie im Unrecht sind: "Unsere Armen sind nicht in Indien arm, sie sind es hier und jetzt, in der Bundesrepublik Deutschland, im 20. Jahrhundert. Im Verhältnis zur übrigen Gesellschaft sind sie Entrechtete."
Statistisch ist Armut in Deutschland auf dieser Basis gründlich erfasst; es genügt ein Blick in den Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aus dem vergangenen Jahr. 2003 - also noch vor der Einführung von Hartz IV - lebten 13,5 Prozent der Bevölkerung in Armut; bei deutlich steigender Tendenz: Nur ein Jahr zuvor waren es noch 12,7 Prozent und 1998 12,1 Prozent gewesen. Der Bericht sagt auch viel darüber aus, wen Armut in Deutschland vor allem trifft und wirft ein interessantes Licht auf die Frage, warum so wenig Kinder geboren werden. Mehr als ein Drittel der Armen sind Alleinerziehende und ihre Kinder; 19 Prozent Paare mit mehr als drei Kindern. Frauen sind insgesamt häufiger arm als Männer.
Auch wenn Sozialforscher sich schwer tun, Kinder an sich als Armutsrisiko zu definieren, steht fest: Arbeiten mit Kindern ist, gerade in Deutschland, ungleich schwieriger als ohne - und Arbeitslosigkeit ist, wenig überraschend, eine der wesentlichen Ursachen für Armut. Mehr als zwei Drittel der knapp elf Millionen von Armut betroffenen Menschen sind Hartz-IV-Empfänger, also länger als ein Jahr, häufig sogar länger als zehn Jahre ohne Arbeit und meist ohne Aussicht, dass sich daran etwas ändert.
"Hartz IV", das seit Beginn 2005 die ehemaligen Sozial- und Arbeitslosenhilfeempfänger zusammenfasst, soll für inzwischen 7,4 Millionen Menschen das Exis-tenzminimum sichern: mit 345 Euro für Alleinstehende, 311 Euro für Zusammenlebende, 207 Euro für Kinder unter 14 Jahren, 276 für Kinder über 14. Unter denen, die von Hartz IV leben, sind im Verhältnis mehr Städter als Ländler, mehr Migranten als Deutsche, vor allem aber: mehr Ost- als Westdeutsche. In Rostock, Berlin und Leipzig lebt jeder fünfte Einwohner von Hartz IV; in München und Stuttgart nicht einmal jeder zwölfte.
Hartz IV ist aber nicht der einzige Grund für das Abgleiten in Armut. "Immer mehr Menschen kommen mit ihrem Einkommen nicht aus", sagt Erika Biehn, "sie arbeiten in einem oder in mehreren Jobs und es reicht einfach nicht." Das hat damit zu tun, dass die Löhne der Niedrigverdiener binnen zehn Jahren um gerade einmal 0,2 Prozent zugelegt haben. Aber auch damit, dass die "Mc-Jobisierung" um sich greift und immer mehr sich mit wechselnden Jobs irgendwie über Wasser zu halten versuchen.
Für Mehrfachjobber ist der Weg in die Armutsfalle kurz: Jedes Mal, wenn ein Job wegbricht, ist die Exis-tenz nicht mehr gesichert. Wie viele Menschen Mehrfachjobber sind, wird nirgendwo erfasst. Bekannt ist aber, dass immer mehr Menschen - die Schätzungen reichen bis zu 19 Millionen - in "prekären Arbeitsverhältnissen" ohne dauerhaften Vertrag arbeiten; als Mini-, Teilzeit- oder Dauerjobber, Ich-AGler oder Zeitarbeiter. Ein großer Teil ist im "Niedriglohnsektor" beschäftigt und verdient in aller Regel weit unter 10 Euro pro Stunde. Im Gastronomiegewerbe sowie bei Wachschutz und Sicherheitsfirmen sind auch Stundenlöhne unter 5 Euro brutto keine Seltenheit. "Mehrfachjobber leben in ständiger Angst vor dem Absturz", konstatiert auch Gerd Mertens, Mitarbeiter im Bistum Aachen und Autor einer Studie zum Thema "Arm trotz Arbeit". Herausgefunden hat Mertens nicht nur, dass viele Leute Jobs kombinieren, um das Überleben zu sichern - sondern auch, dass sie ihre Finanzen ungern offenlegen. "Wer sich in drei oder vier Jobs durchs Leben schuftet, will nicht auch noch als arm dastehen", sagt Mertens. Der Berliner Schuldnerberater Peter Zwegat fügt hinzu: "Sie können sich nicht vorstellen, wie tabuisiert in vielen Familien jede Unterhaltung über das tatsächliche Einkommen ist."
Diese Menschen beschönigen die Armuts- und Hartz-IV-Statistik noch. Einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung zufolge nehmen mehrere Millionen Bedürftige ihren Anspruch auf staatliche Hilfen nicht wahr. Kurz nachdem die Friedrich-Ebert-Stiftung im Westen vier und im Osten 25 Prozent als "abgehängtes Prekariat" identifizierte, machte die gewerkschaftsnahe Stiftung mit der Meldung aufmerksam, knapp zwei Millionen Erwerbstätige ließen ihren geringen Verdienst nicht "aufstocken" und lebten in verdeckter Armut. Das Fazit der Stiftung: Nicht Leistungsmissbrauch von medienwirksamen Ausnahmefällen wie "Florida-Rolf" oder "Viagra-Kalle" seien verbreitet, sondern Menschen, die für ein Mini-Einkommen arbeiten und sich damit zufrieden geben. Außer Teilzeit- und Mehrfachbeschäftigten haben die Forscher auch 1,5 Millionen Menschen identifiziert, die trotz Vollzeiteinkommen bedürftig sind.
Armut in Deutschland hat also ganz verschiedene Gesichter - ganz besonders häufig allerdings eines, dass noch sehr jung ist: Zehn Prozent der Kinder sind arm; eine Zahl, von der das UN-Kinderhilfswerk UNICEF im vergangenen Jahr herausfand, dass sie in Deutschland stärker steigt als in den meisten anderen Industriestaaten. Schon in den 90er-Jahren stieg die Kinderarmut um 2,7 Prozent auf 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche.
Seit der Einführung von Hartz IV sind 2,5 Millionen Minderjährige gezwungen, vom Existenzminimum zu leben. Auch hier gilt: In Ostdeutschland ist Kinderarmut mit 12,3 Prozent höher als in Westdeutschland (9,8 Prozent); dafür steigt sie im Wes-ten schneller als im Osten. Am schnellsten steigt die Armut bei Kindern von Zuwanderern - sie hat sich binnen zehn Jahren von fünf auf 15 Prozent verdreifacht.
Hinter den Zahlen steckt eine Wahrheit, die in ihrer Dramatik kaum zu überschätzen ist. Jede Armut ist mehr als nur der Mangel an Geld, führt zu emotionaler, kultureller und sozialer Armut, zu Frustration und Desinteresse und zu ständig sinkenden Chancen auf Veränderung. Die Armut von Kindern führt aber häufig geradewegs in die lebenslange Chancenlosigkeit. Wer arm ist, kann nicht nur nicht ins Schwimmbad oder auf Klassenfahrt und wird von seinen Mitschülern gehänselt, weil er die falschen Klamotten trägt. Kinder, die in Armut aufwachsen, haben schlicht nicht die Möglichkeiten, in ihr Leben einzusteigen: Ihnen fehlen Bücher zum Lesen, der eigene Tisch für die Hausaufgaben, der Apfel für die Konzentration. Mit drei, häufig aber erst mit sechs geraten sie in ein Bildungssystem, das so wenig wie kein anderes in einem OECD-Staat im Stande ist, ihre Herkunft vergessen zu machen. Vergleicht man die soziale Herkunft der Schüler mit der Schule, die sie besuchen, sieht man, wie wenig Ausgleich stattfindet: Jeder zweite Hauptschüler stammt aus einem armen Haushalt - aber nur jeder elfte Gymnasiast. Anders gesagt: Von 100 armen Kindergartenkindern schaffen vier später den Sprung aufs Gymnasium.
Auch der Zusammenhang von Vernachlässigung und Armut lässt sich in erschütternder Deutlichkeit belegen: Jeder fünfte Hauptschüler aus einem armen Haushalt wird zu Hause misshandelt; unter nicht-armen Gymnasiasten müssen fünf Prozent diese Tortur durchmachen. "Die Verbreitung von Gewalt in der Unterschicht kann kaum überschätzt werden", sagt der Hannoveraner Kriminologe Christian Pfeiffer, "und auch nicht die verheerenden Auswirkungen auf die Geschlagenen."