Das Parlament: Wie definieren Sie Kinderarmut?
Rauschenbach: In der öffentlichen Debatte wird Kinderarmut an der Frage festgemacht, ob die Eltern ALG-II-Empfänger sind oder ob für die Kinder Sozialgeld bezahlt wird. Dabei geht es schlicht um die ökonomischen Rahmenbedingungen der jeweiligen Familie. Für Kinder hingegen einen eigenen Armutsbegriff zu entwickeln, ist relativ kompliziert. Das liegt daran, dass wir Dinge, die über den ökonomischen Aspekt hinausgehen - etwa Teilhabearmut oder kulturelle Armut -, bei drei- oder fünfjährigen Kindern relativ schlecht operationalisieren können. Erst im späteren Alter kann man sehen, etwa wenn ein 16-Jähriger keinen Schulabschluss hat oder nicht integriert ist, dass auch junge Menschen gefährdet sind, kulturell und sozial zu verarmen.
Das Parlament: Wie viele Kinder sind in Deutschland von Armut betroffen?
Rauschenbach: Auch das ist eine Frage der Definition und der Altersbegrenzung. National gelten junge Menschen bis 14 Jahre als Kinder, international zum Teil bis 18 Jahre. Nimmt man als Indikator den Bezug von Sozialgeld, dann ist man bei 1,7 bis zwei Millionen Kindern. Das sind die letzten mir bekannten Zahlen, die sich allerdings ständig ändern. Aus meiner Sicht geht es aber nicht streng um eine Zahl, sondern um den unstrittigen Befund: In Deutschland sind Kinder überdurchschnittlich stark von Armut betroffen.
Das Parlament: Wie kommt das?
Rauschenbach: Man hat sich lange auf andere Bereiche konzentriert und unterstellt, dass Familien auch allein ganz gut in der Lage sind, sich um ihre Kinder zu kümmern. Im Gegensatz dazu wurde etwa im Bereich der Rentenpolitik über 20 oder 30 Jahre lang mehr getan - mit dem Ergebnis, dass ältere Menschen nicht mehr in der gleichen Armutsfalle sind, wie das noch früher der Fall war und heute vor allem für Alleinerziehende gilt. Wir haben politisch lange Zeit einen monetär gestalteten Generationenvertrag mit den Älteren im Blick gehabt. Der Generationenvertrag mit den Jüngeren wurde demgegenüber privatisiert und den Eltern überlassen.
Das Parlament: Wie sehen Sie den Zusammenhang von Armut und Bildung?
Rauschenbach: Auf der einen Seite können wir ökonomische Armut nicht dadurch verhindern, dass wir alle Menschen bilden. Das sieht man immer in Krisenzeiten einer Gesellschaft, so etwa im Deutschland der Nachkriegszeit: Damals waren viele nicht ungebildet und mussten dennoch unter schwierigen ökonomischen Bedingungen leben. Andererseits kann man aber auch - aus der historischen Perspektive - sehen, dass Bildung die große Chance der Demokratisierung der Gesellschaft war. Durch Bildung hatten einfache Schichten die Möglichkeit, einen Schulabschluss zu machen. Diese Grundqualifikation gab ihnen die Möglichkeit, in der Gesellschaft eine andere Position einzunehmen. Deswegen würde ich immer sagen: Für eine Kinder-, eine Jugend-, eine Familienpolitik muss Bildung die zentrale Herausforderung sein, mit der man versucht, den Teufelskreis aus ökonomischer Armut und individueller Zukunft zu durchbrechen. Damit haben Betroffene zwar noch keinen Arbeitsplatz - aber eine deutlich bessere subjektive Möglichkeit, in der Gesellschaft für ihre eigene Existenz sorgen zu können.
Das Parlament: Wie muss die Bildung aussehen?
Rauschenbach: Sie muss umfassend sein. Unbemerkt ist sie in den letzten Jahren in Deutschland weitgehend auf schulische Bildung reduziert worden. Wir haben verlernt, wahrzunehmen, dass Bildung eine umfassende kulturelle, soziale und personale Persönlichkeitsbildung ist. Eine solche Persönlichkeitbildung lehrt mich, meine eigenen Spannungen zu ertragen, mit meinen Ängsten umzugehen, auf andere zuzugehen, nicht gleich zuzuschlagen, wenn Aggressionen aufkommen. Das ist eine praktische Lebenskompetenz, bei der es nicht nur darum geht, alles zu wissen, sondern auch, es umzusetzen.
Das Parlament: Was kann Politik tun, um Kinderarmut zu senken?
Rauschenbach: Sie muss auf der einen Seite Sozialpolitik so konzipieren, dass eine verbesserte Verteilungsgerchtigkeit zwischen den Generationen hergestellt wird und so Kinder aus Armutsfallen herauskommen. Andererseits können wir Armut von Kindern langfristig vermeiden, wenn wir sie so ausstatten, dass sie lernen, ihr Leben selbstverantwortlich zu regulieren. Es wird immer Situationen geben, in denen Staat und Gesellschaft helfen müssen, aber wir haben heute viele Probleme, die sich daraus ergeben, dass junge Menschen ihren Alltag nicht organisieren oder mit Geld umgehen können. Nötig sind eine ökonomische und eine soziale Alphabetisierung. Setzen wir da an, können heutige Kinder morgen und übermorgen als Erwachsene ein Stück Verantwortung übernehmen.
Das Interview führte Sandra Ketterer