Nur auf der dritten Empore, neben den pausbäckigen Engeln mit den goldenen Flügeln ist noch Platz. Dicht an dicht drängen sich die Delegierten des CDU-Parteitages in den neuen Holzbänken der Frauenkirche in Dresden. Gerade erst hat der frühere CDU-Chef Wolfgang Schäuble der Partei in einem Interview attestiert, sie sei unbestreitbar verunsichert. Vielleicht sind deshalb so viele zur frühmorgendlichen Stunde gekommen - Beten lernt man in Nöten, heißt es bekanntlich im Volksmund. Aber vielleicht ist es bei dem traditionellen ökumenischen Gottesdienst zu Beginn des Konvents auch eher deshalb so voll, weil er Gelegenheit gibt, das wiederaufgebaute Wahrzeichen der Elbmetropole zu bewundern.
Der Chor singt "Herr, lehre mich tun nach deinem Wohlgefallen", eine Motette von August Gottfried Homilius aus dem 18. Jahrhundert für vier gemischte Stimmen. Die gemischten Stimmen der Partei sitzen an diesem Morgen des 27. November einträchtig beieinander. Hessens Ministerpräsident Roland Koch nimmt links neben dem nordrhein-westfälischen Regierungschef Jürgen Rüttgers Platz, der die erste Reihe fünf Minuten lang für sich allein genießen durfte. Dann kommt sein niedersächsischer Amtskollege Christian Wulff. Für die Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende Angela Merkel bleibt der Platz links außen. Wulff, Koch und Rüttgers müssen etwas rücken, damit sie sich setzen kann. Das Symbolträchtige dieser Situation erschließt sich erst später an diesem Tag, als klar ist, dass die Vorstandswahlen den Abstand von Merkel zu ihren ehrgeizigen Kronprinzen vergrößert.
Der Pfarrer der Frauenkirche, Holger Treutmann, eröffnet den Gottesdienst im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Rüttgers, Koch und Wulff, alle katholisch, machen - wie die Mehrheit im Rund - das Kreuzzeichen, Merkel, evangelisch, nicht. Noch immer wirkt die Protestantin aus dem Osten in den Reihen rheinisch-katholisch geprägten CDU ein wenig fremd. Bei der Predigtzeit ist das Verhältnis beider Konfessionen ausgeglichener. Sowohl der evangelische Landesbischof Jochen Bohl als auch der katholische Bischof Joachim Reinelt sprechen zehn Minuten lang von der Kanzel zu den Gottesdienstbesuchern. Ihr Thema: das Gleichnis Jesu Christi über den neuen Wein in alten Schläuchen. Bohl erwähnt anknüpfend an das Markus-Evangelium die Schwierigkeit, "das als richtig Erkannte in kleinen und kleinsten Schritten umzusetzen". Hört sich fast so an, als habe Merkel ihm das diktiert. Falls sie sich über den bischöflichen Beistand freut, so ist ihr dies aber nicht anzumerken. Merkel schaut ernst. Auch, als Bischof Reinelt sich für das "Geschenk" bedankt, dass die CDU ihren Parteitag mit einem Gottesdienst begonnen hat. Reinelt ermuntert die CDU, sich öffentlich zum christlichen Glauben zu bekennen. Die in der Frauenkirche versammelten Christdemokraten antworten mit dem Lied "Wir glauben all an einen Gott." Die Partei singt inbrünstig.
Ortswechsel. Vom Gottesdienst geht es zur Messe. Merkel greift in ihrer Parteitags-Grundsatzrede Reinelts Worte auf. "Das ‚C' ist konstitutiv für unsere Partei", sagt sie und lenkt den Blick selbst auf die Gerechtigkeitsfrage, die diesen Parteitag prägen wird. Natürlich wisse sie, dass Unternehmen Gewinne brauchen. Aber: "Für uns steht der Mensch im Mittelpunkt. Das ist der Auftrag des christlichen Menschenbildes." Die "Dramatik der heutigen ökonomischen Herausforderungen" sei mit den Umwälzungen vor 200 Jahren von der feudalen Agrarwirtschaft zur modernen Industriegesellschaft zu vergleichen, hebt Merkel hervor. Ihre Schlussfolgerung: Es müsse der Union gelingen, "die Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft wirklich anzugehen und zu bewältigen".
Merkels Antworten dazu bleiben vage: Investivlohn als neuer Weg "für mehr Beteiligungsgerechtigkeit", Arbeit für alle als "Kernstück sozialer Gerechtigkeit". Offen bleibt auch, wie weit Dresden von Leipzig entfernt ist, wo die CDU auf ihrem Parteitag 2003 den Reformmotor brummen ließ und die Weichen für ein einfaches Steuersystem und die Kopfpauschale in der Gesundheitsversicherung stellte. Will Merkel den christlich-sozialen Flügel der Union stärken, von dem der nordrhein-westfälische Arbeitsminister, Karl-Josef Laumann meint, er sei in den vergangenen Jahren "untergepflügt" worden? Die Delegierten scheinen es nicht so genau zu wissen und klatschen vorsichtig.
Für Hans-Otto Hille vom Kreisverband Olpe im nordrhein-westfälischen Sauerland ist die Sache klar. "Wir orientieren uns an der katholischen Soziallehre", betont er. Da ist sie, die starke Säule des rheinischen Kapitalismus aus alten Bonner Tagen. Für Hille ist sie hoch aktuell. Man bekomme "ein anderes Verhältnis zu den Themen, wenn man mit Menschen spricht", sagt der Mann von der Parteibasis. Zum Beispiel mit einem Arbeitslosengeld-II-Empfänger, der zuvor 30 Jahre lang geschuftet und sich etwas für die Rente zurückgelegt habe und nun wegen Hartz IV "alles weggeben" müsse. Solche Schicksale greife "der Rüttgers" auf, fügt er hinzu. Der NRW-Landeschef hat mit seinem Vorschlag, die Bezugszeit des Arbeitslosengeldes I für Ältere zu verlängern, einen Nerv der Delegierten getroffen und die Vorlage zu einer Diskussion auch und gerade um die christlichen Grundlagen der CDU geliefert. Es geht um nicht weniger als Gerechtigkeit als christliches Grundgut und ihren Stellenwert in der Partei.
Anna-Maria Willms vom Kreisverband Coesfeld hält deshalb eine Ergänzung der Leipziger Beschlüsse für notwendig. Aus ihrer Sicht müsse Politik immer mit der Würde des Menschen vereinbar sein. Genau das vertrete Rüttgers. Der erzählt gerade am Rednerpult von der Pleite des Handy-Herstellers BenQ. "Ich habe in die Augen der Menschen gesehen und gesehen, dass sie Angst haben", sagt er. "Wir brauchen Reformen, dafür steht Leipzig. Aber Dresden kann dafür sorgen, dass es dabei gerecht zugeht", donnert er sein Credo in den Saal. Die Delegierten applaudieren zurückhaltend.
Der Innenminister von Baden-Württemberg, Heribert Rech, runzelt die Stirn. "Leipzig ist nicht unchristlich gewesen", sagt er. Der Konvent 2003 sei weit voraus denkend gewesen, gewiss, aber es gelte, "sozial ist, was Arbeit schafft". Das könne erreicht werden, indem zum Beispiel das Kündigungsschutzrecht gelockert werde, wofür sein Landesverband eintritt. Nach kurzem Nachdenken fügt Rech hinzu, offenbar gebe es auch in der Partei die Sehnsucht, angesichts der derzeitigen Umfragewerte etwas "auf die Bremse zu treten". Wie Rech kann auch die Landrätin des Landkreises Sonneberg in Thüringen nichts Unchristliches in den Beschlüssen von Leipzig erkennen. "Mitnichten"sei dies so gewesen, betont sie. Der "soziale Touch" der Partei sei doch gerade das, was das Christliche der Partei ausmache, und zwar nicht erst hier in Dresden.
Einen Tag später entlässt Merkel ihre Partei mit einem eindringlichen Appell. "Mein Credo ist, dass wir nicht die Grundwerte gegeneinander ausspielen", sagt sie zum Abschluss des Parteitages. In den nächsten Wochen und Monaten wird sich zeigen, ob die Parteivorsitzende damit in den eigenen Reihen Gehör findet. Schließlich geht es bei der Formulierung des neuen Parteiprogramms um einen neuen Grundkonsens. Die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) sieht sich - nunmehr mit fünf Vertretern im Parteivorstand vertreten - jedenfalls für die Debatten personell gestärkt. Das Ringen um die Bedeutung des großen "C" hat offenbar gerade erst begonnen.