Eine große Koalition aus Sozialisten, Liberalen und Konservativen war offensichtlich heilfroh, das Thema endlich vom Tisch zu haben. Mehr als siebzig Prozent der Abgeordneten stimmten trotz zahlreicher Bedenken mit Ja. Viele der Änderungsanträge der Grünen seien ihm sehr sympathisch, gestand der italienische Berichterstatter Guido Sacconi (PSE). Doch wenn der Kompromiss aufgeschnürt werde, drohe ein monatelanges Vermittlungsverfahren. Er habe bereits mit fünf Ratspräsidentschaften und zwei EU-Kommissionen über REACH (Registrierung, Evaluierung und Autorisierung von Chemikalien) gestritten und wolle nun endlich zum Ende kommen.
Umweltverbände kritisieren die neue Verordnung als zahnlos. Sie hatten ein Gesetz gefordert, das die Produzenten zwingt, giftige Stoffe nach einer bestimmten Übergangsfrist durch umweltverträgliche und gesundheitsschonende Alternativen zu ersetzen. Laut Kompromisstext müssen die Hersteller nur belegen, dass eine "adäquate Kontrolle" besteht, weil ein Stoff zum Beispiel nur als Zwischenprodukt im Herstellungsverfahren auftritt. Sie müssen zwar nachweisen, dass sie nach Alternativen forschen - aber ohne Frist. Die Kritik von Konservativen und Liberalen geht genau in die entgegengesetzte Richtung. Sie sagen vo- raus, dass kleine und mittlere Unternehmen ins Hintertreffen geraten werden, weil sich die aufwändigen Labortests bei kleinen Produktionsmengen nicht rentieren.
Da das ganze Registrierungs- und Autorisierungsverfahren zeitaufwändig und teuer ist, boten die Lobbyisten der Chemischen Industrie zunächst alle Kräfte auf, um Kommissionsmitarbeiter und Abgeordnete davon zu überzeugen, dass hunderttausende von Arbeitsplätzen in der Branche in Gefahr seien. Inzwischen scheinen die großen Unternehmen ihren Frieden mit REACH gemacht zu haben. Da sie über eigene Forschungsabteilungen verfügen, können sie die Auflagen der Verordnung wesentlich leichter erfüllen als kleine und mittlere Unternehmen. Ein Beitrag zu weniger Brüsseler Bürokratie wird die neue Verordnung aber ganz sicher nicht. Experten aus der Kommission schätzen, dass die Ausführungsbestimmungen zu dem neuen Gesetz 20.000 Seiten umfassen werden.
Was es für Konsequenzen hat, wenn eine Produktkomponente durch eine weniger giftige Substanz ersetzt werden muss, lässt sich am Beispiel Mobiltelefon gut zeigen: Die 30.000 Komponenten, aus denen das Produkt hergestellt wird, stammen von 400 Zulieferern, die sich von 50.000 Herstellern mit Grundstoffen versorgen lassen. Verfolgt man die Produktkette zurück, stößt man auf 500.000 beteiligte Betriebe, viele davon außerhalb Europas. Sie alle müssen die Auflagen der Chemieagentur respektieren. Für fertige Produkte, die außerhalb der EU hergestellt wurden, gilt die Verordnung hingegen nicht. Es ist also abzusehen, dass viele Unternehmer ihre Betriebe lieber außerhalb der EU verlagern, statt sich mit den Unwägbarkeiten der neuen Chemiegesetzgebung herumzuschlagen.
Die unterschiedliche Haltung zu REACH geht im Europaparlament quer durch die Parteien. So lobte der britische Liberale Chris Davies die neue Verordnung als "gelungene Abwägung zwischen den Wirtschaftsinteressen der chemischen Industrie und der Notwendigkeit, die menschliche Gesundheit und die Umwelt besser vor Chemikalien mit unbekannten Langzeitwirkungen zu schützen". Sein deutscher Fraktionskollege Alexander Graf Lambsdorff bedauerte dagegen, dass man bei den Anforderungen für kleine und mittlere Unternehmen, für die besonders der Bereich bis 100 Tonnen Jahresproduktion kritisch ist, nicht mehr Augenmaß habe walten lassen. "Sie könnten die Verlierer der neuen Chemikalienordnung sein."
In der EU bestehen große Interessengegensätze zwischen Ländern wie Deutschland, wo es große Chemiestandorte gibt, und den nordischen Staaten, deren Anteil an diesem Produktionszweig gering ist. Auch die Lobby der Umweltschützer und die Verfechter indus- triefreundlicher Standortbedingungen stehen sich unversöhnlich gegenüber. Da Regierungen, EU-Parlament und Kommission keinen Weg aus diesem Inte- ressendschungel fanden, ließen sie in der Verordnung viele entscheidende Fragen offen - und verlagerten die Konflikte auf die neue Prüfstelle in Helsinki.