Dass das Berliner Abgeordnetenhaus unter den deutschen Landesparlamenten ein ganz besonderes ist, meinen nicht nur eingefleischte Berliner. Hohe Frauenanteile, kurze Verweildauer und ein eher geringer Professionalisierungsgrad etwa gelten seit längerem als charakteristisch für das Abgeordnetenhaus. Doch die Besonderheiten des Berliner Parlaments beschränken sich zumal seit der "Wende" nicht auf diese Faktoren. Dies unterstreichen Ergebnisse einer Abgeordnetenbefragung der Universität Jena aus dem vergangenen Winter (vgl. "Das Parlament" vom 16. Februar 2004), an der sich 116 von 141 Mitgliedern des Abgeordnetenhaus beteiligten.
Die Jenaer Studie bestätigt zunächst ein vertrautes, gleichwohl gerne übersehenes Charakteristikum der Berliner Abgeordneten: Sie sind Teilzeitparlamentarier mit einem Full-Time-Job. Der Status als Teilzeitparlamentarier ist keine rechtliche Fiktion. Tatsächlich geht jeder zweite Abgeordnete neben dem Mandat noch einer (weiteren) beruflichen Tätigkeit nach. 24 Stunden pro Woche werden im Schnitt dafür aufgewandt. Dies erklärt zugleich, weshalb die Zeit, die die Berliner Abgeordneten für die Ausübung ihres Mandats aufwenden, um 11 bis 13 Stunden niedriger liegt als im Schnitt der übrigen untersuchten Landtage.
Eine Teilzeitbeschäftigung ist das Mandat deswegen mitnichten. Mit einem wöchentlichen Arbeitsaufwand von 46 Stunden während der Sitzungswochen wird sogar die tarifliche Arbeitszeit übertroffen. Frappierend sind die Unterschiede zwischen den Fraktionen (siehe Tabelle). Bündnisgrüne und PDS-Abgeordnete wenden im Schnitt 15 bis 20 Stunden mehr auf als die Mitglieder der übrigen Fraktionen. Dies bedeutet freilich nicht, dass die Parlamentarier von SPD, CDU und FDP faul wären. Im Unterschied zu fast allen Abgeordneten von PDS und Bündnis 90/Die Grünen gehen sie jedoch mehrheitlich einer Erwerbstätigkeit außerhalb des Parlaments nach.
Faktisch kristallisieren sich zwei Typen von Parlamentariern im Abgeordnetenhaus heraus: Der erste Typ, dem vor allem Vertreter der beiden größten Fraktionen zuzurechnen sind, betreibt das Mandat zwar faktisch als Vollzeitjob, es dient ihm jedoch nur als eine Quelle des Unterhalts. Der vorwiegend aus den Reihen von PDS und Bündnisgrünen gespeiste zweite Typ lebt demgegenüber gleichermaßen für die Politik wie er - ausschließlich - von der Politik lebt. Dass dieser Typus im Abgeordnetenhaus anders als in den Parlamenten der Flächenstaaten (noch) in der Minderheit ist, liegt nicht zuletzt in der vergleichsweise geringen Grundentschädigung begründet.
Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass eine bessere Sach- und Personalmittelausstattung ganz oben auf der Agenda der Berliner Abgeordneten steht. Diese untypische Priorität ist Ergebnis der Doppelbelastung, der sich die meisten Abgeordneten als Teilzeitparlamentarier mit Vollzeitjob ausgesetzt sehen. Entsprechend nachdrücklich wird die Forderung von Mandatsträgern der Union und der SPD erhoben. Womöglich drückt sich darin aber noch ein ganz anderer Wunsch aus: der nach einem Vollzeitparlament.
Im Vergleich von Ost- und Westberliner Abgeordneten ergeben sich teils erhebliche Unterschiede. Allerdings sind viele davon - und das ist ein zentrales Ergebnis der Studie - allein der ungleichen politischen Zusammensetzung von Ost- und Westberliner Mandatsträgern geschuldet. Letztlich bestimmt maßgeblich die politische Farbenlehre die Einstellungen der Parlamentarier. Anschauungsmaterial dafür bietet nicht zuletzt die Mandatszufriedenheit. Insgesamt zeigt sich eine deutliche Mehrheit der Abgeordneten weitgehend oder sogar sehr zufrieden mit ihrer Tätigkeit. Dass der Anteil unter den Osterberliner Volksvertretern niedriger ist als unter den Westberlinern, erklärt sich schlicht aus dem starken Anteil von PDS-Abgeordneten. Die vergleichsweise geringe Mandatszufriedenheit in den Reihen der kleineren Regierungsfraktion macht das Abgeordnetenhaus zugleich zum einzigen Landesparlament, in dem sich die Opposition zufriedener zeigt als die Regierungsmehrheit.
Auch der Problemhaushalt der PDS-Abgeordneten unterscheidet sich von dem der politischen Konkurrenz: Mehr als die Hälfte von ihnen sieht eine Kluft zwischen den eigenen politischen Vorstellungen und dem, was sie im politischen Alltag vertreten müssen. Ein derartiges Problem kennt beim Koalitionspartner SPD nur jeder dritte Abgeordnete. Offensichtlich handelt es sich hier um das spezifische Problem einer Partei, die erstmals in Regierungsverantwortung steht und nunmehr die eigenen politischen Ziele mit den Realitäten von Sparhaushalten in Einklang bringen muss. Die Unterschiede zwischen den beiden Regierungsfraktionen beschränken sich aber nicht auf die Problemwahrnehmungen. Gerade hinsichtlich politischer Einstellungen liegen mitunter Welten zwischen Sozialdemokraten und PDS. Nach der Selbsteinstufung ihrer Abgeordneten auf der Links-Rechts-Skala etwa weist die SPD eine größere Nähe zu Grünen und FDP auf als zur PDS. Hinsichtlich der Bewertung politischer Verfahren stehen sich SPD und Union näher als die beiden Koalitionspartner. Schließlich findet sich die PDS bei den wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen weitgehend isoliert.
Ein ganz anderes Bild ergibt sich bei gesellschaftspolitischen Themen. Ob nach der Zulässigkeit von Grundrechtseinschränkungen zum Schutz vor Terrorismus gefragt wird, nach schulischem Religionsunterricht oder nach Zuwanderungsbeschränkungen: Jeweils nimmt die CDU eine Sonderstellung im Fünf-Fraktionen-Parlament ein, während sich SPD und PDS in der Ablehnung einig wissen. Gleichwohl scheint das Reservoir an politischen Gemeinsamkeiten zwischen den Regierungsfraktionen in einigen Politikfeldern eher begrenzt. Dies dürfte freilich in den 90er-Jahren zu Zeiten der großen Koalition nicht grundlegend anders gewesen sein.
Die Koalitionspräferenzen, die stark vom Status quo beeinflusst sind, geben denn auch keine Hinweise auf Zweifel an der rot-roten Koalition in den Reihen der Mehrheitsfraktionen. Im Ländervergleich untypisch sind zwei andere Befunde. Erstens sticht die Asymmetrie in den Beziehungen zwischen der SPD einerseits und den beiden bürgerlichen Fraktionen andererseits ins Auge. Während klare Mehrheiten bei FDP und CDU ein Regierungsbündnis mit den Sozialdemokraten akzeptieren, finden diese Koalitionsvarianten bei der SPD keine Zustimmung. Bemerkenswert ist zweitens die Haltung der Christdemokraten gegenüber Schwarz-Grün: Ein Drittel von ihnen wünscht eine Koalition mit den Bündnisgrünen, fast alle anderen halten es zumindest für akzeptabel.
Insgesamt wird die Wahrnehmungswelt der Berliner Abgeordneten durch ihren prekären Status als Teilzeitparlamentarier ebenso wie durch Unterschiede in der Wählerschaft, vor allem zwischen Ost- und Westberlin, geprägt. Ob sich perspektivisch eine (weitere) Angleichung der Stadtstaatsparlamentarier in Ost und West ergeben wird, muss vorerst offen bleiben. Darüber mag eine Umfrage nach der nächsten Wahl Aufschluss geben.