155. Sitzung
Berlin, Freitag, den 11. April 2008
Beginn: 09.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie herzlich zu unserer heutigen Plenarsitzung, deren erster Tagesordnungspunkt ganz sicher eine besonders breite öffentliche Aufmerksamkeit finden wird.
Hiermit rufe ich die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 e auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ulrike Flach, Rolf Stöckel, Katherina Reiche (Potsdam) und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für eine menschenfreundliche Medizin - Gesetz zur Änderung des Stammzellgesetzes
- Drucksache 16/7982 (neu) -
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)
- Drucksache 16/8658 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Eberhard Gienger
René Röspel
Cornelia Pieper
Dr. Petra Sitte
Priska Hinz (Herborn)
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hubert Hüppe, Marie-Luise Dött, Maria Eichhorn und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines ? Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit menschlichen embryonalen Stammzellen (Stammzellgesetz - StZG)
- Drucksache 16/7983 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)
- Drucksache 16/8658 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Abg. Eberhard Gienger
René Röspel
Cornelia Pieper
Dr. Petra Sitte
Priska Hinz (Herborn)
c) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten René Röspel, Ilse Aigner, Jörg Tauss und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Stammzellgesetzes
- Drucksache 16/7981 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)
- Drucksache 16/8658 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Eberhard Gienger
René Röspel
Cornelia Pieper
Dr. Petra Sitte
Priska Hinz (Herborn)
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz (Herborn), Julia Klöckner, Dr. Herta Däubler-Gmelin und weiterer Abgeordneter
Keine Änderung des Stichtages im Stammzellgesetz - Adulte Stammzellforschung fördern
- Drucksachen 16/7985 (neu), 16/8658 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Eberhard Gienger
René Röspel
Cornelia Pieper
Dr. Petra Sitte
Priska Hinz (Herborn)
e) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Priska Hinz (Herborn), Julia Klöckner, Dr. Herta Däubler-Gmelin und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Stammzellgesetzes
- Drucksache 16/7984 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)
- Drucksache 16/8658 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Eberhard Gienger
René Röspel
Cornelia Pieper
Dr. Petra Sitte
Priska Hinz (Herborn)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eindreiviertel Stunden vorgesehen. Diese Zeit soll nach dem Stärkeverhältnis der Unterzeichner der Vorlagen verteilt werden. - Dazu besteht unter allen Antragstellern Einvernehmen.
Da eine große Anzahl von Redewünschen vorliegt, welche bei einer naturgemäß begrenzten Zeit für die Aussprache nicht voll berücksichtigt werden kann, haben sich die Parlamentarischen Geschäftsführer darauf verständigt, dass die Reden der Kolleginnen und Kollegen, deren Redewunsch innerhalb dieses Zeitrahmens nicht berücksichtigt werden kann, zu Protokoll gegeben werden können. Ich vermute, dass Sie mit dieser Vereinbarung einverstanden sind. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne haben die Mitglieder des Deutschen Ethikrates Platz genommen. Ich begrüße Sie sehr herzlich als Gäste unserer Debatte, an die sich die konstituierende Sitzung des Ethikrates anschließen wird.
Die heutigen Beratungen des Bundestages zur Stammzellforschung sind erkennbar eng mit Ihrer künftigen Aufgabe verbunden, Regierung und Parlament in ethischen Fragen zu beraten. Im Namen des ganzen Hauses wünsche ich Ihnen für diese wichtige und gleichzeitig schwierige Aufgabe Erfolg und vor allen Dingen die Weitsicht und Besonnenheit, ohne die dieser Erfolg ganz sicher nicht zustande kommt.
Ich eröffne nun die Aussprache und erteile zunächst der Kollegin Dr. Annette Schavan das Wort.
Dr. Annette Schavan (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland haben ebenso ethische Überzeugungen wie wir.
Sie stehen in Deutschland mit ihrer Arbeit auf dem Wertefundament, das sich auch in unserer Verfassung findet. Sie sind keine bloßen Interessenvertreter.
Zugleich wissen sie, dass wir ihre Argumente bei Gesetzgebungsverfahren sorgsam prüfen müssen. Deshalb sollte unter uns auch klar sein, dass bei der Auseinandersetzung über die Novellierung des Stammzellgesetzes nicht auf der einen Seite nur Interessen bei jenen im Spiel sind, die sich für eine Veränderung aussprechen, und auf der anderen Seite Moralität bei denen vorherrscht, die gegen jede Veränderung sind.
Schon mit dem bestehenden Stammzellgesetz war der schwierige Prozess verbunden, Positionen miteinander zu verbinden, die sich eigentlich nicht verbinden lassen. Das ging nur über den Weg der Abwägung. Der jetzige Inhalt des Gesetzes - er ist unbestritten, unabhängig vom Antrag, der heute vorliegt - bedeutet die Verbindung von Lebensschutz und einem schmalen, streng definierten Korridor für die Forschung. Er war nur möglich, weil klargestellt wurde, dass es keinen Anreiz für die Herstellung menschlicher Embryonen für die Forschung geben darf und auch keine Anreize zum Verbrauch von menschlichen Embryonen gegeben werden dürfen. Deshalb gibt es den Stichtag in der Vergangenheit.
Die Forschung - diese Frage hat in den vergangenen Wochen eine herausragende Rolle gespielt - gewinnt embryonale Stammzelllinien aus solchen Embryonen, bei denen die Entscheidung bereits getroffen wurde, sie nicht für eine Schwangerschaft einzusetzen, also solche, denen die Voraussetzung zum Leben bereits genommen ist. Es ist nicht die Entscheidung der Forschung; es ist eine Entscheidung, die vorher getroffen wurde.
Wir entscheiden heute, wenn wir über eine Stichtagsverlegung sprechen, nicht darüber, ob aus überzähligen Embryonen Stammzellen gewonnen werden dürfen. Wir entscheiden auch nicht, ob der Import solcher im Ausland gewonnenen Stammzellen erlaubt sein soll. Beides gehört zum Inhalt des bestehenden Gesetzes.
Ich sage an dieser Stelle ausdrücklich: Wir diskutieren auch nicht über das Embryonenschutzgesetz. Es ist unbestritten, und - das sage ich für mich persönlich noch einmal ausdrücklich - das ist der umfassendste Schutz der Embryonen, wie ich es schon in meiner letzten Rede ausgeführt habe. Dabei bleibt es. Das ist das Fundament aller Überlegungen, die wir anstellen. Das steht nicht zur Debatte.
Wer wie ich findet, dass eine Verlegung des Stichtags auf ein neues, wiederum in der Vergangenheit liegendes Datum verantwortbar ist, ist sich auch bewusst, dass das aus der jetzigen Gesetzeslage resultierende ethische Dilemma nicht aufgelöst wird. Ich bin aber zugleich der Meinung, dass wir dieses Dilemma nicht vergrößern, und halte eine kleinstmögliche Veränderung des Gesetzes für eine Weiterentwicklung dieses Gesetzes. Wer das als Liberalisierung bezeichnet, der wertet. Aber der Vorgang besteht letztlich darin, in der Logik des Gesetzes eine Weiterentwicklung zu ermöglichen, die den schmalen Korridor, der damals gewollt wurde, auch in Zukunft erhalten wird.
In den vergangenen Wochen und bis in die letzten Stunden hinein ist immer wieder die Frage gestellt worden, ob für den Erfolg ethisch unbedenklicher Forschung tatsächlich der Vergleich mit embryonalen Stammzelllinien zwingend sei, da es Stammzellforschung und Zelltherapien gibt, die diesen Vergleich nicht brauchen. Ich sage ausdrücklich: Das ist unbestritten. Seit 30 Jahren gibt es Zelltherapien. Natürlich braucht nicht jeder - weder in der medizinischen Forschung noch in der Grundlagenforschung - Vergleiche.
Aber für jene, die reprogrammieren, ist die Überprüfung ihrer Ergebnisse mit qualitativ besseren embryonalen Stammzelllinien notwendig. Das sage ich ausdrücklich. Wer den Vergleich aus ethischen Gründen ablehnt, möge daraus nicht automatisch den Schluss ziehen, dass er auch sachlich nicht nötig ist. Der Vergleich ist gerade da unerlässlich, wo die Schwerpunkte unserer Forschungsförderung liegen, nämlich neue Wege der Gewinnung pluripotenter Stammzellen zu ermöglichen.
Aus all dem ergibt sich für mich nach gewissenhafter Prüfung der Argumente, dass eine Verschiebung des Stichtags auf einen neuen Zeitpunkt in der Vergangenheit verantwortbar ist, um den schmalen Korridor für die Forschung zu erhalten, der im Stammzellgesetz von 2002 vorgesehen ist. Mir geht es vor allem um jene Forschergruppen, die mit ihrer Arbeit dazu beitragen, dass wir dauerhaft zu einer Stammzellforschung kommen können, die ohne den Verbrauch menschlicher Embryonen zur Gewinnung von Stammzelllinien auskommt.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Dr. Maria Böhmer.
Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute um mehr als eine Gesetzeskorrektur. Es geht um eine grundsätzliche Entscheidung. Wir entscheiden heute darüber, ob dem Stammzellgesetz seine innere Logik und seine Substanz genommen werden.
Der Deutsche Bundestag hat im April 2002 mit großer Mehrheit Nein zur verbrauchenden Embryonenforschung gesagt. Das ist der Kern des Stammzellgesetzes.
Bleibt es dabei, oder kommt es zu einem ethischen Kurswechsel, zu einem Dammbruch beim Embryonenschutz?
Um nichts anderes geht es bei der Frage, ob der Stichtag Bestand hat, verschoben oder aufgehoben wird. Mit unserem Antrag auf Beibehaltung des einmal gefundenen Stichtages hat der Embryonenschutz Bestand.
Der einmal festgelegte Stichtag ist die Wasserscheide; denn der Stichtag unterscheidet zwischen dem, was wir in Zukunft verhindern wollen, und dem, was wir nicht mehr ändern können. Er unterscheidet zwischen dem Blick zurück, auf die Herstellung von Stammzelllinien aus Embryonen im Ausland ohne unser Zutun, und dem Blick nach vorne in die Zukunft, in der keinerlei Anreize für die Zerstörung von Embryonen zu Forschungszwecken von Deutschland ausgehen sollen, weder innerhalb noch außerhalb der deutschen Grenzen. Das Stammzellgesetz stärkt damit den Embryonenschutz. Es bekräftigt den Grundgedanken: Keine Verzweckung menschlichen Lebens! Bei diesem Leitgedanken muss es bleiben.
Wenn der Gesetzgeber, wenn wir heute den Stichtag verschieben, dann ist diese Eindeutigkeit dahin. Auch wenn immer wieder betont wird, die Verschiebung sei einmalig: Im Ausland würde eine solche Entscheidung als Signal gewertet, dass wir bereit sind, die ethischen Grenzen zu verschieben, wenn die Forschung nur laut genug danach verlangt. Das heißt Anreize setzen.
Im letzten Jahr habe ich Hans Schöler in seinem Institut in Münster besucht. Ich habe ihn gefragt: Gesetzt den Fall, der Deutsche Bundestag würde den Stichtag verschieben, was ist dann in einem Jahr oder in zwei Jahren? Fordern Sie dann erneut eine Verschiebung? Er hat mir mit einem ehrlichen Ja geantwortet. Er hat dies in der Anhörung im Forschungsausschuss vor Ostern bekräftigt. Ich finde, das schafft Klarheit. Machen wir uns nichts vor: Wenn der Bedarf einmal Grund für eine Verschiebung ist, kann er es auch ein zweites und drittes Mal sein. Dann sind wir auf der schiefen Ebene.
Dann hält nichts mehr. Der Stichtag würde zur Schamfrist. Dazu sage ich ein klares Nein.
Ich spreche hier und heute auch für die beiden anderen Autorinnen des Stammzellgesetzes, für Margot von Renesse und Andrea Fischer. Wir haben uns gestern in der Zeit gemeinsam gegen eine Verschiebung ausgesprochen. Damals, im Jahr 2002, sind wir drei aus unterschiedlichen Richtungen, mit unterschiedlichen Vorstellungen aufeinander zugegangen. Aber wir waren uns in einem Punkt einig: Formelkompromisse dienen dieser Frage nicht. Wir haben uns grundsätzlich verständigt. Drei Kernpunkte machen diese grundsätzliche Verständigung aus: Wir haben Rechtsfrieden erreicht. Das ist durch den Schutz des Embryos von Anfang an und die Ermöglichung von Grundlagenforschung gelungen, die strengen ethischen Auflagen genügt. Diese Grundlagenforschung ist heute möglich und wird weiterhin möglich sein; ich stehe dazu. Dafür stehen auch die fünf neuen Genehmigungen des Imports von sogenannten alten Stammzelllinien. Das zeigt, wie viel Dynamik in der Forschung ist und dass das Gesetz nach wie vor funktioniert.
Ich will Ihnen aber auch sagen, dass wir in einem Punkt Handlungsbedarf sehen, und zwar von Anfang an. Deutsche Forscher, die sich im Ausland mit den dort erlaubten Mitteln an Forschung beteiligen, sollen nicht mehr mit strafrechtlichen Sanktionen rechnen müssen. Das ist Gegenstand des Gesetzentwurfs, der heute zuletzt zur Abstimmung steht. Dieses Gesetz dient der Rechtssicherheit und stärkt die legale Forschung. Aber weitere Änderungen sind ethisch nicht zu rechtfertigen.
Ich weiß, dass sich niemand im Deutschen Bundestag die Entscheidung leicht macht. Heute wie damals ringen wir um die Entscheidung. Das zeichnet diese Debatte aus. Heute wie damals ringen wir darum, den Schutz des menschlichen Lebens von Anfang an zu gewährleisten und zugleich Grundlagenforschung zu ermöglichen. Es geht heute darum, die eigenen Maßstäbe nicht infrage zu stellen. Wir müssen in unseren ethischen Entscheidungen glaubwürdig und standhaft bleiben. Deshalb appelliere ich an Sie: Stimmen Sie unserem Antrag ?Keine Änderung des Stichtages im Stammzellgesetz - Adulte Stammzellforschung fördern? zu.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Flach.
Ulrike Flach (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den vergangenen Wochen haben wir sehr hart um Unterstützung der einzelnen Positionen gerungen. Dabei ist es möglich gewesen, eine ganze Reihe von Punkten zu klären, aber es bleiben natürlich Punkte - Frau Böhmer hat gerade zu Recht darauf hingewiesen -, die wir unterschiedlich bewerten. Das betrifft den Status der befruchteten Eizelle, den wissenschaftlichen Erfolg der Stammzellforschung und die Bedeutung des Stichtages. Alle diese Faktoren bewerten wir, die Unterzeichner des Gesetzentwurfs ?Entwurf eines Gesetzes für eine menschenfreundliche Medizin - Gesetz zur Änderung des Stammzellgesetzes? auch und gerade nach den großen Anhörungen der letzten Monaten eindeutig, und zwar unter einer ganz großen Überschrift: Auch das Heilen von Menschen ist moralisch.
Die befruchtete Eizelle hat nicht den gleichen Status wie der Embryo nach der Einnistung im Mutterleib. Das ist aus den Anhörungen sehr klar hervorgegangen. Embryonale Stammzellen werden fünf bis sieben Tage nach der Befruchtung der Eizelle gewonnen, und zu diesem Zeitpunkt besteht der Embryo aus einigen Dutzend Zellen. Das ist vor der Einnistung in der Gebärmutter und somit in einem Stadium, in dem wir in Deutschland ohne Probleme die Pille danach und ohne Probleme die Spirale gelten lassen. Was für die Verhütung hier in diesem Lande gelten darf, muss doch erst recht für hochwertige Forschung im medizinischen Bereich gelten.
Wir wollen, dass auch in Deutschland Spitzenforschung für Menschen, die an schweren Krankheiten leiden, betrieben wird. Unsere Messlatte ist neben der Menschenwürde die Ethik des Heilens. Gerade vor diesem Hintergrund ist es gut, dass wir nicht nur von den großen Forschungsgesellschaften in diesem Land, sondern dass wir auch von der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft und der Deutschen Parkinson Gesellschaft unterstützt werden. Das ist wichtig; denn es zeigt, worum es hier geht. Es geht darum, Menschen zu helfen, nicht aber um eine fundamentale Änderung unserer grundgesetzlichen Gesamtübereinstimmungen.
Wir wenden uns übrigens in diesem Zusammenhang entschieden gegen die Behauptung, dass für die deutsche Forschung an embryonalen Stammzellen Embryonen sterben müssen, die sonst eine Chance auf Leben hätten. Auch in den USA existieren über 400 000 bei der künstlichen Befruchtung entstandene sogenannte überzählige Embryonen. Fast alle bekannten Stammzelllinien stammen von diesen Embryonen, aus denen nie ein Mensch entstehen wird. Sie wurden von ihren Eltern für die Forschung gespendet; ansonsten wären sie der Vernichtung anheimgefallen. Hier wurden also weder Frauen instrumentalisiert, wie so gerne unterstellt wird, noch wurde verhindert, dass Leben entsteht. Im Gegenteil: Es ist der erklärte Wunsch der Eltern gewesen, dass diese Embryonen der Forschung für kranke Menschen zur Verfügung gestellt wurden.
Der Umstand, dass es diese Stammzellen überhaupt gibt - das will ich an der Stelle auch noch sagen -, zeigt, wie wenig erfolgreich die Stichtagsregelung war, Frau Böhmer. Obwohl von Deutschland kein Anreiz ausgegangen ist, sind diese Stammzelllinien entstanden. Das ist doch genau der Grund, warum das bestehende Gesetz über den Import zerbricht. Das ist der Grund, warum man gar nicht für diese Stichtagsregelung sein kann.
Wir wollen die Forschung an adulten Stammzellen nicht gegen die Forschung an embryonalen Stammzellen ausspielen. Frau Schavan hat eben zu Recht darauf hingewiesen, dass wir beides brauchen. Ich bin froh, dass sich vor zwei Tagen eine große Gruppe von 17 Spitzenforschern, zu denen übrigens sowohl Forscher gehören, die über adulte Stammzellen forschen, als auch solche, die über embryonale Stammzellen forschen - auch solche, die in den letzten Monaten so große Erfolge erzielt haben -, noch einmal eindeutig positioniert und erklärt haben, dass wir hochwertige Forschung an embryonalen und adulten Zellen brauchen. Genau dieses schlagen wir, die Unterstützer des Gesetzentwurfes für eine menschenfreundliche Medizin, vor.
Wir wollen eine Gesetzgebung in diesem Lande, die die Forschung an embryonalen Stammzellen ohne das beliebige Instrument des Stichtages ermöglicht und damit international gleichwertige Bedingungen auch für unsere Forscher schafft.
Wir wollen Hoffnung für diejenigen, die auf Heilung warten, und für die deutschen Wissenschaftler, die sich in den europäischen Forschungsprozess wieder integrieren wollen. Unser Gesetzentwurf stärkt die Forschungsfreiheit im Grundgesetz, und er eröffnet Chancen für eines der zukunftsträchtigsten Wissenschaftsfelder. Ich bitte um Ihre Unterstützung für diesen Gesetzentwurf. Wir würden den Deutschen einen Gefallen tun.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Volker Beck.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über die Möglichkeit und die Bedingungen des Importes embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken. Das klingt technisch, und unser Reden darüber verschleiert oftmals das eigentlich dahinterliegende ethische Problem. Letzten Endes geht es um die Fragen: Wann ist der Mensch ein Mensch? Wo beginnt menschliches Leben? Darf man menschliches Leben für einen guten Zweck opfern, oder verbieten die Würde des Menschen und der Schutz des Lebens das Töten von Menschen zum Zwecke der Forschung und der medizinischen Behandlung anderer Menschen?
Die Forschung mit und der Import von embryonalen Stammzellen setzen das Töten und das Zerteilen von Embryonen voraus. Wie der Gesetzgeber diese Frage beantwortet, ist eine weitreichende ethische Grundsatzentscheidung. Unsere Verfassung erklärt die menschliche Würde für unantastbar.
Frau Flach, man kann die Debatte um den § 218 StGB oder um Verhütung nicht mit dem Umgang mit embryonalen Stammzellen gleichsetzen.
Bei der Frage der Abtreibung steht das Leben der Mutter mit dem Leben des Kindes in einem direkten, unauflösbaren Konflikt.
- Herr Westerwelle, das müssten Sie wissen. - Die Abtreibung bleibt auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum § 218 StGB Unrecht, auch wenn sie nicht in jedem Fall strafrechtlich verfolgt wird. Das ist eine ganz klare ethische Linie. Lediglich bei den Instrumenten, also dabei, wie wir das menschliche Leben in diesen Situationen schützen, hat das Bundesverfassungsgericht uns, dem Gesetzgeber, erlaubt, nicht in jedem Fall zum Mittel des Strafrechts zu greifen.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und die Vorgabe des Grundgesetzes sind klar. Beim Luftsicherheitsgesetz hat das Bundesverfassungsgericht uns als Gesetzgeber noch einmal ermahnt: Leben ist nicht gegen Leben abzuwägen; nicht einmal Leben, das wir dem Tod geweiht glauben, darf geopfert werden, um anderes menschliches Leben zu retten.
Das hat uns das Bundesverfassungsgericht mit auf den Weg gegeben.
Wir, der Bundestag, sind uns einig, dass der Mensch niemals verzweckt werden darf, auch beim Thema Folter nicht. Selbst wenn man meint, man könne mit Folter Geiseln freibekommen, menschliches Leben retten, sagt uns unsere Rechts- und Werteordnung: Die Folter ist ohne Ausnahme verboten.
Mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle entsteht neues menschliches Leben, damit ist die genetische Identität eines Menschen festgelegt.
Mit der Verschmelzung handelt es sich um einen Menschen, nicht um Zellmaterial oder um einen Zellhaufen. Dieser Mensch darf nicht verzweckt werden. Deshalb kann es hier auch keinen Kompromiss geben. Jeder Kompromiss bringt uns auf eine schiefe Ebene. Ich werbe auch für ein völliges Verbot des Arbeitens mit embryonalen Stammzellen, da für jede dieser Zellen ein Mensch nicht leben durfte, sondern getötet wurde.
Dennoch ist das Stammzellgesetz, das heute gilt, kein willkürlicher oder fauler Kompromiss. Das Stammzellgesetz schloss damals eine gesetzgeberische Lücke. Die verbrauchende Embryonenforschung und die Herstellung embryonaler Stammzellen waren in Deutschland nach dem Embryonenschutzgesetz bereits verboten. Der Import war bis zum Erlass des Stammzellgesetzes nicht geregelt und damit auch nicht strafbar. Diese Gesetzeslücke war damals nicht gewollt, wohl aber vorhanden. Der Gesetzgeber entschied sich, mit dem Inkrafttreten des Gesetzes keine neuen Stammzellen für den Import mehr zuzulassen. Dies war auch dem Umstand geschuldet, dass zuvor diese Gesetzeslücke bestand.
Die jetzt vorgeschlagene Verschiebung des Stichtages hat deshalb eine grundsätzlich andere Qualität: Sie reißt einen Damm mit dem Argument ein, man brauche weitere Zellen, und legitimiert damit aktiv das Töten von Embryonen auch nach dem Inkrafttreten des deutschen Stammzellgesetzes.
Der neue Stichtag ist völlig willkürlich. Er kann bei Bedarf jederzeit mit den gleichen Argumenten, die wir heute hören, verschoben werden. Herr Röspel, Sie haben es in der letzten Debatte auch zugegeben. Als ein Redner dies hier am Pult ansprach, haben Sie gesagt: Natürlich, wenn wir neue brauchen, dann wird der Bundestag entscheiden.
Was machten wir, wenn die Forschung tatsächlich zu dem Ergebnis käme, wir könnten mit embryonalen Stammzellen heilen, und der Bedarf an Stammzellen und Embryonen dramatisch stiege? Wie lange würden dann die Grundlagen des Embryonenschutzgesetzes noch gelten?
Eines ist doch bezeichnend: Sie haben zwar beteuert, Frau Schavan, dass niemand ans Embryonenschutzgesetz herangehen will.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Beck!
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Aber Ihr Haus fragt gegenwärtig die Gesetzgeber in Bund und Ländern, ob Eizellenspenden zulässig sein sollen, um damit die Kosten der Reproduktionsmedizin für die Menschen, die sie nachfragen, absenken zu können. Wir befinden uns mit einer Verschiebung des Stichtags auf einer schiefen Ebene.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege!
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Mit einer solchen Entscheidung verlieren wir die Kriterien in der Debatte, sodass wir uns gegen weitere Aufweichungen des Schutzes des menschlichen Lebens nicht mehr werden wehren können. Deshalb werbe ich dafür, dass wir heute keine Veränderung der Rechtslage vornehmen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird Ihnen sofort einleuchten, dass die Einhaltung der vereinbarten Redezeiten in einer solchen Debatte für das Präsidium eine besonders sensible Aufgabe ist. Aber wir können die Vereinbarung über die heute vorgesehenen Wortbeiträge überhaupt nur bewältigen, wenn sich alle an diese Vereinbarung halten, wobei sich für alle gleichermaßen die Aussichtslosigkeit des Unterfangens ergibt, in fünf Minuten den gesamten Umfang ihrer Urteilsbildung vortragen zu können. Deswegen erlaube ich mir noch einmal folgenden praktischen Hinweis: Tragen Sie das, was Ihnen am wichtigsten ist, gleich zu Beginn vor. Damit ist sichergestellt, dass es auch im Protokoll erscheint.
Das Wort hat nun der Kollege Jörg Tauss.
Jörg Tauss (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Zum Schluss meiner Ausführungen wollte ich darum bitten, dem Gesetzentwurf der Abgeordneten René Röspel, Carola Reimann, Ilse Aigner, Thomas Rachel, vieler anderer Abgeordneter und von mir selbst zuzustimmen. - Das war der Schlussblock. Ansonsten bemühe ich mich, jetzt auf das zurückzukommen, was der Kern der heutigen Debatte ist, da er im letzten Redebeitrag ziemlich heftig verlassen worden ist.
Schon aus der Rede von Frau Schavan ist deutlich geworden, dass es nicht um Dammbrüche geht, nicht um die Aufgabe von Embryonen- und Lebensschutz in Deutschland und in der Welt und nicht um eine neue ethische Debatte.
Es geht auch nicht um den Embryonenschutz, liebe Kolleginnen und Kollegen, der in diesem Lande geregelt ist. Die Forschungsministerin hat darauf hingewiesen, dass niemand an ihm zu rühren beabsichtigt. Kollege Beck, dies steht im Gegensatz zu dem, was Sie gerade gesagt haben.
Es geht darum, unser aus der Mitte des Parlaments heraus entstandenes Stammzellgesetz aktuellen Entwicklungen anzupassen und es zukunftsfest zu machen. ?Zukunftsfest? ist das Stichwort, das in diesem Zusammenhang wichtig ist. Die behutsame und ethisch zu verantwortende Weiterentwicklung unseres Gesetzes brauchen wir zur Aufrechterhaltung einer qualifizierten Stammzellforschung in Deutschland. Das ist ein winziges Forschungsgebiet. Frau Böhmer, angesichts unseres jetzigen Standes der Forschung ist es eine völlige Überschätzung der wahren Lage in dieser Welt, anzunehmen, dass von Deutschland aus Anreize zur Tötung von Embryonen geschaffen würden, wie Sie sie unterstellt haben. Das ist völlig abwegig und hat mit der Realität nichts zu tun.
Im Übrigen - auch das ist in der Anhörung klar geworden - brauchen wir für die adulte Stammzellforschung, die immer wieder als Alternative und als Gegenpart dargestellt wird, auch die Forschung an embryonalen Stammzellen, um Zellen insgesamt verstehen zu können.
Die Anhörung hat noch etwas ergeben. Kollege Beck, ich respektiere so etwas, aber dann muss man auch sehr konsequent sein. Einer der vehementesten Ablehner unseres Vorschlags aus den Reihen der Sachverständigen sagte, dass in der Konsequenz dessen, was man zu Stammzelllinien diskutieren kann, auch die Organspende untersagt werden müsste.
Das ist, finde ich, ein unglaublicher Ansatz, aber er ist logisch im Sinne dessen, Herr Beck, was Sie hier gesagt haben, konsequent in der logischen Weiterentwicklung in Bezug auf die Frage der Verwertbarkeit von Leben. Lesen Sie das im Protokoll der Anhörung einfach einmal nach!
Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich bin für Organspende, und ich bin für eine ethisch verantwortbare Stammzellforschung.
Aus diesem Grunde haben wir Ihnen eine Broschüre mit dem Titel ?Verantwortungsvolle Politik und Forschungsfreiheit? vorgelegt. Ich bitte Sie einfach, darin ein bisschen zu lesen. Wir haben genau die Punkte, die ich jetzt nicht vortragen kann, Herr Präsident, in dieser Broschüre niedergeschrieben.
Gestatten Sie mir einen Satz an Ihre Adresse, liebe Frau Kollegin Böhmer. Sie haben uns als eine der Mütter des Stammzellgesetzes - Sie gehörten zweifellos zu diesen Müttern; es gab noch ein paar Mütter mehr;
es gab auch ein paar Väter; ich würde Wolf-Michael Catenhusen dazurechnen - damals gesagt: Wir wollen keinerlei Liberalisierung im Bereich des Strafrechts. - Die Strafrechtsnorm musste so ins Gesetz hineingeschrieben werden, wie es von Ihnen damals verlangt worden ist. Sie haben zusätzlich den Hinweis gegeben, dass Sie das Stammzellgesetz insgesamt verhindern würden, wenn diese strafrechtliche Vorschrift liberalisiert würde.
Ich freue mich sehr, dass Sie heute zu einer anderen Auffassung gekommen sind, nämlich sagen, dass Ihre Position von damals falsch war. Sie sind heute für eine Liberalisierung der Strafrechtsnorm. Ich respektiere dies außerordentlich, weil es zeigt, dass man in neuen Fragen auch zu neuen Antworten kommen kann.
Es ist allerdings nicht logisch, zu sagen: An der Strafrechtsnorm wollen wir etwas ändern, am Stichtag ändern wir nichts. - Dieser Stichtag führt aber dazu, dass praktisch keine Stammzellforschung mit vorhandenen Stammzelllinien mehr durchgeführt werden kann. Das wäre so ähnlich, als wenn Sie, Frau Kollegin Böhmer, einem Autofahrer das Autofahren verbieten und ihm den Führerschein wegnehmen würden, dann aber zur Entlastung die Parkverbote aufheben würden. Das wäre die Logik. Dieser Logik sollten wir nicht folgen.
- Das ist der einzig sinnvolle Vergleich in diesem Zusammenhang.
Wenn Sie sagen, dass Stammzellforschung im Ausland nicht mehr strafbar sein soll, gleichzeitig aber nicht dafür sorgen, dass wieder geforscht werden kann, dann ist dieser Vergleich logisch. Aus diesem Grunde sollten Sie sich über das, was hier diskutiert worden ist, noch einmal Gedanken machen.
Wenn heute nur die Strafrechtsnorm, aber nicht der Stichtag verändert würde, wäre unser Stammzellgesetz, unser historischer Kompromiss aus dem Jahre 2002, eine wertlose Hülle. Ich bitte Sie, dazu beizutragen, dass unser Gesetz nicht zur Hülle wird, sondern weiterhin ethisch verantwortbare Stammzellforschung in Deutschland begleitet.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Wolfgang Thierse.
Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nicht überraschend, dass die Anhörung zu den Fragen der Stammzellforschung keine Einigung unter den geladenen Experten erbracht hat. Das Thema bleibt wissenschaftlich, forschungspolitisch und ethisch kontrovers. Es gibt auf allen Seiten gute Argumente. Wir müssen aber heute entscheiden, ob wir das geltende Stammzellgesetz von 2002 verändern. Gibt es dafür zwingende Gründe? Was hat sich seither verändert?
Drei Autorinnen des Gesetzes - Maria Böhmer hat gerade darauf hingewiesen - haben gestern in einem Zeitungsartikel daran erinnert, worum es der Mehrheit des Bundestages damals ging. Es ging um die Achtung vor der Würde auch früher Formen des menschlichen Lebens, um Grundlagenforschung im Bereich der Stammzellen und um Rechtsfrieden in der Gesellschaft. Diese Ziele sind durch einen Kompromiss - die geltende Stichtagsregelung -, so denke ich, erreicht worden. Hat sich seither wirklich etwas grundlegend verändert?
Erstens stelle ich nüchtern und ohne jeden Vorwurf fest: Forschungserfolge und erst recht Therapieerfolge, die Hoffnungen und Verheißungen einer Ethik des Heilens, sind und bleiben ungewiss.
Zweitens. Die vom Gesetz freigegebenen Zelllinien ermöglichen ganz offensichtlich Grundlagenforschung. Dies beweisen gerade die Forschungsanträge der letzten Monate. Auch Prof. Beier hat dies in der Anhörung zugestanden.
Drittens. Die Stichtagsveränderer unter den Forschern verlangen trotzdem neue Stammzelllinien. Sie tun es, weil sie bessere wollen, weil sie im internationalen Wettbewerb der Spitzenforschung gleiche Ausgangsbedingungen wollen, weil sie ?State of the Art? sein wollen. Aber kann solcherart behaupteter Bedarf, kann das Wettbewerbsargument wirklich ein ethisch zureichendes, überzeugendes, zwingendes Argument sein? Ich glaube, nicht.
Viertens. Fortschritte gibt es offensichtlich bei der Forschung mit adulten Stammzellen. Deshalb - das ist eine gewisse Argumentationsverlagerung - soll die embryonale Stammzellenforschung dieser Forschung assistieren, sie befördern.
Und fünftens. Auch von den Unterstützern des Röspel-Antrags wird nicht bestritten, dass die verbrauchende embryonale Stammzellenforschung ethisch problematisch bleibt und nur pragmatisch mit Blick auf die unter drittens und viertens genannten Argumente zu rechtfertigen ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt also keine wirklich neuen Gesichtspunkte. Wir sind in keiner wirklich neuen Situation. Deshalb sollten wir uns auf die ethische Grundfrage besinnen, auf die Frage nach dem moralischen Status des Embryos, auf die Frage nach der Würde und nach dem Lebensrecht menschlichen Lebens von Anfang an. Aus der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes folgt zwingend das Instrumentalisierungsverbot. Auch der embryonale Mensch darf kein Mittel zu einem anderen Zweck sein. Er darf nicht vernutzt werden. Forschung mit embryonalen Stammzellen ist aber ein Eingriff in die Integrität des Embryos und in sein Lebensrecht.
Können, so fragte der frühere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, ungewisse Erwartungen von Heilungsmöglichkeiten ?die Tötung eines Embryos, der nichts anderes ist als ein individueller Mensch in den frühesten Stadien seiner Entwicklung, rechtfertigen?? Es gehört zu den unsere Zivilisation tragenden Grundüberzeugungen, dass menschliches Leben um seiner selbst willen zu schützen ist.
Das Recht auf Leben und der Wert des Menschseins lassen sich nicht abstufen. Menschliches Leben ist nicht relativierbar, und es ist ein höherwertiges Gut als die viel beschworene Forschungsfreiheit. Das von manchen strapazierte Argument, wenn wir es nicht tun, dann tun es andere sowieso, halte ich für den Ausdruck einer ethischen Kapitulation.
Eine Verschiebung des Stichtages kann, ja muss ethisches Misstrauen erzeugen. Nicht wenige reden von der ethischen Wanderdüne. Ich bleibe dabei: Da es kein mich überzeugendes Argument für eine Verschiebung oder Aufhebung des Stichtages gibt, plädiere ich für die Beibehaltung des 2002 vereinbarten und vertretbaren Kompromisses, zumal es mit der Forschung an adulten Stammzellen eine aussichtsreiche und unterstützenswerte andere Möglichkeit gibt, die ethisch unproblematisch ist.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält der Kollege Christoph Strässer.
Christoph Strässer (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich schließe an Wolfgang Thierse an. Ich möchte ihm in einem Punkt widersprechen, weil ich glaube, dass in dieser Argumentation das Dilemma einer jeden Stichtagsregelung deutlich wird. Sie haben gesagt, die Verschiebung des Stichtages werde überwiegend mit Wettbewerbsargumenten begründet. Ich glaube, dass diese Einschätzung falsch ist.
Ich glaube, wenn man mit den Menschen redet, die Stammzellforschung betreiben, dann sagen sie ganz eindeutig: Die Arbeit mit den jetzt nach dem Embryonenschutzgesetz und dem Stammzellgesetz erlaubten Stammzelllinien ist gerade nicht mehr geeignet, um bestimmte Dinge zu erzielen, die auch im Bereich der Grundlagenforschung erwartbar sind, nämlich dass in absehbarer Zeit und in einem vertretbaren Zeitraum auch Therapien zur Heilung schwerer und schwerster Krankheiten entwickelt werden.
Deshalb sage ich, meine Damen und Herren: Wer an der bisherigen Stichtagsregelung festhält, der geht in der Diskussion um die Würde des Menschenlebens einen Schritt zurück. So wird nämlich etwas nur in einer Art und Weise erlaubt, über die selbst diejenigen, die daran forschen, urteilen: Mit diesem schlechten und alten Material können auf gar keinen Fall Erwartungen erfüllt werden. - Deshalb kann es nach meiner festen Überzeugung nicht bei dieser Stichtagsregelung bleiben.
Aber auch die Verschiebung des Stichtags würde dem genannten Zweck nicht dienen. Denn mit einer Stichtagsregelung wird ausgehend von der Annahme, dass eine rechtswidrige Handlung vorliegt, versucht, eine Möglichkeit zum Umgang mit dieser rechtswidrigen Handlung zu finden, indem ein gesellschaftlicher Kompromiss gesucht wird.
Frau Kollegin Böhmer, Sie haben als Kronzeugin die Mutter des derzeitigen Stammzellgesetzes, Margot von Renesse, erwähnt. Sie alle haben vielleicht gelesen, was Margot von Renesse in Kenntnis der jetzigen Situation zu der damals getroffenen Regelung sagt. In der Süddeutschen Zeitung von heute sagt sie, die Gewinnung von Stammzellen aus Embryonen, die bei der künstlichen Befruchtung übrig bleiben, sei auch in Deutschland zuzulassen.
?Die Gewinnung von Embryonen? ist, wie ich glaube, etwas völlig anderes als das, worüber wir heute diskutieren. Ich glaube, man sollte das ernst nehmen. Sie sagt weiter - das ist für mich der eigentliche Kern der Argumentation in Bezug auf die Stichtagsregelung -, eine andere Position als die, die wir jetzt diskutieren, sei 2002 nicht mehrheitsfähig gewesen. Angesichts der heutigen Situation sagt sie, es reiche nicht aus, den Stichtag für den Import von Stammzellen zu verschieben. Ein solcher Schritt wäre unlogisch und ethisch nicht zu begründen. - Ich glaube, liebe Kolleginnen und Kollegen, sie hat auch an dieser Stelle recht.
Über die Notwendigkeit, die Inhalte und die Ziele der Stammzellforschung ist hier schon ausführlich diskutiert worden. Auch ich gehöre zu denjenigen, die gerade in Anbetracht dessen, was Forschung bewirken und an schlimmen Dingen hervorbringen kann, sagen, dass nicht alles erlaubt ist, was möglich ist. Denjenigen, die befürchten, dass die Diskussion hierüber am Ende zu einem Dammbruch führt, möchte ich entgegenhalten, dass solche Vorhalte in eine völlig falsche Richtung zielen.
Ich sage - das ist aus meiner Sicht völlig klar, und daran will auch niemand etwas ändern -: Es bleibt bei den Bestimmungen des Embryonenschutzgesetzes aus dem Jahre 1990; es gibt da keine Veränderungen, und es gibt keine nachhaltigen Veränderungen beim Verbot des Imports von embryonalen Stammzellen, wie es im Stammzellgesetz von 2002 niedergelegt ist. Es findet nur eine einzige Änderung statt, die leicht zu rechtfertigen ist: Wenn man nämlich diese Forschung will, sich also zur embryonalen Stammzellforschung bekennt, dann muss ihr ein Rahmen gegeben werden, der ethisch verantwortbar ist. Zugleich muss aber auch klar formuliert und geregelt werden, dass entsprechenden Anträgen ein Ausnahmecharakter zukommt. Hierzu hat aber eine Stichtagsregelung überhaupt keinen Bezug.
Deshalb meine ich, dass man sie in diesem Fall, auch vor dem Hintergrund ethischer Aspekte, aufheben muss.
Ich glaube - deshalb werbe ich auch für diese Position -, die Stichtagsregelung hilft niemandem, sie wird auch auf Dauer nicht befrieden; das ist ja auch schon gesagt worden: Nachdem nämlich 2002 von einer einmaligen Regelung die Rede war, steht jetzt zur Diskussion, diesen Stichtag um fünf bis sechs Jahre zu verschieben. Aber in zwei bis drei Jahren werden wir angesichts der Entwicklung der Stammzellforschung wieder vor dem Dilemma stehen, einen Stichtag als entscheidendes Kriterium für die Genehmigung von Anträgen benennen zu müssen. Ich glaube, dass ein solches Vorgehen falsch ist. Wenn man zur embryonalen Stammzellforschung steht, dann muss man ehrlich sein, eine Aufhebung der Stichtagsregelung fordern und darauf vertrauen, dass das Robert-Koch-Institut und die Zentrale Ethik-Kommission für Stammzellforschung verantwortbare Entscheidungen treffen, um ein Ausufern bzw. einen Dammbruch in diesem Forschungsbereich zu verhindern.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält die Kollegin Dr. Petra Sitte.
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Gründe, Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen zu befürworten, haben sich für mich aus wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritten abgeleitet. Die Expertenanhörungen haben mich darin bestärkt.
In Diskussionen, auch in meiner Fraktion, ging es jedoch nur an zweiter Stelle um die Perspektiven medizinischer Stammzellforschung. Das verwundert mich, ehrlich gesagt, bis heute ein wenig. Auch an der jüngsten Anhörung hat mit Professor Schöler nur ein einziger Stammzellforscher teilgenommen. Infolge dieser Schwerpunktverlagerung wurden vor allem Bewertungen im Umfeld der Stammzellforschung diskutiert. Fachdisziplinären Gründen stehen nunmehr ethische und verfassungsrechtliche Argumente im Pro und Kontra einer Stichtagsänderung zur Seite.
Kennzeichnend ist über alles, dass es Gewissheiten weder aus Sicht der Stammzellforschung noch aus Sicht von Ethik und Verfassungsrecht gibt.
Werte und Rechtsgüter stehen sich gegenüber. Daraus folgende Konflikte und Widersprüche bedürfen also weiterhin eines gesellschaftlichen Diskussions- und Handlungsspielraumes. Insofern muss der säkulare, plurale Rechtsstaat mit Blick auf die embryonale Stammzellforschung einen schlüssigen politischen wie auch rechtlichen Kompromiss ermöglichen.
Statt jedoch einen ?schonenden Ausgleich?, wie das die Experten bezeichnet haben, mit einer Stichtagsverschiebung zu finden, wird auch in dieser Debatte der Eindruck erweckt, als könne es in der Frage der Stichtagsänderung keinen Kompromiss geben. Allerdings ist - einige haben das hier auch schon gesagt - das geltende Stammzellgesetz ein lebendiger und sich bewährender Kompromiss.
Diesen sollten wir erhalten, eben weil noch so viele Fragen offen und zu klären sind. Und so werben Abgeordnete meiner Fraktion und auch ich persönlich für diesen Kompromiss, obwohl wir die Ersetzung des Stichtages durch eine Einzelfallprüfung eigentlich für konsequenter hielten.
Zugleich richtet sich an die Gegner der Stammzellforschung aus meiner Sicht die Frage, weshalb sie die Gewinnung humaner embryonaler Stammzellen und somit den Verlust von Embryonen verhindern wollen, indem sie das Stammzellgesetz revidieren. Experten haben doch wiederholt darauf hingewiesen, dass im Stammzellgesetz nicht diese Handlung geregelt wird. Es geht im Gesetz nicht um Embryonen, sondern um den Import von Stammzelllinien.
Nicht die Verwendung von Embryonen wird bestimmt, sondern die Verwendung von Zellen, die in der Vergangenheit und in einem anderen Land aus überzähligen Embryonen gewonnen wurden.
Diese Rechtslage bleibt auch bei einer Änderung des Stichtages erhalten.
Das Verbot des Embryonenverbrauchs für die Forschung leitet sich - völlig zu Recht angemerkt - aus dem Embryonenschutzgesetz ab. Dieses allerdings - das muss ausdrücklich gesagt werden - verbietet aber nicht das Verwerfen von Embryonen an sich. Werden diese nämlich nicht zum Zwecke der Fortpflanzung einer Frau übertragen, dann besteht kein Erhaltungsgebot. Erst für den Zweck der Forschung wurden ein Erhaltungsgebot und ein Verwendungsverbot bestimmt. Dennoch fürchten viele Abgeordnete, dass eine Änderung des Stammzellgesetzes der Verzweckung, wie schon gesagt, von menschlichem Leben in Deutschland Tür und Tor öffnet. Lebens- und Würdeschutz könnten aufgeweicht werden. Das Gesetz hat also für viele Abgeordnete hier durchaus eine Symbolwirkung.
Lassen Sie mich dazu Professor Hilpert von der Katholisch-Theologischen Fakultät München aus der Anhörung zitieren. Er sagte dort:
Ich habe bislang noch keine schlüssige Antwort auf die Frage finden können, weshalb die Zerstörung von verwaisten Embryonen durch Auftauen und Entsorgung ethisch würdiger sein soll als ihre Zerstörung durch Entnahme von Stammzellen für die medizinische Forschung, wenn feststeht, dass sie einer Frau nicht mehr eingesetzt werden können.
Meine Damen und Herren, in diesem Haus, aber auch in der Wissenschaft sind sich alle darin einig, dass menschliches Leben in vorgeburtlichen Stadien geschützt werden muss. Ein willkürlicher Zugriff, auch durch die Forschung, wird hier von niemandem vertreten. Also kann auch der Vorwurf der Vernachlässigung von Würde- und Lebensschutz nicht erhoben werden.
Die ethisch umstrittenste Frage bleibt, wann menschliches Leben beginnt und damit die Zuschreibung von Menschenwürde. Welchen Umfang soll der Lebensschutz haben? Bis heute treffen selbst Verfassungsrecht und höchstrichterliche Rechtsprechung dazu keine eindeutige Aussage. In der Gesellschaft finden sich verschiedene Wertegemeinschaften mit verschiedenen Wertekonzeptionen. Daher differieren auch moralische und ethische Haltungen. Weil ebendie Antworten durch viele wertgebundene Deutungsschritte geprägt sind, sagen Ethiker, dass der Gesetzgeber nicht zwangsrechtlich intervenieren darf.
In diesem Sinne hoffe ich, dass wir heute als verantwortungsvolle Gesetzgeberinnen und Gesetzgeber den Stammzellkompromiss zwischen Forschungsfreiheit und Lebensschutz von 2002 mit einer Stichtagsänderung fortschreiben.
Danke schön.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält der Kollege Rolf Stöckel.
- Entschuldigung. Wir richten uns selbstverständlich nach der vereinbarten Rednerliste. Das Wort hat also die Kollegin Priska Hinz.
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Stammzellkompromiss von 2002 hat deshalb zur gesellschaftlichen Befriedung beigetragen, weil das Parlament auf Basis ethischer Grundsätze ein Gesetz verabschiedet hat. Wenn man jetzt die Argumente überprüft, weshalb der Stichtag verschoben oder gar völlig aufgehoben werden soll, und sich die Ergebnisse der human-embryonalen Stammzellforschung ansieht, dann kann man nur nüchtern feststellen: Es gibt überhaupt keine überzeugende Begründung für eine Verschiebung.
Das häufigste Argument der Forscherinnen und Forscher, die Stammzelllinien seien veraltet und deswegen unbrauchbar, lässt sich allein schon durch die Tatsache widerlegen, dass bereits in den ersten dreieinhalb Monaten dieses Jahres fünf Forschungsprojekte mit Stammzelllinien von vor 2002 neu genehmigt wurden. Damit ist dieses Argument widerlegt.
Die alten Stammzelllinien werden weltweit in aktuellen Forschungsprojekten genutzt - im Übrigen auch bei der sogenannten vergleichenden Forschung, bei der neue Entwicklungsansätze in der Stammzellforschung überprüft werden, Frau Ministerin. Die Behauptung, die neuen Linien seien besser, weil sie nicht verunreinigt sind, ist im Übrigen durch keine wissenschaftliche Untersuchung belegt.
Im Gegenteil: Es gibt derzeit keine embryonalen Stammzellen weltweit, die xenogenfrei sind, also ohne tierische Nährzellen entwickelt wurden. Daran würde auch eine Verschiebung des Stichtages nichts ändern.
Besonderes Gewicht hat die Frage: Gibt es Aussicht darauf, dass embryonale Stammzellen zu therapeutischen Zwecken eingesetzt werden können? Hier hat sich seit 2002 hinsichtlich der Erwartung, dass embryonale Stammzellen zur Therapie von Krankheiten eingesetzt werden können, sogar noch größerer Zweifel breitgemacht. Wenn man sich anschaut, mit welcher Vehemenz Forderungen nach mehr und neuen Stammzelllinien vorgetragen werden und wie wenig beachtet wird, wie weit wir in der adulten Stammzellforschung schon sind, dann finde ich das sehr beachtlich.
Wenn wir über Heilung von Krankheiten und Therapien sprechen, dann sollten wir auch darüber reden, dass inzwischen weltweit mehrere Tausend herzkranke Patienten erfolgreich mit adulten Stammzellen behandelt wurden. Der Stammzellforscher Professor Strauer war bei uns in der Anhörung. Er sagte, wir sollten uns auf das konzentrieren, was uns mit Blick auf den Patienten klinisch weiterbringe, was heute eindeutig mit den adulten Stammzellen gelinge. Er sagte auch ganz deutlich, dass er noch nie die human-embryonale Stammzellforschung gebraucht habe, um bei seiner Forschung mit adulten Stammzellen voranzukommen. Das ist doch ein deutliches Wort. Auch das sollten wir ernst nehmen.
Ich möchte an dieser Stelle ein weiteres ethisches Problem ansprechen, das in der Debatte wenig Gehör findet, das für die Zukunft aber, wie ich glaube, relevant ist: Wenn das Stammzellgesetz weiter geöffnet wird, dann besteht die Gefahr, dass ärmere Frauen zunehmend mit finanziellen Anreizen zur Eizellspende im Ausland animiert werden. Mit einer Änderung des Stammzellgesetzes steigt die Gefahr, dass embryonale Stammzellen importiert werden könnten, die von ?frischen? Embryonen stammen, die gezielt zu Forschungszwecken erzeugt wurden.
Wir reden erstens über die Verschiebung und zweitens über die völlige Freigabe. Wenn man einmal verschiebt, kann man auch ein zweites und drittes Mal verschieben.
Dann sind wir nicht mehr davor gefeit, dass Stammzelllinien, die extra zu Forschungszwecken erzeugt wurden, nach Deutschland eingeführt werden.
Die Risiken der notwendigen hormonellen Behandlung und der Eingriff für die Frau sind sehr groß. Auch das ist ein Grund, weshalb Frauen in der Mehrheit, auch in Deutschland, gegen eine Ausweitung der humanen embryonalen Stammzellforschung sind. Ich glaube, diese Ablehnung hat etwas mit dem Körper der Frau zu tun, insbesondere mit der Tatsache, dass man für die embryonale Stammzellforschung Eizellen braucht.
Die meisten Argumente, die hier vorgebracht wurden, sind nicht neu. Sie werden in zwei, drei oder vier Jahren wieder auf den Tisch kommen. Was jetzt richtig ist, kann in ein paar Jahren nämlich nicht falsch sein. Deswegen ist eine Verschiebung eine immerwährende Verschiebung. Damit würde die Glaubwürdigkeit ethischer Versprechen des Parlaments beschädigt.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin, bitte.
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich glaube, wir tun gut daran, auf dem Kompromiss von 2002 zu beharren. Deswegen bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen.
Danke schön.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bitte, Herr Kollege Stöckel.
Rolf Stöckel (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere gestrige Gedenkstunde hat mir einiges wieder bewusst gemacht, vor allen Dingen eines: Eine mutige und selbstbewusste Demokratie sollte die internationale Entwicklung in der Molekularbiologie konstruktiv mitgestalten und nicht, was aussichtslos ist, zu verhindern versuchen.
Niemand in diesem Haus will aus dem ethischen Konsens austreten, nach dem nicht alles gemacht werden darf, was machbar ist, oder vom Grundsatz abweichen, dass kein menschliches Leben der Verzweckung ausgesetzt werden darf. An einer Herabwürdigung des ethischen Verantwortungsbewusstseins deutscher und internationaler Forscher sowie anderer demokratischer Parlamente in der westlichen Wertegemeinschaft möchte ich mich - das sage ich ausdrücklich - nicht beteiligen.
Ebenso wie Frau Ministerin Schavan und viele Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen habe ich die ethisch vertretbare und verfassungskonforme Auffassung, dass der Lebensschutz sowohl die besondere Achtung des beginnenden, potenziellen menschlichen Lebens als auch die Verwirklichung der Chance auf Linderung und Heilung schwerster Krankheiten und Leiden lebender Menschen umfasst. Wenn der Stichtag nicht gestrichen oder mindestens verschoben wird, bedeutet das faktisch ein Ende dieser Spitzenforschung in Deutschland. Das wäre ein schwerwiegender Konflikt mit der verfassungsrechtlich garantierten Forschungsfreiheit; so habe ich die Sachverständigen und Fachleute in den Anhörungen verstanden.
Die Frage, welche Erfolge die embryonale Stammzellforschung in den kommenden Jahren und Jahrzehnten erzielen wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu beantworten. Das liegt in der Natur der Sache. Diese Tatsache begründet aber keinesfalls ein Forschungsverbot. Ich frage Sie: Wo stünden die menschliche Zivilisation und die Humanmedizin, wenn wir dieser Logik folgen würden?
Chancen und Risiken der zukünftigen Entwicklung sind nur dann richtig einzuschätzen, wenn wir lernen, sie zu verstehen. Nur wer die Wissenschaft auf dem Boden unserer Verfassung verantwortlich betreibt und versteht, kann die Chancen nutzen und Risiken vermeiden helfen.
Die Erfüllung von Hoffnungen und Versprechen konnte in der gesamten Wissenschaftsgeschichte übrigens ebenso wenig vorhergesehen werden wie das Eintreten düsterer, apokalyptischer Prophezeiungen. Oder um es besser in den Worten von Willy Brandt zu sagen: ?Der beste Weg, die Zukunft vorauszusehen, ist, sie zu gestalten.? Dazu bedarf es nicht der vorauseilenden Vermeidung vermeintlichen Unglücks, sondern der Erforschung und Prüfung der medizinischen Möglichkeiten, und zwar im globalen öffentlichen Raum, demokratisch kontrolliert im Rahmen strenger gesetzlicher Regeln, die letztlich überhaupt nur europäisch und international wirksam werden können. Das ist die rationale Antwort auf die angstbesetzten Mythen über Dr. Frankenstein bzw. die Geheimlabore menschenverachtender Verbrecher und Diktatoren.
Es wäre eine Ironie der Geschichte, wenn aus der Forschung, die in einer sogenannten Sternstunde des Parlaments erschwert oder gar ganz verboten werden soll, die Erkenntnis gewonnen würde, dass ein Verbrauch humaner Embryonen für die Herstellung totipotenter Stammzellen zukünftig vielleicht überflüssig wird. Das ist nicht ausgeschlossen. Deshalb kann die Bedeutung der Forschung mit embryonalen Stammzellen nicht auf ihre Anwendungspotenziale reduziert werden.
Unser Gesetzentwurf stellt keinesfalls eine unverantwortliche Freigabe des Embryonenverbrauchs oder das ethische Gegenteil der Hüppe?schen Inquisition dar, sondern meines Erachtens einen Kompromiss zugunsten des Lebensschutzes in einer pluralistischen Gesellschaft, einer Gesellschaft, die die künstliche Befruchtung, das Einfrieren und die Vernichtung nicht implantierter Embryonen erlaubt und den Abtreibungskompromiss oder die Legalisierung nidationshemmender Verhütungsmittel mit überwältigender Mehrheit zumindest nicht infrage stellt. Unser Gesetzentwurf bewegt sich, wie die anderen Entwürfe auch, innerhalb des Spektrums der ethischen Schnittmengen und strittigen Debatten der Weltreligionen und -anschauungen. Er ist keinesfalls jenseits aller verantwortbaren Zivilisationen angesiedelt.
Die internationale Praxis seit 2002 liefert keinen einzigen Beleg für die These, dass der Verzicht auf einen Stichtag im deutschen Stammzellgesetz dazu führen würde, dass im Ausland mehr embryonale Stammzellen gewonnen und dadurch zusätzlich überzählige Embryonen verbraucht würden. Das deutsche Stammzellgesetz bleibt aber so lange nicht widerspruchsfrei, bis wir das Embryonenschutzgesetz, wie andere Demokratien auch, mit klaren und engen Regeln verändert haben. Darum geht es heute allerdings überhaupt nicht.
Meine Damen und Herren, geben Sie sich also den Ruck, der durch Deutschland gehen muss! Schenken Sie uns eine Stunde Lebenszeit statt zwei oder vier weiterer namentlicher Abstimmungen! Geben Sie Deutschland eine Mehrheit für unseren Antrag!
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Carola Reimann.
Dr. Carola Reimann (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vergangenen Wochen und Monate standen im Zeichen einer intensiven Debatte über die Stammzellforschung. Der Großteil dieser Diskussion war erfreulicherweise erneut durch ein ganz hohes Maß an Verantwortung und Reflexion über den Umgang mit embryonalen Stammzelllinien gekennzeichnet.
Wir haben uns - ich denke, da kann ich für alle hier im Hause sprechen - unabhängig von der jeweiligen eigenen Position die heutige Entscheidung insgesamt nicht leicht gemacht.
Im Vorfeld wurde immer wieder versucht, die angeblich ethisch unproblematische adulte Stammzellforschung gegen die ethisch problembehaftete embryonale Stammzellforschung auszuspielen. Es wurde so getan, als ob die Forschung mit adulten Stammzellen bereits heute die lang ersehnte Alternative zur embryonalen Stammzellforschung darstellt und man daher auf Letztere ganz verzichten kann.
Die Wirklichkeit sieht jedoch anders aus. Adulte Stammzellforschung benötigt weiterhin die Ergebnisse der embryonalen Stammzellforschung als Bezugs-, Referenz- und Vergleichsgröße. Dies bestätigte erst kürzlich der japanische Forscher Yamanaka, der im Übrigen zeitgleich zu unserer ersten Lesung im Parlament neue Erfolge zur Zellreprogrammierung vorgelegt hat. Yamanaka arbeitet mit Epithelzellen; das sind beispielsweise Zellen in der Darmwand. Er hat sie mithilfe von vier eingeschleusten Genen reprogrammiert und damit sogenannte induzierte pluripotente Stammzellen hergestellt. Diese Stammzellen mit induzierter Pluripotenz verhalten sich nahezu wie embryonale Stammzellen. Dieses Beispiel zeigt: Auch Yamanaka, der mit seiner Forschung dazu beitragen möchte, dass der Verbrauch von Embryonen künftig vermieden werden kann, benötigt den Vergleich mit embryonalen Stammzelllinien.
Die Mehrheit der seriösen Stammzellforscher betont immer wieder, dass für ihre Forschung zum Zwecke von Qualitäts- und Funktionalitätsvergleichen nach wie vor auch Arbeiten an embryonalen Stammzelllinien notwendig sind; auch in dieser Woche gab es dazu entsprechende Äußerungen und Schreiben. Genau deshalb fördert das BMBF beide Forschungsansätze. Allerdings muss ich sagen, dass die ganz überwiegende Mehrzahl der Mittel, 97 Prozent,
für die Forschung an adulten humanen Stammzellen und für die Untersuchung an Tiermodellen ausgegeben wird.
Trotzdem steht fest, dass in der Grundlagenforschung derzeit nur gleichzeitige Arbeiten an beiden Forschungsansätzen zum Erfolg und zu Therapieerfolgen auch im adulten Bereich führen können. Aus diesem Grunde bleiben beide Ansätze für die medizinische Forschung bedeutsam. Deswegen ist es notwendig, dass ausreichend geeignete embryonale Stammzelllinien zur Verfügung stehen.
Zudem weisen die Wissenschaftler darauf hin - Frau Hinz, ich bitte Sie, kurz zuhören -, dass noch viele Jahre der Grundlagenforschung erforderlich sein werden, bevor erste Handlungsoptionen verfügbar sind. Das sagen die Wissenschaftler selbst.
Ihnen immer zu unterstellen, sie würden etwas anderes behaupten, halte ich für nicht gerechtfertigt.
Ein Kennzeichen der Grundlagenforschung - auch das ist schon gesagt worden - ist die Nichtvorhersehbarkeit ihrer Ergebnisse. Deswegen geht es hier und heute vor allen Dingen darum, für Forschungschancen und Therapieoptionen zu sorgen.
Kolleginnen und Kollegen, unser Gesetzentwurf beinhaltet einen in der Vergangenheit liegenden festen Stichtag und - das wurde bisher nur selten angesprochen - die Aufhebung der Strafandrohung für deutsche Wissenschaftler. Wir wollen, dass der Grundsatzbeschluss des Deutschen Bundestages aus dem Jahre 2002 beibehalten wird. Besonders wichtig ist, dass wir durch die behutsame Novellierung des Stammzellgesetzes den gesellschaftlichen und ethischen Friedensschluss, den wir im Laufe der letzten Jahre erzielt haben, erhalten.
Ich will auch darauf hinweisen, dass eine einmalige Verschiebung des Stichtags entgegen dem, was vorhin behauptet wurde, keinerlei Auswirkungen auf das deutsche Embryonenschutzgesetz und seinen hohen Schutzstandard hat.
Mit unserem Gesetzentwurf würden wir ermöglichen, dass die hochrangige und alternativlose Forschung an bereits etablierten Stammzelllinien in Deutschland in einem klar begrenzten Umfang durchgeführt werden kann. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Monika Knoche ist die nächste Rednerin.
Monika Knoche (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Um es ganz klar zu sagen: Wer heute den Stichtag verschiebt, kann sich nicht mehr auf den Kernbestand des Gesetzes von 2002 berufen.
Denn ab dann würde die Embryonenproduktion für fremdnützige Zwecke gebilligt.
Es besteht kein Zweifel, dass Frauen in den Ländern, die diese neuen Zelllinien exportieren, zu Eizelllieferantinnen gemacht würden, weil dort kein Embryonenschutzgesetz existiert, in dem die Praxis der künstlichen Befruchtung geregelt ist. Dagegen wendet sich auch der Deutsche Frauenrat entschieden.
Vor sechs Jahren hat dieses Haus mit überwältigender Mehrheit seine Auffassung bekräftigt, dass kein einziger weiterer Embryo zum Zwecke der Forschung in Deutschland vernichtet werden soll. Diesen Konsens verlässt die Gruppe Röspel.
Es geht um weitaus mehr als um die Änderung eines Datums. Das Wichtigste ist die ethisch-moralische Dimension einer Gesetzesänderung. Im Mittelpunkt steht die zentrale Menschenrechtsfrage der Moderne, vor die wir alle durch die Entwicklung der Forschung und der Fortpflanzungsmedizin gestellt wurden. Sie lautet: Hat der menschliche Embryo eine Menschenwürde? Ist er ein Mensch in Entwicklung, auch und gerade dann, wenn er nicht durch Schwangerschaft in die Welt kommen wird, sondern durch künstliche Befruchtung ohne den Körper der Frau bereits auf der Welt ist?
Diese Auffassung, die ich vertrete, steht nicht im Gegensatz zum Menschenrecht der Frau, keiner Gebärpflicht im Fall der Schwangerschaft unterstellt zu werden. Eine Unterscheidung zwischen dem Status eines Embryos in vivo und dem Status eines Embryos in vitro ist nicht notwendig. Er hat Menschenwürde. Es gilt das prinzipielle Instrumentalisierungsverbot. Genau darüber reden wir heute. Es geht um die unbedingte Zweckfreiheit der menschlichen Existenz.
An diesem ethischen Prinzip müssen wir festhalten; denn der menschenrechtliche Status des Embryo darf nicht zur Disposition gestellt werden, weil es ein immer stärker wachsendes Interesse an seiner Nutzbarmachung gibt. Deshalb lautete das Credo der Bundestagsentscheidung von 2002: Der Embryo hat Menschenwürde, so wie wir es im Embryonenschutzgesetz bestimmt haben.
Ich frage: Kann, darf und wird diese Festlegung heute verworfen?
Ist die eigentliche Entscheidung des Parlamentes die, dass wir Nießnutz daraus ziehen wollen, dass der Embryo in vitro im Ausland zur humanbiologischen Sache erklärt wird, um in Deutschland neues Forschungsmaterial zu werden? Die immer neuen Begehrlichkeiten dieser Forschung dürfen uns als Gesetzgebende nicht handlungsleitend sein. Es geht um Grundsätzliches.In Deutschland ist der Embryo ein Rechtssubjekt, im Ausland ein materielles Objekt. Eine solche Haltung in Gesetz gegossen, kann kein moralisch-integrer Weg sein.
Die bestehenden Begrenzungen von 2002 fortzuschreiben, bedeutet jedoch keine Absage an die Stammzellforschung; denn es gibt überzeugende Alternativen, die schon heute therapeutische Hilfe ermöglichen. Sie liegen in der Reprogrammierung von Zelllinien und in der adulten Stammzellforschung. Diese gilt es zu stärken, weil sie einer humanistischen Humanmedizin entsprechen.
Wir können keine Forschung aufbauen und fördern, die darauf aufbaut, dass Embryonen erzeugt und zerstört werden, um frische Zelllinien zu gewinnen. Ich sage: Auch wenn sich der Embryo, um den es hier geht, in seinem frühen Entwicklungsstadium noch nicht als menschliches Gegenüber zeigt, so hat er doch die volle, aus ihm selbst kommende Kraft, sich als Mensch zu entwickeln und genau die Person zu werden, die normalerweise geboren wird.
Es gibt aus meiner Sicht keine Möglichkeit, ihm die Zugehörigkeit zur Menschheit abzusprechen und ihn davon auszuschließen. Es kann auch kein gestuftes Menschenwürdekonzept geben. Wer sagt, der Embryo sei nur dann ein Mensch, wenn er die Gebärmutter einer Frau erreicht und zur lebensfähigen Reife gelangt, sieht über die Anthropologie und über die Menschenrechtsphilosophie unserer Verfassung hinweg.
Ich trete für die prinzipielle Zweckfreiheit des menschlichen Lebens ein, egal wie und wo es sich zeigt. Das Verbot der fremdnützlichen Forschung als Tabu ist für mich die wertvollste zivilisatorische Errungenschaft, die wir aus historischer Erfahrung haben.
Mit der embryonalen Stammzellforschung ist eine neue Menschenrechtsfrage und eine neue Frauenfrage aufgekommen. Wir stehen vor der Aufgabe, den Wissensgewinn und das Generieren von neuen Therapien zu ermöglichen. Die Forschungsfreiheit hat Verfassungsrang. Sie muss sich innerhalb ethisch-moralischer Grenzen entwickeln.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss.
Monika Knoche (DIE LINKE):
Die Freiheit der Forschung findet ihre Grenze im Vorrang der Menschenwürde. Deshalb sage ich Nein zu einer Gesetzesänderung.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun der Kollege Carsten Müller.
Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach meiner Überzeugung zeichnet sich eine gute gesetzliche Regelung dadurch aus, dass sie konsistent ist
und dass sie sich in einen gesetzlichen Gesamtzusammenhang widerspruchsfrei einfügt. Würde man die Forschung an humanen embryonalen Stammzellen verbieten oder würde man eine solche Forschung infolge des Zeitablaufes unmöglich werden lassen, dann tun sich solche Widersprüche zwangsläufig auf. Ich will Ihnen einige wenige nennen.
Wir haben das gewichtige Problem der Spätabtreibungen. Verschiedene Redner haben bereits das Problem der sogenannten Pille danach angesprochen. Wir müssen uns dann auch fragen: Sind Nidationshemmer, ist die Spirale ethisch überhaupt vertretbar? Wir müssen uns womöglich auch fragen - der Kollege Tauss hat das angesprochen -, wie wir es mit dem Transplantationsgesetz halten.
Schauen wir uns die Situation an: Was wäre mit den Embryonen, die bislang für die Stammzellgewinnung verbraucht worden sind, passiert? Wenn wir eine solche Betrachtung anstellen, kommen wir zwangsläufig zu dem Ergebnis, dass die Verwendung dieser tiefgefrorenen Embryonen - von denen es auf der Welt Hunderttausende gibt -, nicht dazu geführt hat, dass diese Embryonen nicht als Mensch auf die Welt gekommen sind. Mithin war die Verwendung dieser Embryonen in der beschriebenen Art und Weise eben gerade nicht Conditio, Bedingung dafür, dass sie nicht als Menschen auf die Welt gekommen sind. Wo eine Conditio nicht da war, ist auch kein Raum für eine Verzweckungsdiskussion.
Der ethische Gehalt der Regelung des Jahres 2002 - dass von Deutschland kein Anreiz zur Herstellung und Tötung von Embryonen ausgeht - soll erhalten bleiben. Auch das ist ein Gesichtspunkt für eine gute und konsistente rechtliche Regelung. Denn ob eine rechtliche Regelung gut und konsistent ist, kann man daran festmachen, ob der Wesensgehalt erhalten wird; man kann es aber nicht daran festmachen, ob der exakte Wortlaut über die Jahre und Jahrzehnte fortgeschrieben wird.
Deutschland muss bei der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen international den Anschluss behalten, unter forschungspolitischen Gesichtspunkten wie unter dem Gesichtspunkt, dass wir an der ethischen Diskussion weiterhin teilnehmen. Wir müssen an dieser Diskussion teilnehmen, weil wir auch bei einer Verschiebung des Stichtages - für die ich plädiere - weiterhin durch eine vorgeschaltete Einzelfallprüfung bei jedem Importfall besonders hohe rechtliche und ethische Maßstäbe anlegen.
Hierzu dient natürlich auch das überhaupt nicht infrage zu stellende Embryonenschutzgesetz.
Ich möchte zum Schluss eine weitere Motivation nennen, weswegen ich den Gesetzentwurf für eine Verschiebung des Stichtages unterstütze und weswegen ich an Sie appellieren möchte, dem zuzustimmen: Der ethische Sinngehalt der Regelung des Jahres 2002 bleibt erhalten. Wir haben nach wie vor hohe ethische Maßstäbe, und wir ermöglichen weiterhin Forschung, die dem Heilen dient. Dieser Gedanke hat im Jahre 2002 eine große Befriedungswirkung gehabt. Ich bin mir sicher, dass eine solche Befriedungswirkung auch von dem Gesetzentwurf ausgeht, mit dem eine Verschiebung des Stichtages auf den 1. Mai 2007 angestrebt wird.
Deswegen hat dieser Gesetzentwurf über seinen sachlichen Gehalt hinaus - hier ist noch einmal das Stichwort der rechtlichen Konsistenz zu nennen - einen weiteren Wert, nämlich den Wert der Vermittlungs- und Befriedungswirkung.
Ich bitte Sie um Zustimmung.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält der Kollege Hans-Michael Goldmann.
Hans-Michael Goldmann (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich heute den Bundestag betrat, wurde ich gefragt, was ich von der Debatte erwarte. Ich habe geantwortet: Ich hoffe, dass der eine oder andere offen ist für die Argumente, die vorgetragen werden. Darum bitte ich jetzt.
Ich bin für die Beibehaltung der Stichtagsregelung; aber ich wehre mich entschieden dagegen, in die Ecke gestellt zu werden, ich sei nicht für eine menschenfreundliche Medizin
oder ich würde das Heilen von Menschen nicht als moralische Verpflichtung empfinden. Nebenbei gesagt: Dazu ist jeder Arzt per Eid verpflichtet.
Die FDP hat in einem Parlament nie die Mehrheit.
Ich glaube, deshalb ist es so, dass Liberale immer um Kompromisse ringen. Das haben wir 2002 getan. Der Kompromiss, den wir damals getroffen haben, war gut. Er wurde von der Gesellschaft insgesamt getragen.
Zu einem etwas unglücklichen Zeitpunkt hat dann die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefordert, dass sich in diesem Bereich etwas tun muss, weil wir in der Forschung abgehängt werden. Dann haben wir das getan, was unserem parlamentarischen Stil entspricht: Wir haben eine Anhörung dazu durchgeführt. Diejenigen, die die Anhörung verfolgt haben, konnten eigentlich nur zu einem Ergebnis kommen: Möglicherweise ist es an der einen oder anderen Stelle ein bisschen forschungsfreundlicher, wenn wir den Stichtag verschieben. Werden damit aber auch die Lebensinteressen von Menschen mit Behinderungen berücksichtigt?
Wie sind die Schreiben und Mahnungen der Organisationen einzustufen, die uns erreichen? Wie sieht es mit den Heilungserwartungen aus, die die Patienten an eine solche Regelung stellen? Wie ist das mit der grundgesetzlichen Verankerung des Schutzes und der Würde des Menschen vereinbar?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es tut mir leid: Gucken Sie ins Grundgesetz! Der Fall ist eindeutig geregelt und ausgelegt. Das verstehe auch ich als Nichtjurist. Gemäß dem Grundgesetz gibt es keinen aufsteigenden Lebensschutz, genauso wenig wie es einen abnehmenden Lebensschutz gibt.
Der Embryo ist menschliches Leben von Anfang an. Er hat von Anfang an eine Würde, und er muss von uns als Gesetzgeber geschützt werden. Deswegen ist es bei der heutigen Debatte unser Grundauftrag, uns bei dieser Frage am Grundgesetz zu orientieren.
Da ich selbst einmal Tiermedizin studiert habe, weiß ich, wie viel Spaß Forschung macht. Es gibt aber keine Freiheit der Forschung, sondern es gibt nur eine Forschung innerhalb des Rahmens, der im Grundgesetz verankert ist.
Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, dass der eine oder andere der Auffassung zuneigt, dass wir alles und jedes erforschen dürfen. Ich will hier keinen historischen Vergleich herstellen, aber bedenken Sie das bei Ihrer Entscheidung. Ich meine, dass ein solches Forschungsverständnis mit unserem Grundgesetz absolut nicht in Einklang zu bringen ist.
Der Kompromiss trägt.
Jetzt wird das neue Argument gebracht, dass wir den Wissenstransfer in diesem Bereich brauchen. Ich habe mit einer solchen Formulierung große Probleme. Man setzt im Grunde genommen darauf, embryonale Stammzellen sozusagen als Vergleichszellen bzw. Referenzmedium zu nutzen.
Wollen wir embryonale Stammzellen - Menschen bzw. zumindest Zellen, die eine menschliche Würde besitzen - als Referenzmedium nutzen? Ist das mit unserem Grundgesetz in Einklang zu bringen? Nein, da liegen Sie falsch. Es ist im Grundgesetz eindeutig definiert, wie wir damit umzugehen haben. Wenn menschliches Leben existiert, kommt ihm auch eine Menschenwürde zu. Es ist nicht entscheidend, ob sich der Träger dieser Würde bewusst ist. Genau so ist es definiert.
Nach der Summierung all der Gesichtspunkte, die mir bei der intensiven Anhörung noch klarer geworden sind, bin ich der Meinung: Der Kompromiss von 2002 war ein guter Kompromiss. Es gibt keinerlei Veranlassung, diesen Kompromiss zum jetzigen Zeitpunkt aufzukündigen. Ich bitte Sie, dafür zu stimmen, dass es bei der bisherigen Regelung bleibt.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Patrick Meinhardt.
Patrick Meinhardt (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute hat dieses Hohe Haus die Chance, auf einem guten ethischen Fundament ein tragfähiges wissenschaftliches Haus weiterzubauen.
Schon die Debatte vor wenigen Wochen war von einem ganz besonderen Geist geprägt, wie es der Vorsitzende der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Matthias Kleiner, beschrieben hat:
Die sachliche, ernsthafte und von hoher Verantwortung geprägte Debatte hat mich tief beeindruckt.
Für mich als Christ heißt es, aus der Verantwortung vor Gott und den Menschen heraus die Balance zwischen der Ethik des Heilens und der Ethik des Lebens zu finden.
Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland hat in Dresden nach langer und intensiver Debatte im Hier und Heute aus ihrer Verantwortung heraus einen Beschluss gefasst, den ich zitiere:
Die EKD-Synode hält eine Verschiebung des Stichtages nur dann für zulässig, wenn die derzeitige Grundlagenforschung aufgrund der Verunreinigung der Stammzelllinien nicht fortgesetzt werden kann und wenn es sich um eine einmalige Stichtagsverschiebung auf einen bereits zurückliegenden Stichtag handelt.
Unser Gesetzentwurf atmet denselben Geist eines schonenden Ausgleichs zwischen den beiden so prägenden Grundwerten des Lebensschutzes und der Forschungsfreiheit für therapeutische Zwecke.
Deswegen ist die Art und Weise, wie in den letzten Tagen mit dem EKD-Ratsvorsitzenden, Bischof Huber, öffentlich umgegangen wurde, als er festgestellt hat, dass die Kirchen akzeptieren müssen, dass es in Fragen der Stammzellforschung ein gewisses Spektrum an Meinungen geben könne und dass die Synode der EKD einen vertretbaren Kompromiss gefunden habe, aus meiner Sicht unerträglich. Der EKD-Ratsvorsitzende stellt sich einer ethischen Debatte inmitten unserer Gesellschaft. Dafür verdient er allen Respekt.
Wenn - wie gestern im Kölner Stadt-Anzeiger zu lesen war - der Papstberater Manfred Lütz, Mitglied des Direktoriums der Päpstlichen Ethik-Akademie im Vatikan, an die Öffentlichkeit tritt und die Ethik des Heilens als inhumanen Fundamentalismus bezeichnet, dann ärgert mich das, weil ich mich als Parlamentarier und Christ nicht in eine ethische Schmuddelecke stellen lassen will.
Wenn aber, Frau Ministerin, Frau Kollegin Aigner, Herr Kollege Röspel und auch Frau Kollegin Flach und meine Kolleginnen und Kollegen aus der FDP-Fraktion, derselbe Berater uns allen - den Befürwortern eines gelockerten Stammzellgesetzes, wie er es formuliert, egal ob es um Stichtagsverschiebung oder Stichtagsaufhebung geht - in der gestrigen Ausgabe des Kölner Stadt-Anzeigers in offizieller Funktion ?kabarettreife Volksverdummung? vorwirft, dann ist das Maß des Erträglichen überschritten.
Ich erwarte, dass sich ein Mann der Ethik auch an die Prinzipien des politischen Anstandes hält.
Lassen Sie uns besonnen und klug zur Abstimmung schreiten. Es ist ein gutes Zeichen für die Wissenschaftler, wenn wir sie heute bei internationalen Forschungsvorhaben entkriminalisieren. Es ist gut, dass hier ein breiter Konsens über die Bedeutung der adulten Stammzellforschung besteht, in die 97 Prozent der Fördermittel fließen. Es ist auch gut, dass dieses Hohe Haus weit über die einzelnen Gesetzentwürfe hinaus in dem Konsens verbunden ist, dass die Forschung an importierten embryonalen Stammzelllinien unter rigorosen Auflagen und Genehmigungen einen wesentlichen Beitrag zu einer Ethik des Heilens und damit zu einer Hoffnung für viele Kranke wird.
Das Zeichen, das heute vom Bundestag ausgehen muss, ist für mich klar: Wir wollen eine Freiheit der Forschung in ethischer Verantwortung. Deswegen bitte ich Sie, auf der Grundlage der bestehenden Beschlüsse des Bundestags der Verlegung des Stichtags zuzustimmen und somit ganz im Geiste unseres Parlaments einen vertretbaren Kompromiss aktiv mitzugestalten.
Eine letzte Bemerkung sei mir erlaubt. So sehr ich mich auch über die moralischen Zeigefinger in manch einem öffentlichen Debattenbeitrag in den letzten Tagen geärgert habe,
möchte ich mich doch bei Ihnen allen in diesem Parlament herzlich bedanken. Für mich als Parlamentsneuling war das die erste Debatte, die sich nicht an parteipolitischen Positionen, sondern an neuen Überzeugungsfraktionen orientiert hat. Wir alle haben intensiv gerungen, um eine richtige Entscheidung zu treffen. Es ist eine Stärke unserer Demokratie und ein Zeichen der ethischen Tiefe unserer Parlamentskultur, dass diese Debatte im Bewusstsein des Ernstes der Entscheidung in so großem Respekt vor der Meinung des anderen geführt worden ist. Herzlichen Dank dafür.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Annette Widmann-Mauz.
Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr 2002 habe ich mich gegen den Import von embryonalen Stammzellen und damit gegen die heute gültige Stichtagsregelung ausgesprochen. Im Jahre 2008 komme ich allerdings zu einer anderen Einschätzung. Damals wie heute lehne ich die Zeugung menschlichen Lebens zu einem anderen Zweck als seiner selbst ab und damit auch die Gewinnung von embryonalen Stammzelllinien, deren Voraussetzung die Zerstörung menschlichen Lebens ist.
Die Vorstellung, dass mit Zellen geforscht wird, zu deren Gewinnung menschliches Leben zerstört wurde, war für mich eigentlich unerträglich.
Der Deutsche Bundestag hat 2002 mit Mehrheit eine andere Regelung beschlossen. So befinden wir uns heute nicht mehr im Status der Unantastbarkeit; denn seit 2002 wird mit embryonalen Stammzellen in Deutschland geforscht. Konkrete Heilsversprechen, wie sie damals zum Teil für die Forschung formuliert wurden, haben sich seither nicht erfüllt. Dennoch kann ich nicht ignorieren, dass die Wissenschaft in den vergangenen sechs Jahren einen erheblichen Erkenntniszuwachs durch die Grundlagenforschung mit Stammzellen errungen hat. Die Erfolge in der adulten Stammzellforschung geben zu großen Hoffnungen Anlass. Aber ich kann auch nicht Augen und Ohren davor verschließen, dass ein Teil der Erfolge und möglicherweise in Zukunft noch größere Erfolge durch die Vergleichsforschung mit embryonalen Stammzellen möglich werden.
Ich muss auch konstatieren, dass mit dem Gesetz von 2002 verantwortungsbewusst umgegangen wurde.
Die Zentrale Ethikkommission für Stammzellforschung beim Robert-Koch-Institut hat die Kriterien für den Import und die Auswahl der Forschungsvorhaben streng angewendet. Die Entscheidungen dieses Gremiums wurden von keiner Seite infrage gestellt.
Auch ist von dieser Regelung kein Anreiz zur Produktion neuer Stammzelllinien ausgegangen. Also habe ich die Verpflichtung, mich diesen Tatsachen zu stellen, mich mit ihnen auseinanderzusetzen, und die Verantwortung, im Kontext des Jetzt mit den heutigen Erkenntnissen zu einer Entscheidung zu kommen. Dabei nehme ich ganz bewusst in Kauf, mich einem ethischen Dilemma auszusetzen; denn es geht um den Schutz menschlichen Lebens und um die wissenschaftliche Erkenntnis, die menschlichem Leben dient.
Bei dem Gesetzentwurf, der die Verschiebung des Stichtags vorsieht, geht es eben nicht um den Umgang mit Embryonen oder die Zerstörung menschlichen Lebens.
Das Gesetz legalisiert keine Verfahren zur Gewinnung von überzähligen Embryonen oder embryonalen Stammzellen. Es schließt den Verbrauch von Embryonen definitiv aus. Es geht um Zelllinien, die bereits vorhanden sind, ohne dass wir dazu beigetragen haben, weder aktiv noch passiv. Sie sind einfach da.
Ich kann diese Tatsache zwar wie im Jahr 2002 bedauern. Aber sie sind da und bieten die Möglichkeit der Erkenntnis, die menschlichem Leben dient. Die Verwendung dieser Zelllinien bedeutet auch nicht, dass dadurch die weitere Produktion unterstützt wird; denn ein deutlich in der Vergangenheit liegender Stichtag bietet die Gewähr, dass kein falscher Impuls aus Deutschland in diese Richtung geht.
Verliert ein Stichtag seinen ethischen Wert, wenn er verschoben wird? Diese Frage ist der Kern der Auseinandersetzung. Ein Stichtag ist die Barriere dafür, das ethische Dilemma ?zerstören, um zu gewinnen? irgendwie auszuhalten. Eine Verschiebung ist nur dann gerechtfertigt, wenn gewichtige Veränderungen eintreten, die unter objektiven und plausiblen Gesichtspunkten neue Entscheidungen erforderlich machen. Es stimmt, bloße Behauptungen sind dafür sicherlich nicht ausreichend. Aber nicht nur die Deutsche Forschungsgemeinschaft, sondern auch wissenschaftliche Vertreter der adulten Stammzellforschung halten die Verwendung von embryonalen Stammzellen zur Vergleichsforschung für unerlässlich, um die Potenziale zum Beispiel bei der Reprogrammierung voll ausschöpfen zu können und damit mittelfristig diese Forschung überflüssig zu machen. Nicht nur die Deutsche Forschungsgemeinschaft stellt fest, dass die in Deutschland zugelassenen Stammzelllinien verunreinigt sind und ihr Forschungspotenzial erheblich eingeschränkt und nicht mehr ausreichend ist.
Es gibt aber eine andere Meinung. Auch sie will ich nicht ignorieren. Ich kann und will der Wissenschaft weder bedingungslos vertrauen noch grenzenlos misstrauen. Aber aufgrund meines christlichen Menschenbildes habe ich ein Grundzutrauen zu Menschen und damit auch zu einem Verantwortungsbewusstsein in der Wissenschaft.
Der Stichtag behält auch nach einer Verschiebung - weil er deutlich in der Vergangenheit liegt - seine Funktion und seine ethische Bedeutung; denn er bietet weiterhin keinen Anreiz zur Produktion neuer Stammzelllinien. Er hält somit auch die Option offen, in der Zukunft gänzlich auf embryonale Stammzelllinien verzichten zu können und die darauf angewiesene Forschung überflüssig zu machen, wenn das Forschungsziel ausschließlich mit adulten Stammzellen erreicht werden kann.
So weit sind wir aber noch nicht, und deshalb ist es meines Erachtens zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht vertretbar, auf die Möglichkeit dieses notwendigen Erkenntnisgewinns zu verzichten. Diejenigen, die in der einmaligen Verschiebung des Stichtages ein Präjudiz für weitere Verschiebungen und damit die Aushöhlung dieses ethischen Grundgehalts sehen, können zu diesem Schluss eigentlich nur dann kommen, wenn sie den jeweils Entscheidenden eine verantwortungsbewusste Beurteilung und Bewertung der gegebenen Sachlage von vornherein absprechen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin.
Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU):
Das kann und will ich nicht. Auch wenn es unterschiedliche Einschätzungen gibt, wenn letzte Zweifel bleiben, sind wir als Parlament die richtige Instanz - die verantwortungtragende Instanz -, diese Entscheidung zu treffen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU):
Ich komme zum Schluss. - Ich habe für mich die Entscheidung im Jetzt getroffen. Ich habe mir diese Entscheidung nicht leicht gemacht, und ich habe darum lange gerungen. Ich habe sie im Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit, im Respekt auch vor der Meinung anderer, nach intensiver Auseinandersetzung und reiflicher Überlegung, nach einer gewissenhaften Abwägung getroffen. Ich entscheide mich heute für die Verschiebung des Stichtages.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist Frau Zypries.
Brigitte Zypries (SPD):
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sachverständigenanhörung hat erneut gezeigt, wie breit das Meinungsspektrum hinsichtlich der Frage der Stammzellforschung ist. Letzte Gewissheit und absolute Wahrheit darüber, ob die Forschung an neuen embryonalen Stammzellen nun erforderlich ist oder nicht, hat auch die Anhörung nicht ergeben. Die meisten Forscher halten sie für erforderlich, aber es wird auch immer einige geben, die das anders sehen. Alle Argumente - die forschungspolitischen, die verfassungsrechtlichen und die ethischen - wurden sorgfältig bedacht. In dieser Situation hat der Bundestag, und zwar er allein, eine Einschätzungsprärogative und die Entscheidungskompetenz. Ganz konkret bedeutet das: Der Bundestag darf sich für die Verschiebung des Stichtags entscheiden, und ich persönlich meine, er sollte es auch tun.
Die Stammzellforschung berührt unser Grundgesetz und die Grundrechte in doppelter Hinsicht. Da ist zunächst die Forschungsfreiheit. Mit dem Stammzellgesetz schränkt der Staat diese Forschungsfreiheit ein. Die Forschungsfreiheit wird um ihrer selbst willen geschützt - das möchte ich gerne sagen -, aber nicht im Hinblick auf irgendwelche Forschungserfolge. Auf welchem Gebiet jemand forscht, bleibt ihm überlassen. Der Staat hat darüber nicht zu entscheiden. Das ist gerade der Sinn der Forschungsfreiheit.
Allerdings hat der Staat auch die Pflicht, menschliches Leben zu schützen. Auch in der Petrischale ist der Embryo kein beliebiger Zellhaufen. Er steht unter dem Lebensschutz des Grundgesetzes. Ob dem Embryo in der Petrischale darüber hinaus auch Menschenwürde zukommt, ist umstritten. Aber selbst wenn man - anders als ich es tue - davon ausgeht, dass dieser Embryo in der Petrischale eine Menschenwürde besitzt, ändert dies nichts an dem Ergebnis im Hinblick auf unsere heute zu treffende Entscheidung. Eine Verschiebung des Stichtags im Stammzellgesetz ist verfassungsrechtlich zulässig. Für den Schutz des Embryos in vitro sorgt nämlich bereits das Embryonenschutzgesetz, und zwar mit dem schärfsten Schwert, das unserem Staat, unserer Rechtsordnung zur Verfügung steht: dem Strafrecht. Beim Stammzellgesetz geht es dagegen nicht um Embryonen. Das dürfen wir nicht vergessen.
Es geht um embryonale Stammzellen, und die sind nicht in der Lage, sich zu einem kompletten Organismus zu entwickeln, und sie sind auch keine Träger von Grundrechten.
In der Sachverständigenanhörung ist die Ansicht vertreten worden, auch diese einzelnen, nicht entwicklungsfähigen Stammzellen besäßen Menschenwürde, postmortal und quasi vom Embryo abgeleitet. Um es ganz deutlich zu sagen: Ich halte diese Ansicht für falsch; darüber hinaus ist sie unter den Verfassungsjuristen wirklich eine ganz singuläre Einzelmeinung.
Für den Grundrechtsschutz des Embryos in vitro hat das Stammzellgesetz also lediglich eine mittelbare Bedeutung, indem es den Embryonenschutz verstärkt. Das Stammzellgesetz verhindert, dass von Deutschland ein Anreiz ausgeht, im Ausland Embryonen nur deshalb zu verbrauchen, weil man Stammzellen für den Export nach Deutschland gewinnen will. Diese Verstärkung des Embryonenschutzes ist richtig und wichtig.
Aber wir müssen auch das Recht der Wissenschaftler auf Freiheit ihrer Forschung achten. Schließlich darf nicht jedes wissenschaftliche Interesse daran vernachlässigt werden, etwa die wissenschaftliche Grundlagenforschung für die Transplantationsmedizin oder die Krebsbekämpfung zu verbessern. Auch dafür muss die Politik sorgen.
Wir brauchen also einen fairen Ausgleich zwischen den verschiedenen Belangen. Ich meine, wir erreichen das am besten dadurch, dass wir den Stichtag einmal verschieben, zumal wir von den Naturwissenschaftlern wissen, dass dies die richtige Lösung ist, weil sie ausreichend ist, um die erforderlichen und notwendigen Forschungen weiter betreiben zu können, und eine weiter gehende Lösung mehr geben würde, als man notwendigerweise braucht.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält der Kollege Hubert Hüppe.
Hubert Hüppe (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle haben bei der Anhörung im März vernommen: Es gibt nach zehn Jahren weltweiter Forschung mit embryonalen Stammzellen keine einzige Therapie. Nach zehn Jahren gibt es noch nicht einmal eine einzige Studie am Menschen, es ist noch nicht einmal ein Versuch gemacht worden, und das, obwohl die Deutsche Forschungsgemeinschaft uns noch in ihrer Stellungnahme von 2006 angekündigt hat - das klang auch heute oft an -, dass es schon 2007 den ersten therapeutischen Versuch geben wird.
Es hat sich gezeigt: Die Forschung mit embryonalen Stammzellen ist bis heute therapeutisch nutzlos. Auch eben hat man argumentiert: Wir brauchen diese Stammzellen aber zum Vergleich mit den Ergebnissen der adulten Stammzellforschung; dabei forscht man mit den Stammzellen, die in unserem Körper sind und für die kein Embryo getötet werden muss. Mit diesen Zellen werden schon heute Tausende von Menschen geheilt. Man muss sagen: Die Anhörung hat ergeben, dass nicht eine einzige Studie vorliegt, die den Nutzen der Forschung mit embryonalen Stammzellen beweist.
Ich wiederhole: Es gibt keine Studie - weder eine der Deutschen Forschungsgemeinschaft noch irgendeine andere -, die uns diesen Nutzen beweist. Wenn man schon wissenschaftlich argumentiert: Diejenigen, die fordern, dass man den Stichtag verschiebt, sind beweispflichtig; sie müssen aufzeigen, dass man diese Zellen tatsächlich braucht.
Auch als Behindertenbeauftragter meiner Fraktion sage ich - ich finde es immer schlimm, wenn Menschen, die todkrank sind, instrumentalisiert werden -: Kein Mensch ist mit embryonalen Stammzellen geheilt worden. Das einzige Ergebnis, das wir haben, sind Tausende von Versuchstieren, die bei diesen Versuchen gestorben sind, weil sie Tumore bekommen haben. Es ist deutlich - wir wissen es heute alle -: Embryonale Stammzellen führen zu Tumoren, und deswegen gibt es auch keine Heilung.
In der Anhörung vor einem Jahr wurde uns gesagt, die Firma ESI in Singapur - viel gefeiert und mit Hunderten von Millionen Euro ausgestattet - produziere Stammzellen, die man hier gerne haben möchte, weil sie für Therapien geeignet seien. Diese Firma hat die therapeutische Forschung im letzten Jahr eingestellt; sie verkauft nur noch embryonale Stammzellen. Sie sei angeblich die einzige Firma gewesen, die Zellen habe, die nicht auf tierischem Nährboden kultiviert worden seien. Auf ihrer Internetseite heißt es, man werde eine neue Internetseite erstellen, aber das werde noch einige Wochen dauern.
Herr Yamanaka und Herr Thomson haben zum Vergleich ?alte? Stammzelllinien genommen. Sie haben gezeigt, dass man Hautzellen reprogrammieren kann. Wir brauchen also keine neuen embryonalen Stammzellen. Für diese Zellen braucht kein Embryo getötet zu werden; sie könnten für den Patienten individuell hergestellt werden.
Meine Damen und Herren, wenn Sie sagen, unsere Forscher bräuchten dies aber, dann erklären Sie mir einmal, warum einer der bekanntesten Stammzellforscher, der Schöpfer des Klonschafs Dolly, Ian Wilmut, im November öffentlich gesagt hat, er führe keine embryonale Stammzellforschung mehr durch, weil sie sich nicht lohne, und arbeite nur noch mit reprogrammierten Zellen. Wenn im Ausland solche Forscher, die an alle weltweit verfügbaren Stammzelllinien herankommen können, sagen, sie bräuchten diese Forschung nicht, weil sie erfolglos sei, warum haben wir dann ein Dilemma, was Ian Wilmut und andere nicht haben?
Wenn wir das Geld, das zum Beispiel Herr Brüstle aus dem Bonn-Berlin-Ausgleichsfonds, aus Ländermitteln und universitären Mitteln bekommt - es sind über 50 Millionen Euro -, in eine öffentliche Stammzellbank mit Stammzellen aus Nabelschnurblut gäben, die es immer noch nicht deutschlandweit gibt, dann könnten wir Leben retten. Warum leisten wir es uns, dass diese wertvollen Stammzellen weggeworfen werden? Warum setzen wir dieses Geld nicht für eine Therapie ein, mit der wir den Menschen heute helfen können und mit der weltweit Menschenleben gerettet werden könnten?
Meine Damen und Herren, es geht heute nicht um die Verschiebung irgendeines Datums, sondern es geht um eine Verschiebung unserer Ethik und unserer Normen. Ich bitte Sie: Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu! Sie haben die Chance, dass die Tür nicht noch weiter aufgemacht wird.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Peter Hintze ist der nächste Redner.
Peter Hintze (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem Gesetz für eine menschenfreundliche Medizin wollen wir dem Anliegen der überwältigenden Mehrheit der deutschen Wissenschaft Rechnung tragen. Von den Juristen bis zu den Medizinern ist das Votum der Deutschen Forschungsgemeinschaft eindeutig. Die Selbstverwaltung der deutschen Hochschulwissenschaft appelliert an den Deutschen Bundestag, Stichtag und Strafandrohung zu streichen. Diesem fundierten Votum sollten wir mit einem klaren Ja folgen.
Manche Redner haben in dieser Debatte versucht, einen Gegensatz zwischen medizinischer Forschung und Lebensschutz zu konstruieren. Ihnen halte ich ganz liebevoll entgegen: Die medizinische Forschung in Deutschland dient dem Lebensschutz, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Mich hat bei der Anhörung stark bewegt, dass unsere Wissenschaftler - Ärzte, Biologen -, die ihr ganzes Wissen und Können einsetzen, um Krankheiten heilen zu können, denen wir bisher ohnmächtig ausgeliefert sind, uns fragen: Ist unsere Arbeit eigentlich gewünscht? Ist es gewünscht, dass wir in der Grundlagenforschung arbeiten, auch wenn wir noch nicht wissen, ob morgen oder übermorgen eine Antwort auf Alzheimer und Krebs gegeben werden kann? Ich möchte für die Mehrheit des Deutschen Bundestages sagen: Jawohl, wir sind dankbar für das, was hier Biologen und Mediziner für die kranken Menschen in Deutschland leisten.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Hintze, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Peter Hintze (CDU/CSU):
Ich möchte im Zusammenhang ausführen.
Die medizinische Forschung in Deutschland hat einen moralischen und einen juristischen Anspruch darauf, dass sie mit geeigneten Zelllinien arbeiten kann, die auf reinen Trägersubstanzen kultiviert sind. Nun haben hier Redner - auch mein Vorredner hat es getan - in den Raum gerufen, es gebe noch keine Therapieerfolge. Meine Damen und Herren, wie verstehen wir denn Wissenschaft? Alle großen wissenschaftlichen Erkenntnisse der Menschheit haben ihren Anfang in der Grundlagenforschung genommen. Wer sagt, er lasse Grundlagenforschung nur zu, wenn man ihm den Therapieerfolg garantiert, hat nicht verstanden, was Wissenschaft in einem freien Staat bedeutet.
In einem freiheitlichen Staat, in unserem Staat mit seinem Grundgesetz hat die Wissenschaft einen Anspruch darauf, dass der Bundestag sich hinter die Wissenschaftsfreiheit stellt und sie verteidigt - im Dienste und zum Wohle des Menschen.
Jetzt wird es interessant. Es geht um die Menschenwürde und das Recht auf Leben. Jawohl! Im Namen der Kollegin Flach, der Kollegin Reiche und des Kollegen Stöckel sowie aller, die unseren Antrag unterschrieben haben, sage ich: Uns geht es um die Menschenwürde und das Recht auf Leben.
Es macht einen Unterschied, ethisch und juristisch, ob es um den Menschen oder um anderes Achtenswertes im Kontext des menschlichen Lebens geht. Im Klartext heißt das: Ein Mensch ist ein Mensch,
und eine Zelllinie ist eine Zelllinie. Wer das gleichsetzt, muss juristisch und ethisch scheitern.
Diese Gleichsetzung geschähe zulasten des Menschen. Der Schutz des menschlichen Lebens - dazu fordert uns die Verfassung auf -, auch durch die Weiterentwicklung unserer medizinischen Fähigkeiten, ist eine große moralische Aufgabe. Zu dieser sind wir verpflichtet -
in klaren Grenzen und in einem klaren Rahmen; das wurde bereits von vielen Rednern beschrieben.
Ich möchte einem Kollegen von der FDP-Fraktion danken, der mich gebeten hat, dies noch einmal deutlich zu machen; denn hier werden dauernd falsche Gegensätze aufgebaut.
Wir haben in unserer Rechtsordnung einen ganz klaren Rahmen, der uns leitet; das hat die Bundesjustizministerin klar und deutlich vorgetragen.
Heute stehen wir nun vor der Frage: Machen wir es ein bisschen richtig, oder machen wir es ganz richtig?
Den Stichtag einmal zu verschieben, hieße, das leckgeschlagene Schiff leer zu pumpen und wieder auf die hohe See zu schicken. Machen wir es lieber ganz richtig! Machen wir das Forschungsschiff hochseefest! Streichen wir den Stichtag! Streichen wir die entwürdigende Strafandrohung, die über unseren Forschern schwebt! Setzen wir uns für eine Ethik des Heilens ein! Ich bitte Sie um die Zustimmung zum Gesetzentwurf ?Flach, Reiche, Stöckel? und vieler anderer Kollegen, denen es mit Herz und Verstand um Menschenwürde und Lebensschutz und um eine medizinische Wissenschaft geht, die den Menschen im Zentrum sieht.
Ich danke Ihnen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nun hat die Kollegin Hildegard Müller das Wort.
Hildegard Müller (CDU/CSU):
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sie alle kennen vom Lebensmitteleinkauf die Frage: Darf es ein bisschen mehr sein? Ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger - im Alltag werden diese Mengenbezeichnungen oft verwendet. Sie schaden in der Regel auch nicht. Bisweilen kommt man sogar ganz gut damit durch, sich nicht nur auf eine Sache zu konzentrieren, sondern mal hier und mal da zu sein und sich mal mehr und mal weniger einzubringen.
Alles andere als Alltag sind jedoch die Abstimmungen, die uns nun unmittelbar bevorstehen. Es sind Abstimmungen, bei denen es um unsere persönlichen ethischen Grundsätze geht. Für uns alle stehen Entscheidungen an, bei denen es ?ein bisschen? oder ?etwas? nicht gibt.
Die beiden großen christlichen Kirchen haben diese langsam zu Ende gehende Woche zur alljährlichen Woche für das Leben ausgerufen. Für unsere heutige Debatte hätte dies kaum passender sein können. Was heißt ?für das Leben?? Das möchte ich vertiefen.
Leben - da bin ich ganz anderer Meinung als manch anderer heute hier - entsteht nicht nur ein bisschen.
Leben in der Form einer befruchteten Eizelle ist vollständig da;
es ist kein Zellklumpen; es ist Leben von Anfang an, ganz und vor allem unwiderruflich.
Eine Abstufung der Menschenwürde und des Lebensschutzes in den verschiedenen Entwicklungsstadien des Menschen ist für mich inakzeptabel und für mich persönlich unvereinbar mit dem Grundgesetz. Deshalb stimme ich gegen eine Aufhebung des Stichtages.
Geben wir uns nicht einer Illusion hin, wenn wir glauben würden, der wissenschaftliche Prozess ließe sich noch begrenzen, lieber Peter Hintze, wenn wir ihm nicht von Anfang an feste Grenzen setzen? Wir müssen uns auch politisch entscheiden, hier in diesem Haus bei allem, was wir an Forschung wollen, Grenzen zu setzen.
Auch eine einmalige Verschiebung ist abzulehnen. Ich möchte den Spruch anbringen, der so gern verwendet wird: Einmal ist keinmal. Ich entgegne entschieden: Einmal ist jedes Mal. Den Stichtag zu verschieben, heißt ihn abzuschaffen.
Vor uns steht eine Gewissensentscheidung. Ich wende mich insbesondere an die Kolleginnen und Kollegen, die noch Zweifel haben; denn trotz aller Diskussionen und Informationen ist dies auch heute nicht auszuschließen und menschlich nur zu verständlich. Deshalb möchte ich an dieser Stelle auf einen Punkt eingehen, der auch heute eine große Rolle gespielt hat. Das ist die Frage der Ethik des Heilens. Ich habe gerade deutlich gemacht, was ich unter Leben verstehe. Für mich steht die Ethik des Lebens vor der Ethik des Heilens. Die Ethik des Heilens dient der Ethik des Lebens.
Sie kann nur positiv korrelieren. Das heißt nicht, dass wir uns gegen die Forschung stellen. Wir sind für die Forschung an Stammzellen. Diese positive Symbiose kann in diesem Bereich jedoch nur die adulte Stammzellforschung geben.
Es wurden heute viele Beispiele genannt. Ich möchte ganz praktisch an die Forschungsergebnisse von Herrn Professor Strauer aus meiner Heimatstadt Düsseldorf erinnern: Adulte Stammzellforschung ist unbedenklich, die Stammzellen sind gut zu gewinnen, und die adulte Stammzellforschung trägt die Hoffnung auf Heilung in sich. Wir haben bereits heute praktische Anwendungsgebiete.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt heute keinen Antrag, der einen Kompromiss zwischen den Positionen darstellt.
Wer für die Aufhebung oder für eine einmalige Verschiebung des Stichtages stimmt, nimmt heute eine Abwägung zulasten des Lebens vor.
Argumente, die einer einmaligen Verschiebung gelten, würden Sie selbst in Zukunft wieder infrage stellen. Wenn das Argument, dass man frische Zelllinien braucht, jetzt gilt, dann gilt es in einigen Jahren wieder.
Gilt dieses Argument aber überhaupt? Warum sind seit Januar 2008 fünf Anträge auf den Import embryonaler Stammzellen genehmigt worden? Wissenschaftler glauben also offensichtlich nach wie vor an die Möglichkeit, mit und an alten Zelllinien zu forschen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer zweifelt, den bitte ich, sich gegen eine Verschiebung auszusprechen; denn eine Entscheidung gegen den Schutz des Lebens ist unumkehrbar. Deshalb bitte ich alle, die zweifeln, für eine Beibehaltung des jetzigen Stichtages zu stimmen und sich für eine stärkere Förderung der adulten Stammzellforschung auszusprechen.
Ich möchte Sie alle herzlich bitten und auffordern, das Gleiche zu tun, damit der 11. April 2008 ein Tag für den uneingeschränkten Lebensschutz wird und damit diese Woche eine wirkliche Woche für das Leben wird.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege René Röspel.
René Röspel (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben fast zwei Stunden einer - wie ich glaube - guten Debatte hinter uns. Dennoch erlauben Sie mir, dass ich auf einen Vorwurf eingehe, der mich wirklich geärgert hat und den wir in den letzten Wochen immer wieder fälschlicherweise in der Debatte gehört haben. Die Behauptung, über eine Stichtagsverschiebung solle das aktive Töten von Embryonen legitimiert werden, ist schlicht und einfach falsch.
Es geht nicht um das Zerstören von Embryonen, sondern es geht darum, wie man mit dem umgeht, was bereits existiert, nämlich mit Stammzelllinien, die im Ausland ohne unser Zutun hergestellt worden sind und deren Herstellung wir leider nicht haben verhindern können. Mit einer Verschiebung des Stichtags wird kein einziger Embryo zerstört, es wird allerdings auch kein einziger gerettet.
Es gab in dem Grundsatzbeschluss von 2002, der in diesem Land lange Jahre Rechtsfrieden gebracht hat, drei wesentliche Kriterien: Erstens. Für deutsche Forschung soll kein Embryo zerstört werden. Zweitens. Es soll auch kein Anreiz ans Ausland gehen, dass so etwas geschieht. Drittens. Mit den schon vorhandenen Stammzelllinien soll in Deutschland unter bestimmten Bedingungen Forschung möglich sein.
Wenn man diese drei Kriterien als Voraussetzungen für eine befriedete Diskussion in Deutschland akzeptiert, dann ist es der Mühe wert, die drei vorliegenden Anträge auch wirklich einmal an diesen Kriterien, die sich bewährt haben, zu messen. Ob wir heute die Debatte abschließen und in den nächsten Jahren weiterhin Rechtsfrieden haben werden, das liegt, liebe Kolleginnen und Kollegen, gleich in Ihrer Hand.
Mit der Abschaffung des Stichtages - dies fordert der Gesetzentwurf der Kolleginnen und Kollegen Flach, Stöckel und anderer - würden die Forscher in diesem Land tatsächlich viel mehr Möglichkeiten bekommen. Aber es wird gleichzeitig das andere wichtige Anliegen, dass dem Ausland kein Anreiz gegeben wird, embryonale Stammzellen zu Forschungszwecken herzustellen, preisgegeben. Damit würde eine wichtige Position aufgegeben.
Das würde dazu führen, dass eine der Seiten diesen Weg nicht mitgehen könnte. Damit wäre ein Ende des Rechtsfriedens absehbar.
Die Beibehaltung des Stichtages, wie von den Kolleginnen Hinz, Klöckner und anderen gefordert, würde über kurz oder lang dazu führen, dass keine Zelllinien mehr zur Verfügung stehen. Gegen die Hoffnung, dass die 21 in Deutschland derzeit zugelassenen Stammzelllinien noch viele Jahre halten werden, spricht nämlich die zellbiologische Erfahrung. Die Forscher haben uns ja mitgeteilt, dass diese Hoffnung trügt. Es werden also immer weniger Zelllinien werden. Die Beibehaltung des Stichtages würde faktisch aufgrund der abnehmenden Zahl der Stammzelllinien letztlich zu dem gleichen Ergebnis führen wie der Antrag von Herrn Hüppe und anderen Kollegen, nämlich zu einem Forschungsverbot.
So würde es entweder faktisch oder juristisch nicht mehr möglich sein, in Deutschland diese Forschung zu betreiben. Das wäre wiederum für die Forschungsseite nicht tragbar. Sie würde den Kompromiss, den wir seinerzeit gefunden haben, aufkündigen und den Mittelweg verlassen.
Die geschätzte Kollegin Margot von Renesse begründete 2002 in der Debatte ihr Votum für einen Mittelweg, der sich an den genannten drei Kriterien orientiert, damit,
dass ein ?Nein-Gesetz?
- ich würde lieber von einem faktischen Verbot dieser Forschung sprechen -
an der Klippe der Verfassung scheitern würde.
Für mich persönlich beginnt menschliches Leben mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle. Die Frage aber, ab wann menschliches Leben Träger von Menschenwürde ist, ist gesellschaftlich noch nicht entschieden. Das ist ja auch eine schwere Entscheidung.
Ich frage Sie nun allen Ernstes: Sollen wir es darauf ankommen lassen, dass ein Forscher vor Gericht zieht, um die Erlaubnis zum Import einer vier Jahre alten Stammzelllinie einzuklagen?
Sind Sie sich wirklich so sicher, dass jedes Gericht in Deutschland einer solchen Stammzelllinie, die vor vier Jahren aus einem Embryo hergestellt wurde - bedauerlicherweise, aber nicht zu ändern -, die im Labor bearbeitet wurde, die 20-mal von einer Zellkulturflasche in die andere umgefüllt wurde, die zehnmal eingefroren und zehnmal aufgetaut worden ist, die viele Eigenschaften verloren hat und nichts mehr mit einem Embryo zu tun hat, Menschenwürde und Lebensschutz zubilligen würde? Ich bin mir nicht so sicher, dass das so sein wird.
Deswegen frage ich Sie alle: Wollen wir diese Entscheidung in letzter Instanz einem Gericht überlassen, oder liegt es nicht vielmehr in unserer parlamentarischen und politischen Verantwortung, eine stabile Übereinkunft in einem ethischen Dilemma zu treffen, die einerseits tatsächlich Forschung ermöglicht, und zwar in einem viel größeren Umfang als seit 2002, und andererseits den Lebensschutz von Embryonen gewährleistet?
Ich glaube, wir sollten jetzt die entsprechende politische Entscheidung in einem ethisch nicht lösbaren Dilemma treffen.
Deshalb appelliere ich an Sie, den Gesetzentwurf von Röspel, Aigner und anderen auf eine einmalige Verschiebung des Stichtages zu unterstützen. Damit würden wir für viele Jahre in Deutschland wieder Rechtsfrieden herstellen, vielleicht sogar bis zu dem Zeitpunkt, zu dem wir auf embryonale Stammzellforschung verzichten können.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich schließe die Aussprache und weise darauf hin, dass eine Reihe von Reden zu Protokoll gegeben worden sind und dass es auch eine Vielzahl von persönlichen Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung gibt.
Bevor wir mit den Abstimmungen beginnen, bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit für einige Hinweise zum Ablauf des Abstimmungsverfahrens. Wir kommen gleich zu den Abstimmungen über insgesamt fünf Vorlagen zur Änderung des Stammzellgesetzes. Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung hat in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8658 empfohlen, über diese fünf Vorlagen einen Beschluss herbeizuführen. Eine darüber hinausgehende Beschlussempfehlung hat der Ausschuss dazu nicht abgegeben.
Wir werden über die Vorlagen in der in der Tagesordnung vorgesehenen Reihenfolge namentlich abstimmen: erstens über den Gesetzentwurf der Abgeordneten Ulrike Flach und weiterer Abgeordneter, zweitens über den Gesetzentwurf des Abgeordneten Hubert Hüppe und weiterer Abgeordneter, drittens über den Gesetzentwurf des Abgeordneten René Röspel und weiterer Abgeordneter. Sollte einer dieser Gesetzentwürfe die Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen, endet das Abstimmungsverfahren. Die anderen, noch nicht abgestimmten Vorlagen wären damit erledigt. Erhält keiner dieser Gesetzentwürfe die erforderliche Mehrheit, stimmen wir in einer vierten und fünften namentlichen Abstimmung über den Antrag und dann über den Gesetzentwurf der Abgeordneten Priska Hinz und weiterer Abgeordneter ab.
Wir kommen nun zur Abstimmung.
Tagesordnungspunkt 22 a: Abstimmung über den von den Abgeordneten Ulrike Flach, Rolf Stöckel, Katherina Reiche und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurf eines Gesetzes für eine menschenfreundliche Medizin - Gesetz zur Änderung des Stammzellgesetzes; Drucksache 16/7982 (neu). Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Bei der Stimmabgabe bitte ich alle Kolleginnen und Kollegen, sorgfältig darauf zu achten, dass die Stimmkarten, die sie verwenden, ihren Namen tragen.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Nein, da vorne fehlt noch jemand. - Sind jetzt die Plätze besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den von den Abgeordneten Ulrike Flach, Rolf Stöckel, Katherina Reiche und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurf eines Gesetzes für eine menschenfreundliche Medizin - Gesetz zur Änderung des Stammzellgesetzes auf Drucksache 16/7982 (neu) bekannt: Abgegebene Stimmen 579, mit Ja haben gestimmt 126, mit Nein haben gestimmt 443,
Enthaltungen 10.
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von den Abgeordneten Hubert Hüppe, Marie-Luise Dött, Maria Eichhorn und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit menschlichen embryonalen Stammzellen auf Drucksache 16/7983. Wir kommen damit zur zweiten namentlichen Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführer und Schriftführerinnen, mit der Auszählung zu beginnen.
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Abgeordneten Hubert Hüppe, Marie-Luise Dött, Maria Eichhorn und weiterer Abgeordneter zur Änderung des Gesetzes zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit menschlichen embryonalen Stammzellen auf Drucksache 16/7983 bekannt: Abgegebene Stimmen 576. Mit Ja haben gestimmt 118, mit Nein haben gestimmt 442, Enthaltungen 16. Der Antrag ist damit in zweiter Beratung abgelehnt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Abgeordneten René Röspel, Ilse Aigner, Jörg Tauss und weiterer Abgeordneter zur Änderung des Stammzellgesetzes auf Drucksache 16/7981. Wir kommen damit zur dritten namentlichen Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Abgeordneten René Röspel, Ilse Aigner, Jörg Tauss und weiterer Abgeordneter zur Änderung des Stammzellgesetzes auf Drucksache 16/7981 bekannt: Abgegebene Stimmen 580. Mit Ja haben gestimmt 346,
mit Nein haben gestimmt 228, Enthaltungen 6. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen damit zur
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit der Mehrheit des Hauses angenommen.
Damit entfällt die Abstimmung über die weiteren Vorlagen. Die Vorlagen auf den Drucksachen 16/7985 (neu) und 16/7984 sind damit erledigt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums
- Drucksache 16/5048 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)
- Drucksache 16/8783 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Dirk Manzewski
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Ne¨kovic
Jerzy Montag
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Gespräche außerhalb des Plenarsaals fortzusetzen; sonst kann ich die Aussprache nicht eröffnen. - Vielleicht ist es auch den Grünen möglich, die Aufmerksamkeit auf die Redner zu lenken. Dafür wäre ich sehr dankbar.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Brigitte Zypries.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz, Alfred Hartenbach.
Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß zwar, dass Ihnen Frau Zypries lieber gewesen wäre, aber sie bittet herzlich um Entschuldigung. Sie hat einen ganz eiligen Termin, den sie wahrnehmen möchte. Ich denke aber, ihr nehmt auch mit mir Vorlieb.
- Danke, wunderbar.
Die wichtigsten Ressourcen unseres Landes sind gute Ideen, Kreativität und Innovationen. Sie sind es, durch die Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze in Deutschland gesichert werden. Eine entscheidende Voraussetzung für unseren wirtschaftlichen Erfolg ist daher ein wirksamer Schutz des geistigen Eigentums. Mit dem Gesetz, das wir heute beschließen, verbessern wir diesen Schutz. Wir sorgen dafür, dass Produktpiraten und Fälscher besser bekämpft werden, und wir stellen sicher, dass die Rechte des geistigen Eigentums auch wirksam durchgesetzt werden können. Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir denjenigen, deren Rechte verletzt werden, mehr Möglichkeiten geben, sich wirksam gegen Schädiger durchzusetzen.
Ein wichtiger Baustein ist die Erweiterung von Auskunftsansprüchen. Bereits heute gibt es einen zivilrechtlichen Auskunftsanspruch des Rechtsinhabers gegenüber demjenigen, der sein geistiges Eigentum verletzt. Der Geschädigte kann Informationen über den Ursprung und die Vertriebswege gefälschter Waren verlangen. Er kann Auskunft über die Hersteller und Lieferanten sowie über die Menge der Waren und deren Preis fordern. Allerdings bestehen diese Ansprüche nur gegenüber dem Schädiger, und diesen zu identifizieren, ist oft gar nicht einfach. In Zukunft soll ein Kläger daher auch von Dritten, die nicht selbst Rechtsverletzer sind, Auskünfte verlangen können. Das kann zum Beispiel ein Internetprovider sein, über dessen Dienste der Handel mit Plagiaten abgewickelt worden ist. Das können aber auch Spediteure sein, die im guten Glauben gefälschte Ware transportiert haben. Mit ihrer Hilfe kann der Geschädigte an die wirklichen Fälscher und Raubkopierer herankommen und ihnen dann durch Anordnungen der Zivilgerichte das Handwerk legen.
Im Gesetzentwurf ist vorgesehen, dass über den Auskunftsanspruch ein Richter entscheiden muss, wenn bei der Auskunft Verkehrsdaten aus dem Bereich der Telekommunikation verwendet werden. Wenn etwa ein Provider Auskunft geben muss, wer im Internet zu einem bestimmten Zeitpunkt hinter einer sogenannten dynamischen IP-Adresse gesteckt hat, dann geht es um Daten, die vom Fernmeldegeheimnis geschützt sind. Eine Preisgabe solcher Informationen soll daher nur dann zulässig sein, wenn vorher ein Richter den Anspruch geprüft und diesem zugestimmt hat.
Der Richtervorbehalt ist auch deshalb sinnvoll, weil es den Dritten, etwa den Internetprovider, von eigenen Prüfungen entlastet. Er hat nämlich eigentlich nichts mit der Sache zu tun.
- Das weiß ich doch, Jerzy. - Deshalb soll nicht ihm die Last aufgebürdet werden, zu entscheiden, ob tatsächlich ein Anspruch besteht und die sensiblen Daten herausgegeben werden dürfen. Es ist daher kein Zufall, dass auch die europäische Richtlinie, die wir mit diesem Gesetzentwurf umsetzen, davon ausgeht, dass für solche Auskunftsansprüche die Gerichte die Auskunft anordnen müssen.
Auch in einem anderen Punkt orientieren wir uns an den europäischen Vorgaben. Voraussetzung für den Auskunftsanspruch ist, dass eine Rechtsverletzung in gewerblichem Ausmaß vorliegt. Bei bloßen Bagatellverstößen besteht dieser Anspruch also nicht.
Über den Auskunftsanspruch, den Richtervorbehalt und das erforderliche Ausmaß der Rechtsverletzung haben wir lange diskutiert. Mit der Einschränkung, dass eine Rechtsverletzung ausdrücklich in gewerblichem Ausmaß vorliegen muss, haben wir auf die Formulierung der EU-Richtlinie zurückgegriffen, Herr Krings. Dies wurde auch von der Mehrzahl der Sachverständigen in der Anhörung des Rechtsausschusses angeregt.
Wir sollten auch nicht vergessen, Herr Montag, dass der Europäische Gerichtshof jüngst entschieden hat, dass sich aus der EU-Richtlinie für die nationalen Gesetzgeber keine zwingende Verpflichtung ergibt, einen solchen Auskunftsanspruch zu schaffen.
- Damit habe ich Ihnen ein bisschen den Wind aus den Segeln genommen. -
Aber der EuGH hat sehr wohl festgestellt, dass wir ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Grundrechten schaffen müssen, die in Europa geschützt sind: zwischen dem geistigen Eigentum auf der einen Seite und dem Datenschutz auf der anderen Seite. Dieses Gleichgewicht schaffen wir mit diesem Gesetz.
Das ist, meine ich, ein gutes Ergebnis unserer Beratungen.
In diesem Gesetzentwurf regeln wir auch eine Materie, die nicht durch die EU-Richtlinie vorgegeben wird, nämlich die Deckelung der Abmahnkosten. Tatsache ist, dass mit den Abmahnungen zum Teil verantwortungslose Geschäftemacherei betrieben wurde.
Dabei ist häufig die Gerechtigkeit auf der Strecke geblieben. Wenn Teenager auf ihrer privaten Homepage ein Foto ihres Lieblingsstars einstellen, ohne die Bildrechte zu besitzen, dann ist in der Tat ein Verstoß gegen die Rechte des geistigen Eigentums gegeben. Es ist aber nicht gerechtfertigt, sie dafür mit Abmahnkosten in vierstelliger Höhe zu belangen.
- Danke, dass auch Sie an dieser Stelle klatschen.
Das Bundesministerium der Justiz hat hierzu eine wahre Flut von Bürgerbriefen erreicht. Dies hat gezeigt, dass wir handeln müssen. Die Kosten für eine erstmalige Abmahnung sollen deshalb bei Erfüllung von drei Voraussetzungen begrenzt werden. Es muss sich erstens um einen einfach gelagerten Fall handeln. Der Sachverhalt muss sich zweitens außerhalb des geschäftlichen Verkehrs abspielen. Drittens darf es nur zu einer unerheblichen Rechtsverletzung gekommen sein. Unter diesen Voraussetzungen sind die Kosten für den Verbraucher auf maximal 100 Euro begrenzt. Ich denke, das ist eine gerechte Lösung.
Lassen Sie mich einen letzten Aspekt ansprechen. Zum 1. Mai 2008 tritt das Londoner Patentübereinkommen in Kraft. Dadurch entfällt die Pflicht, ein europäisches Patent in zahllose Sprachen übersetzen zu müssen. Dies wird die Kosten für Patente spürbar senken. Damit alle Patentanmelder möglichst rasch davon profitieren können, wollen wir mit dem Gesetzentwurf auch die deutschen Übersetzungspflichten zum 1. Mai dieses Jahres streichen.
Einen besseren Schutz des geistigen Eigentums, eine Deckelung der Abmahnkosten und die Reduzierung der Patentkosten - all das erreichen wir mit diesem Gesetz. Das ist eine ganze Menge. Ich darf mich bei Ihnen allen für die guten und konstruktiven Beratungen bedanken.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP-Fraktion.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Parlamentarischer Staatssekretär, wir, die FDP-Fraktion, teilen die Zielsetzung des Gesetzentwurfes. Er ist überfällig; denn die Umsetzungsfrist für die Richtlinie ist um fast zwei Jahre überschritten. Es geht darum, die Durchsetzung der Rechte von Inhabern geistigen Eigentums zu verbessern und ihnen angesichts der Entwicklung der Möglichkeiten, urheberrechtsgeschützte Produkte zu nutzen, andere Formen der Durchsetzung ihrer Rechte zu geben. Das wird in diesem Gesetzentwurf angelegt. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, wir stimmen Ihnen also in der Zielsetzung zu. Wenn Sie sich im Rahmen der Richtlinie bewegt hätten und nicht die Deckelung der Abmahngebühren - das ist durch die Richtlinie nicht vorgegeben - in den Gesetzentwurf aufgenommen hätten
- Herr Koppelin ist zweimal abgemahnt worden und hatte wohl keinen guten Anwalt; darüber hat er sich geärgert; hätte er einen guten Anwalt gehabt, hätte er bei Ihrer Rede, Herr Hartenbach, nicht klatschen müssen -, wären wir im Großen und Ganzen zufrieden und bereit gewesen, zuzustimmen. Jetzt müssen wir ablehnen.
Bevor ich das mit zwei Aspekten begründe, möchte ich eine positive Bemerkung machen. Wir haben von Anfang an das Londoner Patentübereinkommen ausdrücklich unterstützt, das zu einer wirklichen Reduzierung der Übersetzungskosten bei kleinen und mittelständischen Unternehmen führen wird; das ist wichtig und notwendig. Darüber wird seit Jahren diskutiert. Dies wird dringend gebraucht; denn die Übersetzungskosten gehen - anders als die Abmahnkosten - in den fünfstelligen Bereich. Angesichts dessen ist es für kleine und mittelständische Unternehmen teilweise nicht mehr wirtschaftlich vertretbar und interessant, diesen Rechtsschutz zu erwerben.
Nun zu den zwei Punkten, die wir kritisieren und warum wir den Gesetzentwurf letztendlich ablehnen. Der eine Punkt steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Umsetzung der Richtlinie. Wir halten es für richtig, den nicht ganz neuen Weg eines Auskunftsanspruchs nicht nur gegenüber dem Verletzer, sonder auch gegenüber Dritten - das betrifft insbesondere Internetprovider - zu gehen. Gerade weil es um sensible Daten geht, halte ich es für richtig, dass der Richtervorbehalt beibehalten wird, obwohl ich noch heute Morgen - genauso wie Sie wahrscheinlich, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen - Briefe erhalten habe, in denen mir Praktiker dringend ans Herz gelegt haben, das zu kritisieren. Aber ich halte es für richtig, weil es sich hier um sehr sensible Verkehrsdaten handelt und es um Dritte geht, die letztendlich nicht diejenigen sind, die Schadenersatz zu zahlen haben, wenn Rechte verletzt wurden.
Zur Voraussetzung für einen Auskunftsanspruch machen Sie ein gewisses gewerbliches Ausmaß. Sie nutzen damit als Gesetzgeber den durch die Richtlinie eröffneten Erwägungsspielraum. Ich glaube aber, dass das zu Schwierigkeiten in der Praxis führen wird.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gehb?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Ja, ich gestatte.
Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU):
Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, Sie sagen, es handele sich um ganz sensible Daten. Können Sie den Zuhörern im Plenum und den Zuschauern erklären, um welche Daten es dabei geht? Geht es um Krankheiten, Steuerschulden oder Alkoholismus? Welche sensiblen Daten werden eigentlich abgefragt? Das möchte ich wissen.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Das sage ich Ihnen sehr gerne. Wir haben es nicht mit Daten über Gesundheit und Drogen zu tun. Vielmehr geht es darum, die Person des Verletzers festzustellen. Es sind also persönliche Daten erforderlich, um einen Anspruch begründen zu können. Dabei handelt es sich vielleicht nicht um so sensible Daten wie diejenigen, die auf der Gesundheitskarte gespeichert werden sollen.
Selbst die Begründung zum Gesetzentwurf zeigt, dass die Anspruchsvoraussetzung des gewerblichen Ausmaßes in der Praxis Schwierigkeiten aufwerfen wird; denn da sollen quantitative und qualitative Aspekte maßgeblich sein. Ist es jetzt das halbe Hörbuch? Ist es das ganze Musikalbum? Ist es zwei Wochen nach der Veröffentlichung? Die Beantwortung dieser Fragen wird sehr schwierig werden. Deshalb haben wir in den Beratungen dafür plädiert - denn das ist nicht zwingend durch die Richtlinie vorgegeben -, diese Anforderung zugunsten einer Stärkung des Auskunftsanspruches wegzulassen.
Jetzt komme ich zu dem zweiten Aspekt, der Deckelung der Abmahngebühren auf 100 Euro. Natürlich gibt es auch anwaltliche Berater, die sehr leichtfertig zu einer Abmahnung greifen. Sie müssen aber den Systemwechsel sehen, den wir hier vornehmen. Ich glaube, Herr Krings, ich darf es ruhig sagen: Gerade Ihre Fraktion hat von Anfang an gegen diese Änderung - ursprünglich waren 50 Euro vorgesehen - Bedenken gehabt.
Das sind nicht nur Bedenken, die mit der Höhe der Gebühr verbunden sind, sondern es sind schon systematische Bedenken; denn bei berechtigten Abmahnungen, also wenn es um Rechtsverletzungen geht, soll gedeckelt werden. Sie wissen, dass 100 Euro - Porto ist inklusive - noch nicht einmal kostendeckend sind.
Sie eröffnen mit der Festsetzung von Voraussetzungen - einfache Rechtsverletzung; darin besteht die Systemwidrigkeit - ein neues Einfallstor für einen Streit darüber, ob die Voraussetzungen für eine gedeckelte Abmahngebühr erfüllt sind oder nicht. Sie geben mit diesem Weg in meinen Augen etwas auf, nämlich die klare Stringenz im Bereich der Gebühren für Abmahnungen. Sie überlegen nicht, wenn es sich schon um eine einfache Rechtsverletzung handelt, eine Streitwertbegrenzung oder andere sich im System bewegende Grenzen einzuführen. Das wäre in meinen Augen sehr viel systematischer gewesen.
Aus diesen Gründen können wir dem Gesetzentwurf letztendlich nicht zustimmen.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Günter Krings, CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Günter Krings (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Digitale Piraten haben offenbar wenig mit den echten Piraten gemeinsam. Aber auf eine bestimmte Weise ähnelt sich unsere Vorstellung von beiden wohl doch. Das oft romantisierende Bild des Piraten zur See hat sich in der Weise auf den digitalen Piraten übertragen, dass man zwar sein Tun im Grundsatz missbilligt, aber dann klammheimlich doch mit ihm sympathisiert.
Zum Thema Internetpiraterie gibt es eine Reihe von Zeitungs- und Fernsehbeiträgen. Sie ähneln sich alle in ihrem Schema: Ein unbedarfter privater Internetnutzer wird von einem mächtigen Medienkonzern verfolgt. Die Positionen von David und Goliath werden gegenübergestellt.
Das ist eine oft verzerrte und mitunter sehr pauschalisierende Darstellung. Das zeigt auch, dass wir noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten haben, wenn es um die volkswirtschaftliche Bedeutung von geistigem Eigentum, aber auch um die kulturelle Bedeutung von geistigem Eigentum für unsere moderne Wissensgesellschaft geht. Wie wichtig dieses Element für ein rohstoffarmes Land wie unseres ist, hat der Herr Staatssekretär schon ausgeführt. Aus dem Grunde dringe ich immer darauf, dass das nicht nur als rechtspolitisches, sondern auch als kultur- und wirtschaftspolitisches Thema wahrgenommen wird.
Dass einzelne vom Urheberrecht abhängige Branchen - ich nenne nur die Musikindustrie - nahezu die Hälfte ihrer Umsätze durch Internetpiraterie und Raubkopierer eingebüßt haben, macht deutlich, dass wir dringend handeln müssen, dass wir schon allein wegen Art. 14 unseres Grundgesetzes etwas tun müssen. Wir wollen nicht auf den EU-Gesetzgeber warten; wir wollen uns nicht hinter ihm verstecken. Es steht in unserer Verantwortung als nationaler Gesetzgeber, dafür zu sorgen, dass die Rechte am geistigen Eigentum nicht nur auf dem Papier stehen, sondern auch beachtet und durchgesetzt werden. - Da darf man auch klatschen.
- Danke schön.
Dazu tun wir heute einen richtigen und wichtigen Schritt. Im Mittelpunkt der strittigen Diskussion zu diesem Gesetzentwurf stand und steht natürlich der zivilrechtliche Auskunftsanspruch der Inhaber von Urheberrechten gegenüber den Anbietern von Internetdienstleistungen. Um vom Dieb seines geistigen Eigentums Schadensersatz erlangen zu können, muss das Diebstahlsopfer erst einmal wissen, wer ihn im Internet bestohlen hat. Ich bin überzeugt, dass wir als Koalition eine vernünftige Balance bei der Ausgestaltung dieses Auskunftsanspruches gefunden haben. Die Tauglichkeit dieses Anspruches muss - insofern kann ich einzelne Kritikpunkte und Nachfragen durchaus verstehen - die gerichtliche Praxis jetzt noch beweisen. So ist das in einem Rechtsstaat. Da braucht es schon einmal Gerichte, die bei der Auslegung von solchen Gesetzen dann noch mithelfen müssen.
Wir haben es uns als Union bei diesem Punkt nicht leicht gemacht, und wir haben es Ihnen, Herr Staatssekretär, und auch der Frau Ministerin nicht leicht gemacht.
Wir haben über diese Punkte lange verhandelt. Unsere Verhandlungen haben letztlich dazu geführt, dass die Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten, die wir heute beschließen werden, deutlich besser sind als das, was im Gesetzentwurf ursprünglich vorgesehen war. Wir haben dafür gesorgt, dass das Stichwort ?Rechtsverletzung im geschäftlichen Verkehr? so nicht im Gesetzentwurf stehen bleibt; vielmehr wird der deutlich weitere Begriff aus der EU-Richtlinie herangezogen: Alle Rechtsverletzungen im gewerblichen Ausmaß können Gegenstand des Auskunftsanspruches sein.
Außerdem haben wir in der Begründung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses noch einmal deutlich gemacht, dass ?gewerbliches Ausmaß? ein relativ weitgehender Begriff ist. Dieser Begriff umfasst nicht nur das unmittelbare Gewinninteresse, sondern beispielsweise auch den mittelbaren wirtschaftlichen Vorteil. Hätten wir das nicht gemacht, dann würde dieses Gesetz im Hinblick auf die große Plage der illegalen Tauschbörsen im Internet wirkungslos bleiben. Diese Tauschbörsen haben zu erheblichen Umsatzverlusten beigetragen. Vor allem missachten sie den Wert des geistigen Eigentums. Man tut so, als wäre es erlaubt, alles, was aus dem Netz heruntergeladen werden kann, herunterzuladen und unentgeltlich zu konsumieren. Den Begriff ?gewerbliches Ausmaß? haben wir präzisiert. Wir haben gesagt: Das ist nicht nur eine quantitative Angelegenheit, sondern auch eine Frage der Schwere, der Intensität und der Qualität des Schadens.
Um auch dem Praktiker, dem Nichtjuristen eine Handhabe zu geben, erklären wir ganz praktisch: Wer beispielsweise ein komplettes Musikalbum oder einen ganzen Kinofilm unmittelbar nach seiner Veröffentlichung zum Download bereitstellt, richtet wirtschaftlich einen so erheblichen Schaden an, dass er dem zivilrechtlichen Auskunftsanspruch nicht entrinnen kann.
Sicherlich wird man abwarten müssen, wie sich der Auskunftsanspruch in der Praxis bewähren wird. Wir als Union haben uns für einen möglichst starken zivilrechtlichen Auskunftsanspruch eingesetzt, damit in immer mehr Fällen der Umweg über die Staatsanwaltschaft unnötig wird.
Gerade weil unser deutscher Auskunftsanspruch dann aber noch immer in einigen Punkten hinter dem der meisten anderen EU-Staaten bleibt, kann es ganz ohne das Strafrecht leider nicht gehen. Staatsanwaltschaften, die sich nicht dem Vorwurf einer Rechtsverweigerung aussetzen wollen, tun deshalb gut daran, Urheberrechtsverletzungen auch in Zukunft ernst zu nehmen. Wenn Staatsanwaltschaften hingegen öffentlich erklären, strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen Urheberrechtsverletzer prinzipiell nicht aufnehmen zu wollen, lassen sie das geistige Eigentum zu einer leeren Hülle verkommen und gefährden meines Erachtens den Rechtsstaat, den sie eigentlich schützen sollen. Ich muss das schon so deutlich sagen.
Ich muss hier ein Negativbeispiel nennen. Ich beziehe mich auf eine Presseerklärung der Staatsanwaltschaft in Wuppertal. Deren Pressesprecher hat sich zu der Bemerkung hinreißen lassen, dass die Aufnahme von Ermittlungen bereits unverhältnismäßig sei, da die Tatverdächtigen in Tauschbörsen keinerlei finanzielle Interessen verfolgen würden. Das Gleiche, das Fehlen finanzieller Interessen, gilt übrigens auch für fast alle Formen der Sachbeschädigung. Wollen wir also hoffen, dass zumindest diese Delikte in Wuppertal auch künftig noch verfolgt werden.
Da die Staatsanwaltschaften bundesweit nach den geltenden Regeln unserer Gewaltenteilung verpflichtet sind, die Gesetze, die dieses Hauses verabschiedet hat, zu befolgen, gehe ich davon aus, dass die Düsseldorfer Generalstaatsanwaltschaft die Kollegen dort auf den Pfad der rechtsstaatlichen Tugend zurückführen wird. Allerdings müssen wir - das ist mir schon sehr wichtig - die Hilferufe vieler Staatsanwälte durchaus ernst nehmen. Wir haben die Pflicht, den Rechteinhabern einen praktikablen zivilrechtlichen Auskunftsanspruch zur Verfügung zu stellen, damit es in zukünftigen Fällen immer seltener notwendig ist, den Weg der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen zu beschreiten, und damit viele Fälle schon auf dem Zivilrechtsweg geklärt werden können.
Als Union stehen wir - dies füge ich hinzu - neuen, niederschwelligen Alternativen zu einem staatlichen Verfahren aufgeschlossen gegenüber. Wir haben dies im Ausschuss bereits besprochen. Ich habe schon im Rechtsausschuss das Élysée-Verfahren in Frankreich und ein ähnliches Verfahren aus England angesprochen, in denen das untergesetzlich geregelt werden konnte. Das sind Verfahren, die mit einer neutralen, nichtstaatlichen Clearingstelle arbeiten, in denen sich insbesondere Internetserviceprovider und Rechteinhaber zusammentun müssen, um diese Rechtsverfolgungen bewerkstelligen zu können. Dies führt meines Erachtens zu deutlich weniger Problemen mit dem Datenschutz.
Aus diesem Grunde hat mich die Bemerkung des Bundesbeauftragten für den Datenschutz gestört, wonach hier erst noch umfangreich datenschutzrechtliche Bestimmungen geändert werden müssten. Wenn es aber so sein sollte, sollten wir das zügig in Angriff nehmen und alternative Verfahren, die in Frankreich und England erfolgreich praktiziert werden, auch für Deutschland nutzbar machen. Wichtig ist der Erfolg, dass Urheberrecht und geistiges Eigentum einen wirksamen Schutz erhalten. Dorthin können unterschiedliche Wege führen. Es muss nicht unbedingt über den Staatsanwalt und auch nicht mithilfe des jetzigen Auskunftsanspruchs erfolgen; es muss nur wirksam erfolgen. Das sind wir den Rechteinhabern schuldig.
Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben ein weiteres Thema ausführlich angesprochen, nämlich die Anwaltsgebühren bei Erstabmahnung. Die Beschränkung auf 100 Euro geht meines Erachtens in Ordnung. Auch hier herrscht Handlungsbedarf. Richtig ist, dass es zwar nur Ausnahmefälle sein mögen, in denen überzogene Abmahngebühren verlangt werden. Aber diese Fälle bringen eine ganze Branche in Verruf. Daher ist es angemessen, eine Begrenzung der Gebühren vorzunehmen.
Wir haben uns auch über Streitwertbegrenzungen als Alternative Gedanken gemacht, sind aber in der Beratung zu dem Ergebnis gekommen, dass dies komplizierter und vielleicht sogar mit größeren Systemeingriffen verbunden wäre. Wir haben jetzt jedenfalls ein praktikables System gefunden. Ich nenne ein Beispiel, um dies plastisch darzustellen: Wenn ein Fußballclub auf seiner Homepage einen Stadtplan verwendet, um zu zeigen, wie man seinen Sportplatz finden kann, diesen Stadtplan aber leider und vorwerfbar nicht erworben, sondern aus dem Internet heruntergeladen hat, soll er diesen Stadtplan von seiner Homepage entfernen. Aber er muss nicht mit Abmahngebühren in Höhe von mehreren Tausend Euro konfrontiert werden, die ihn vielleicht gar in den wirtschaftlichen Ruin treiben könnten.
Natürlich sind auch einfache Abmahnungen im ersten Falle mit anwaltlichen Kosten verbunden. Deswegen waren uns hier 50 Euro deutlich zu wenig. Man hätte über verschiedene Beträge nachdenken können. Wir haben uns jetzt auf 100 Euro geeinigt. So ist es in einer Koalition: Wir haben einen Mittelweg gefunden, der zumindest einen Großteil der Kosten, in vielen Fällen vielleicht auch die kompletten Kosten abdeckt.
In Ordnung geht dieser Betrag auch deshalb, weil wir in der ergänzenden Gesetzesbegründung im Rahmen der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses anhand einer Reihe von Regelbeispielen klargemacht haben, wie eng dieser Anwendungsbereich ist. Hiervon kann nicht der gewerbliche Verletzer profitieren. Wer, um dieses Beispiel noch einmal aufzugreifen, ein ganzes Musikalbum zum Download zur Verfügung stellt, begeht natürlich keine einfache, geringfügige Rechtsverletzung und muss daher bei den Anwalts- und Abmahngebühren auch künftig deutlich tiefer in die Tasche greifen.
Wer die Begrenzung bei den Abmahngebühren trotz dieser engen Beschränkung rundweg ablehnt, wie es die FDP offenbar tut, gefährdet meines Erachtens die gesellschaftliche Akzeptanz des Instruments der Abmahnung. Diese Folgen konnte man ja schon in Ihrer eigenen Fraktion beobachten, Frau Leutheusser-Schnarrenberger.
Die Akzeptanz scheint auch in der FDP-Fraktion aufgrund persönlicher Erfahrungen nicht mehr hundertprozentig gegeben zu sein.
Um etwas tiefer in die rechtsphilosophische Kiste zu greifen und mit Rudolf von Ihering zu sprechen: Nur im Kampf des Einzelnen um sein subjektives Recht vermag sich die objektive Rechtsordnung in ihrer Wirkung zu entfalten.
Das heißt, wir müssen dem Einzelnen Möglichkeiten geben, sein Recht zu verfolgen. Deswegen ist das Instrument der Abmahnung wichtig, und es verdient, vor Angriffen geschützt zu werden. Wir wollen es davor schützen, dass es missbraucht wird, aber eben auch davor, dass dessen Abschaffung gefordert wird. Abmahnungen tragen dazu bei, den Rechtsfrieden ohne Staatsanwalt und Richter wiederherzustellen. Genau dies können wir mit der vorgesehenen Regelung gut erreichen.
Zum Schluss lasse ich das Londoner Protokoll nicht unerwähnt, das diesem Gesetz angehängt wurde. Es hat zugegebenermaßen keinen direkten Bezug zu der umzusetzenden Richtlinie. Aber es war aus Schnelligkeitsgründen richtig, es aufzugreifen. Durch dieses Londoner Protokoll wird das europäische Patent von bürokratischem Ballast befreit und kostengünstiger. Bislang wird ein europäisches Patent in der Regel für sieben Länder übersetzt. Das bedeutet, es muss in der Regel in fünf Sprachen vollständig übertragen werden und verursacht damit Übersetzungskosten selbst bei relativ einfachen Patenten in Höhe von gut und gerne 7 000 Euro, mitunter auch deutlich mehr. Durch die Übernahme des Londoner Protokolls halbieren sich diese Übersetzungskosten nahezu, da es nur noch zwei Übersetzungen der vollständigen Patentschrift und drei Übersetzungen der Ansprüche geben wird.
Da wir Deutschen seit Jahren die unangefochtenen Europameister bei den Patentanmeldungen sind, ist mir ein Punkt noch sehr wichtig: Die Übersetzung der Patentansprüche muss weiterhin in den drei Amtssprachen vorgenommen werden. Dazu gehört neben Englisch und Französisch eben auch das Deutsche.
Was könnte es also Schöneres geben? Wir bauen Bürokratie und Kosten ab und schützen dabei obendrein noch unsere deutsche Sprache.
Nicht nur bei der Zahl der Patentanmeldungen, sondern auch beim Schutz geistigen Eigentums wollen wir Deutsche international gern eine Vorreiterrolle einnehmen. Nur so kann man ja auch die zahlreichen Ermahnungen zum besseren Patent- und Urheberschutz verstehen, die von der Bundesregierung zum Beispiel an die Adresse Chinas oder anderer vornehmlich asiatischer Staaten gerichtet werden.
Das Recht, von anderen einen besseren Schutz einzufordern, müssen wir uns aber erst dadurch verdienen, dass auch unsere nationale Rechtsordnung diesen Schutz in ausreichender und vorbildlicher Art und Weise vorsieht, und die Chinesen und die Inder sind nicht nur an ihren Gesetzestexten, sondern auch an ihrer Rechtspraxis zu messen. Entsprechend müssen auch wir die Anwendung unserer Gesetze genauestens beobachten und im Zweifel bereit sein, korrigierend einzugreifen.
Die Arbeit zum Thema ?Durchsetzung von Ansprüchen des geistigen Eigentums? ist mit dem heutigen Tage daher leider noch nicht getan. Wir bleiben als Bundestag aufgefordert, die Anwendung des Gesetzes zu beobachten und dafür zu sorgen, dass im Ergebnis ein effektiver Eigentumsschutz herauskommt. Ein effektiver Schutz geistigen Eigentums bedeutet nämlich immer auch: Schutz der Rechte von Künstlern und Autoren in unserem Land.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort der Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Linke hat bereits klargemacht, dass sie das Anliegen des Gesetzentwurfs grundsätzlich teilt.
Dies soll dazu beitragen, dass Künstlerinnen und Künstler von ihren Werken leben können und nicht mehr tatenlos hinnehmen müssen, dass ihre Werke von gewerblichen Händlern auf illegale Weise im Internet vertrieben werden. Das halten wir für absolut berechtigt.
Für falsch halten wir aber die hierzu vorgesehenen Regelungen; denn sie gehen weit über das hinaus, was von der Richtlinie gefordert wird und zur Durchsetzung des Rechts auf geistiges Eigentum gegenüber gewerblich handelnden Personen notwendig ist.
Der Gesetzentwurf, über den wir heute abstimmen, regelt nur die grundsätzliche Frage, dass Künstlerinnen und Künstler Anspruch darauf haben, Auskunft über Namen und Adressen verdächtiger Internethändler zu erhalten. Dazu müssen die Internetprovider eingebunden werden. Aber auf welche Daten diese zugreifen dürfen, um Namen und Adressen der Verdächtigten zu ermitteln und weiterzugeben, regelt man nicht hier und jetzt, obwohl der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar ausdrücklich eine Klarstellung im Gesetz forderte.
Das grundsätzliche, auch verfassungsrechtliche Problem ist doch, dass die privaten Verkehrsdaten, etwa bei der Internetnutzung, für privatrechtliche Interessen Dritter genutzt werden sollen. Die Speicherung von Verkehrsdaten wird durch die Vorratsdatenspeicherung grundsätzlich ermöglicht. Aber nach der Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist das auf schwerste Straftaten beschränkt und bietet überhaupt keine Grundlage dafür, Urheberrechtsverletzungen nachzugehen.
Ich habe schon gesagt: Die vorgeschlagene Regelung geht weit über das hinaus, was zum Schutz der Rechte von Künstlerinnen und Künstlern notwendig ist. Die Auskunftsersuchen sollen sich gegen Personen richten, die in gewerblichem Ausmaß handeln. Das sollen aber nicht nur die gewerblich oder geschäftlich Handelnden sein, sondern auch die Mitglieder in Internettauschbörsen. Das wollte die Lobby der großen Medienkonzerne wie Bertelsmann und Sony immer schon.
Das will nun offenbar auch die Große Koalition. Die Möglichkeiten, Auskunftsersuchen zu stellen, sollen fast uferlos sein. Das haben Sie im Gesetzestext klargestellt:
Auskunft soll nicht nur über die Personen erteilt werden, die ganz viele Filme tauschen wollen. Auskunft soll auch über Personen möglich sein, die einen einzigen brandneuen Film auf ihrem Computer speichern und diesen auf einer Tauschbörse anbieten.
Damit wird deutlich, dass Sie das Eigentumsrecht ganz klar vor den Datenschutz stellen. Verhältnismäßigkeit spielt dabei keine Rolle. Auch derjenige, der nur gelegentlich etwas herunterlädt, soll Angst vor zivil- und strafrechtlicher Verfolgung haben müssen. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Es geht hier nicht um die kleine Band, die nur ein paar Hundert CDs produziert, oder um experimentelle Filmemacher. Diese freuen sich höchstens, wenn ihre Werke eine weitere Verbreitung finden. Das ist ganz klar.
Diese Menschen können es sich sowieso nicht leisten, im Internet nach ihren Produkten zu forschen und entsprechende Auskunftsersuchen zu stellen. Somit haben diese Regelungen am Ende nur zum Ergebnis, dass die Musik-, Film- und Softwareindustrie weitere Fantasiepreise durchsetzen und mit diesen Gruppen ihr Spielchen treiben kann. Das wollen wir auf keinen Fall mitmachen.
Deswegen fordert die Linke ganz eindeutig: Erstens. Kein zivilrechtlicher Auskunftsanspruch gegen Dritte zur Herausgabe personenbezogener Daten. Zweitens. Auskunftsansprüche nur, wenn auch ein gerichtliches Verfahren anhängig ist. Drittens. Auskünfte jeglicher Art nur dann, wenn es einen Gerichtsbeschluss dazu gibt. Deswegen werden wir heute diesen Gesetzentwurf ablehnen.
Danke schön.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Für Bündnis 90/Die Grünen erteile ich Jerzy Montag das Wort.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr verehrter Herr Kollege Dr. Krings, das ist ein wunderbares Zitat. Die objektive Rechtsordnung verwirklicht sich tatsächlich in der subjektiven Rechtsdurchsetzung im Einzelfall. Denken Sie bitte daran, wenn wir hier das nächste Mal wieder über Vorschläge zur Änderung bei Rechtsmitteln und bei Rechtsbehelfen diskutieren müssen. Dann werde ich Ihnen dieses Zitat gern noch einmal vorhalten.
Zum Gesetzentwurf sage ich vorweg eines: Auch wir Grüne unterstützen die Deckelung der Abmahngebühr in einfachen Fällen. Die Deckelung von Rechtsanwaltgebühren ist nichts Systemfremdes, Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger. Es gibt sie auch bei anderen Fallgestaltungen. Wir stehen ganz eindeutig auf der Seite derjenigen, die vielleicht unbeholfen, einmalig und in kleinem Ausmaß eine Urheberrechtsverletzung begangen haben und die dann nicht eine Anwaltsrechnung über mehrere Tausend Euro bekommen sollen. Diese Fälle sind keine Einzelfälle. Es gibt sie. Das muss beendet werden. Insofern stimmen wir dem Gesetzentwurf zu.
Dieser Gesetzentwurf beschäftigt sich aber im Kern mit etwas völlig anderem, nämlich mit dem Urheberrecht und mit dem geistigen Eigentum. Geistiges Eigentum ist Eigentum im Sinne des Grundgesetzes. Trotzdem ist es wesensmäßig anders als Sacheigentum anzusehen. Während sich beim Sacheigentum im Kern die Eigentümereigenschaft in § 903 BGB wiederfindet, wo gesagt wird, dass der Eigentümer mit seiner Sache nach Belieben verfahren kann, wollen Bücher gelesen werden und wollen Musikwerke gehört werden. Die Kreativen stellen diese Werke her, damit sie der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Missverstehen Sie mich nicht, aber in einem ganz bestimmten Sinn ist das geistige Eigentum, das die reale Welt erblickt, auch im Besitz der Allgemeinheit und der Gesellschaft.
In den Schnittstellen zur Wissenschaft, zur Lehre und zur Ausbildung haben wir im Rahmen der Schrankendiskussion auch bestimmte Folgerungen daraus gezogen. Für den konkreten Fall, um den es hier geht, stellt sich die Frage, ob wir derjenigen Industrie, die sich in der modernen Welt zwischen die Kreativen und die Konsumenten - die Verbraucher - gesetzt hat und die wirtschaftlich einer der mächtigsten Mitspieler im Konzert des Urheberrechts ist, nämlich der Unterhaltungsindustrie, Sonderrechte zuspielen wollen.
Ich will in der Kürze der Zeit nur auf zwei Probleme, die ich allerdings für zentrale Probleme des Gesetzentwurfs halte, eingehen.
Erstens möchte ich fragen, ob wir jemanden durch den Begriff ?gewerbliches Ausmaß? schützen können. Ich befürchte, dass es sich hierbei um ein Placebo handelt; denn angesichts der Tatsache, dass in den Erwägungsgründen der Richtlinie steht, dass gewerbliches Ausmaß bereits bei jedem unmittelbaren oder mittelbaren wirtschaftlichen Vorteil gegeben ist, gilt das bereits ab dem ersten Euro, den man sich spart. Damit hätten wir mit der Beschränkung auf ?gewerbliches Ausmaß? praktisch nichts gewonnen. Wir haben deshalb den Vorschlag gemacht, auch den Begriff des ?guten Glaubens? in das Gesetz hineinzuschreiben. Das wollte die Große Koalition aber nicht.
Ein zweites Problem ist durch den Drittauskunftsanspruch gegeben. Ich sage es ganz deutlich: Obwohl das ein Novum im deutschen Zivilrecht ist, wäre im Grundsatz gegen eine solche Auskunftspflicht nichts zu sagen, wenn es bei dem Dritten um denjenigen ginge, der die Ware, durch die Urheberrechte verletzt wurden, in Besitz hält oder die Dienstleistung, durch die das Urheberrecht verletzt wurde, selbst in Anspruch nimmt. Die Frage ist aber, ob und in welchem Ausmaß wir ihn gegenüber denjenigen einräumen können, die Dienste anbieten, aber mit der Urheberrechtsverletzung nichts zu tun haben. Das ist doch die entscheidende Frage. Hier sagen wir: Der Anspruch, den Sie da formulieren, geht einfach zu weit, weil er auf der Ebene der Erfassung der IP-Adresse durch die, deren Rechte angeblich verletzt wurden, und auf der Ebene der Auskunftsverpflichteten durch die Verwendung von Daten aus ihren Datenbeständen mit dem geltenden Recht kollidiert.
- Nein, das tun Sie eben nicht. Sie müssten dazu sowohl im Telekommunikationsgesetz als auch im Telemediengesetz die entsprechenden Änderungen vornehmen. Das tun Sie nicht.
Tatsächlich stellt die jetzige Regelung, die Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen beschließen wollen - ich habe es schon vor einigen Tagen gesagt und wiederhole es an dieser Stelle -, einen Kotau vor der Unterhaltungsindustrie dar. Man kann ihn nur als solchen bezeichnen.
Weil das so ist, lehnen wir diesen Gesetzentwurf, obwohl wir ansonsten in ihm viele gute Ansätze sehen, heute ab.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dirk Manzewski, SPD-Fraktion.
Dirk Manzewski (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Produktpiraterie nimmt leider wie auch die sonstige Verletzung geistigen Eigentums ständig zu und richtet insbesondere in Ländern wie Deutschland, die von der Kreativität und dem Know-how ihrer Menschen leben, erhebliche wirtschaftliche Schäden an. Dadurch werden nicht nur Arbeitsplätze vernichtet, gefälschte Produkte stellen oftmals auch ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar. Mit dem hier heute abschließend debattierten Gesetzentwurf wollen wir deshalb durch Umsetzung der entsprechenden EU-Richtlinie die Stellung der Rechteinhaber beim Kampf gegen die Verletzung der Rechte des geistigen Eigentums, insbesondere durch Produktpiraterie, stärken.
Ein Hauptproblem - das ist schon angesprochen worden - bei der Verfolgung der Verletzungen von Rechten des geistigen Eigentums liegt darin, dass die Rechtsverletzer oft schwer zu identifizieren sind, da die entsprechenden Informationen über deren Identität häufig bei Dritten liegen. Die Rechteinhaber sollen künftig unter bestimmten, ich sage ausdrücklich: engen Voraussetzungen auch einen Auskunftsanspruch gegenüber diesen Dritten haben, um ihre Rechte besser durchsetzen zu können. Dieser Auskunftsanspruch wird, soweit es sich um Verkehrsdaten handelt, allerdings unter einem Richtervorbehalt stehen und soll nur dann zum Tragen kommen, wenn die Rechtsverletzung in gewerblichem Ausmaß begangen worden ist. Ihrer Kritik an diesem Punkt, Herr Kollege Montag, kann ich nur entgegenhalten: Vertrauen Sie unseren Gerichten.
Die Grünen und die Linken, die ja nun monieren, dass ihnen die Möglichkeiten zu Auskunftsersuchen viel zu weit gingen, müssen sich wirklich fragen lassen, wie ernst sie denn den Schutz des geistigen Eigentums nehmen und wie sie diese Haltung im europäischen Kontext, wo in diesem Punkt noch viel konsequenter vorgegangen wird, eigentlich rechtfertigen wollen. Ich halte diese Vorgehens- und Verhaltensweise, insbesondere die der Linkspartei, für ziemlich populistisch.
Man schaut, für welche Haltung es Mehrheiten gibt, und richtet danach seine Meinung aus. Ob das nun Sinn macht oder im Widerspruch zum Beispiel zu anderen Gesetzen steht, das spielt dann überhaupt keine Rolle.
Hat man die BITKOM im Blick, dann sind Urheberrechte ganz wichtig. Sieht man eine Mehrheit bei den Verbrauchern oder wem auch sonst, dann ist das Urheberrecht nichts mehr wert. Es tut mir leid, aber das finde ich nicht in Ordnung.
Mir ist natürlich auch völlig klar, dass sich einige in diesem Zusammenhang noch sehr viel mehr erhofft hatten. So hätte zum Beispiel der Bundesrat gerne auf den Richtervorbehalt verzichtet, weil er das Verfahren hierdurch für zu bürokratisch und aufwendig hält. Insbesondere die betroffenen Verbände - das ist ja auch von Ihnen angesprochen worden, Frau Kollegin - hätten es gerne gesehen, wenn der Auskunftsanspruch gegenüber den Dritten, insbesondere den Internetprovidern, nicht nur bei Rechtsverletzungen in gewerblichem Ausmaß, sondern eigentlich immer möglich wäre.
Auch in der Koalition ist hierüber - der Kollege Krings hat es schon angedeutet - heftig diskutiert worden. Nur, soweit es den Richtervorbehalt betrifft, müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass es in diesem Zusammenhang um äußerst sensible Daten geht. Auch nach Ihren Ausführungen, Frau Kollegin, wird deutlich, dass es sensible Daten sind, die nicht gegenüber jedem gleich offenbart werden sollten.
Was das Kriterium des gewerblichen Ausmaßes angeht, muss man, meine ich, die Kirche im Dorf lassen und nicht bei jedem noch so kleinen Verstoß den direkten Auskunftsanspruch zulassen.
Was von den Kritikern dieses Gesetzes hier nicht so richtig deutlich gemacht worden ist: Wir setzen die europäische Richtlinie an diesen zwei prägnanten Punkten eins zu eins um. Ich glaube auch - da folge ich dem Kollegen Krings -, dass eine vernünftige Abwägung, wenn man sie vornimmt, deutlich macht, dass hier ein gerechter Interessensausgleich zwischen der Belastung von Gerichten und zum Beispiel Providern, die durch diese Vorgehensweise ja ebenfalls belastet werden, einerseits und dem Schutz der Dritten sowie dem Begehren der Betroffenen andererseits gelungen ist.
Um es noch einmal klarzustellen: Die Situation der Rechteinhaber wird deutlich verbessert, da sie zum einen für, wie ich sie einmal nenne, schwerwiegende Verstöße ein einfacheres Verfahren zur Verfügung bekommen und ihnen zum anderen die bisherigen Wege weiterhin offenstehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, positiv hervorzuheben sind weiterhin die verbesserten Möglichkeiten der Vorlage und Sicherung von Beweismitteln, die Erleichterung des Schutzes geografischer Herkunftsangaben sowie die Grenzbeschlagnahmeverordnung. Auch die Umsetzung des Londoner Protokolls wird von mir begrüßt.
Diejenigen, die mich kennen, wissen, dass ich mich sehr für den Schutz geistigen Eigentums einsetze. Bei den Abmahnungen von Rechtsverletzungen ist zuletzt jedoch vielfach mehr als überzogen worden. Natürlich sind - auch Kollege Krings hat das deutlich gemacht - Abmahnungen von Verletzungen von Rechten des geistigen Eigentums völlig in Ordnung; darüber darf hier keine Diskussion aufkommen. Man konnte sich aber häufig nicht des Eindrucks erwehren, dass es sich in diesem Zusammenhang weniger um Urheberrechtsschutz als um Geschäftemacherei handelt. Abmahnungen im Bereich vier- und fünfstelliger Beträge sind selbst bei kleinsten Verstößen trotz gegenteiliger Beteuerung der Verbände nicht selten. Ich kann Ihnen sagen: Eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen, und zwar fraktionsübergreifend, sind während des letzten halben Jahres bei mir im Büro gewesen und haben mir Verfahren aus ihren Wahlkreisen gezeigt, die sehr klar Handlungsbedarf erkennen lassen.
Ich bin daher unserem Koalitionspartner sehr dankbar, dass wir es gemeinsam hinbekommen haben, in den Fällen, in denen mit Abmahnungen Schindluder betrieben wird, die so in Anspruch Genommenen nicht nur auf den Rechtsweg zu verweisen, sondern auch zumindest ein Zeichen zu setzen und die Kosten wenigstens bei der ersten Abmahnung in einfach gelagerten Fällen mit einer unerheblichen Rechtsverletzung, bei denen kein gewerbliches Ausmaß vorliegt, zu beschränken. Wir haben uns auf die Kostenquote von 100 Euro geeinigt, weil wir meinen, dass das insbesondere bei den Dauerabmahnverfahren - bei diesen Verfahren folgt ja eins dem anderen - auskömmlich sein müsste.
Ich komme zum Schluss. Ich halte den vorliegenden Gesetzentwurf für gelungen und danke allen, auch der Opposition, soweit sie mitgearbeitet hat, für die gute Zusammenarbeit.
Als Letztes noch ein Wort zu Ihnen, Frau Jelpke. Ich finde Ihr Verhalten ein bisschen daneben. Nicht erst bei diesem Verfahren, sondern schon seit einem Jahr machen wir, und zwar nicht nur zu diesem Thema, ein Berichterstattergespräch nach dem anderen, aber die Linkspartei glänzt durch Abwesenheit.
Ob bei dem wichtigsten Verfahren im letzten Jahr, dem Verfahren zum VVG, oder bei dem Verfahren zum Urheberrecht: Ein Berichterstattergespräch folgt dem anderen, aber keiner von Ihren Kolleginnen und Kollegen erscheint; keiner geht in die Diskussion, keiner argumentiert.
Und dann stellen Sie sich hier hin und tun so, als ob man sich mit Ihren Argumenten nicht auseinandergesetzt hätte. Ich empfinde das langsam als Frechheit.
Danke schön.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesserung der Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8783, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/5048 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/8788? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist bei Zustimmung der Grünen gegen die restlichen Stimmen des Hauses abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 155. Sitzung - wird am
Montag, den 14. April 2008,
an dieser Stelle veröffentlicht.]