Der Staat soll die Daseinsvorsorge seiner Bürger garantieren und Sicherheit gewähren. Doch was bedeutet das konkret? Politisch-kulturell wünschen sich die meisten Deutschen den Staat als Rundumversorger. Er soll möglichst alles regeln und er bleibt Adressat für die Probleme des Alltags. Welche Überforderung damit einhergeht, wird an der Arbeitslosigkeit deutlich. Im Verständnis vieler Bürger sollte der Bundeskanzler persönlich Arbeitsplätze schaffen.
Das sich darin widerspiegelnde typisch deutsche Staatsverständnis sieht sich seit den 80er-Jahren mit materiellen Gegentrends konfrontiert, die Gegenstand der Analyse der beiden Konstanzer Verwaltungswissenschaftler Volker Schneider und Marc Tenbrücken sind. Denn die Privatisierung einst staatlicher Unternehmen ist in allen OECD-Ländern weit fortgeschritten. Der Staat hat sich damit sichtbar elementarer Aufgaben entledigt. Prominente Beispiele in Deutschland sind Bahn, Post und Telekommunikation. Nationale Regulierungsbehörden achten auf die Erfüllung von Bereitstellungspflichten und steuern die vorsichtige Entmonopolisierung bestimmter Bereiche.
Die acht Autoren des Buches untersuchen diese Entwicklungen aus staatstheoretischer und wirtschaftswissenschaftlicher Sicht. Sie beschreiben Privatisierungsprozesse in 26 OECD-Ländern und drei Sektoren (Kommunikation, Energie, Verkehr) und fragen nach der Rolle institutioneller, ökonomischer und politischer Bedingungen im Zuge von Europäisierung und Globalisierung. So entstand ein vergleichend angelegtes Kompendium, das methodisch und analytisch einem Forschungsbericht gleicht.
Stringent und methodisch höchst reflektiert arbeiten die Autoren drei Bereiche ab: Theorien und Konzepte, Strukturen und Prozesse sowie Erklärungen und Interpretationen. Es ist sehr interessant, hinter das Geheimnis der Regierungsstrategien zu gelangen, warum bislang staatlich koordinierte Infrastruktursektoren für den Wettbewerb geöffnet wurden. Dass damit generell eine Transformation von Staatlichkeit einher ging, haben viele Teilbereiche der Politik- und Verwaltungswissenschaften mittlerweile hinreichend empirisch belegt. Für die Wandlungsprozesse im Bereich der Infrastrukturen schließen die Konstanzer mit dieser Publikation eine wichtige Forschungslücke.
Natürlich gibt es keine einfachen Erklärungen für den Transformationswettbewerb. Mal lässt sich der Rückzug des Staates über institutionelle Faktoren belegen, mal erklärt sich die Veränderung durch Veto-Spieler oder parteipolitische Regierungsprofile. Parteien hatten in den 80er-Jahren, also in der Frühphase der Privatisierungen, einen entscheidenden Einfluss, der sich auf die Kurzformel der Autoren bringen lässt: "rechte Parteien haben privatisiert, linke nicht". Allerdings lässt der Einfluss der Parteien in den 90er-Jahren deutlich nach. Unabhängig von der Parteifarbe wird privatisiert; auch linke Regierungen stehen danach unter dem Druck der Offenheit der Finanzmärkte.
Insgesamt können die Autoren nachweisen, dass die Wirkungen politisch-institutioneller Arrangements sowie des Korporatismus im untersuchten Transformationsprozess eine wesentlich geringere Rolle spielen, als dies bislang erwartet wurde. Die Infrastrukturpolitik betont Wettbewerb und Effizienz anstelle von Monopolstrukturen und öffentlichem Interesses. Ob damit gleichermaßen auch die allgemeinen Erwartungen befriedigt werden, steht nicht im Untersuchungszentrum. Denn die Knappheits-Rhetorik der Politiker konterkarieren die Bürger zunehmend mit immer neuen Sicherheitsbedürfnissen. In Großbritannien sind schon entsprechend umgekehrte Tendenzen einer erneuten Verstaatlichung im Verkehrswesen zu beobachten. Erklärungen und Interpretationen für beide Szenarien lassen sich auf Grund der Analysen im Buch finden.
Volker Schneider / Marc Tenbrücken (Hrsg.)
Der Staat auf dem Rückzug.
Die Privatisierung öffentlicher Infrastrukturen.
Campus Verlag Frankfurt/M./New York 2004; 356 S., 39,90 Euro