Die Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart - für den Politik-Studenten und die anderen etwa 80 ehrenamtlichen Helfer ist das an diesem Sonntag kein bloßer Gedanke. Kein Thema, wie es so eingängig und doch schwer greifbar in den Reden auf der Gedenkfeier zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZs Sachsenhausen angestimmt wird. Sie haben einen ganz konkreten Auftrag: Heute für das Wohlbefinden derer sorgen, die hier gestern Schreckliches erlebt haben. Während Außenminister Joschka Fischer davon spricht, was es für die Überlebenden bedeuten muss, an diesen Ort zurückzukehren, schleppen die Helferinnen weitere Bänke und Wasser an den in der prallen Sonne liegenden Gedenkort.
380 ehemalige Häftlinge aus aller Welt sind der Einladung nach Sachsenhausen nördlich von Berlin gefolgt. Über fünf Tage werden Ausstellungen eröffnet, Gedenktafeln eingeweiht und Außenlager des KZ besucht. Ein dicht gedrängtes Programm für die meist über 80-Jährigen und ihre Angehörigen, die aus Dänemark und Israel, aus Kanada und Russland angereist sind. Damit sie vor Ort betreut werden, greift der Gastgeber, die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, auf Freiwillige zurück. Bei ihrer Vorbereitung machte der Leiter Günter Morsch klar: "Sie bestimmen das Bild von Deutschland, das unsere Gäste mit nach Hause nehmen!"
Anna werden viele in guter Erinnerung behalten. "So eine schöne Frau", sagt Petro Mischuk, ein Überlebender aus der Ukraine, mithin der auffälligste Gast, weil er in der Häftlingskleidung unterwegs ist. Es bleibt nicht das einzige Kompliment für die 21-jährige Jura-Studentin. Sonst nie ehrenamtlich engagiert, ist sie jetzt froh, mit anpacken zu können: "Endlich mal nicht nur passiv dastehen und betroffen zuschauen." Sie tut, was sie kann. Sie leitet weiter, wer wann wo abgeholt werden muss. Oder verteilt die übersetzten Texte der Reden, die gleich im großen "Zelt der Begegnung" gehalten werden. Nein, Wowereit gibt es nicht auf Deutsch, muss sie einige vertrösten. Und leider auch nicht auf Norwegisch, sagt sie einem großen alten Mann. Der bedankt sich trotzdem, mit einer Verbeugung. "Wie sich die alten Leute über kleine Aufmerksamkeiten freuen können", staunt Anna. Später wird ihr eine alte Dame um den Hals fallen - weil sie nochmals losgegangen war, um eine Kaffeesahne zu bringen.
Die heitere Dankbarkeit vieler Gäste macht es den Helfern leicht. Sebastian ist gerührt, dass sich die Israelis, die er betreut, so sehr über das Interesse der jungen Deutschen freuen. Und dass sie auf so offene, herzliche Weise den Kontakt suchen. Hier eine Hand auf der Schulter, dort ein inniger Händedruck - "das hilft, um unbefangener und sicherer zu werden", sagt Sebastian. Besonders fasziniere ihn der Humor und die Lockerheit der ehemaligen Häftlinge, "nach alldem, was sie hier erlebt haben".
Die jungen Betreuer müssen allerdings etwas lernen: Über manchen Scherz ist kein gemeinsames Lachen möglich. Ein Überlebender aus Polen mokiert sich über das System der Wertmarken, für die die Gäste im Zelt Essen und Trinken erhalten. "Das ist doch wie im Dritten Reich", sagt er und lacht. Als die Helferin zurückschmunzelt, mahnt er: "Lachen Sie nicht!" So nah die gemeinsame Gegenwart, so plötzlich reißt die Vergangenheit auf. "Man kommt ins Schäkern", beschreibt Sebastian diese Situation, "und von einem Satz auf den andern ist der Holocaust da." Als er einem Gast erzählt, dass er hier als Freiwilliger arbeitet, erwidert der: "Ich habe hier früher nicht freiwillig gearbeitet."
Aber die Helfer kämpfen auch mit anderen Problemen. Da wird der Wunsch nach einem Stück Kuchen zu einem komplizierten Austausch internationaler Gesten. Zu wenige der Helfer sprechen Polnisch, Russisch oder gar Ukrainisch. Dennoch "unglaublich", findet Anna, "wie die wenigen Hauptamtlichen mit so knappen Mitteln so eine große Feier auf die Beine gestellt haben". Während die Stiftung bei den Feiern zum 50. Jahrestag noch auf weitaus mehr Ressourcen zurückgreifen konnte, mussten die Mitarbeiter nun alles allein vorbereiten. Die Engpässe offenbaren sich nicht zuletzt beim Mittagessen. Nachdem sich tags zuvor dabei chaotische Szenen abspielten und böse Worte fielen, organisieren sich die Helfer heute rechtzeitig selbst. Alle Überlebenden sollen bedient werden, damit sie nicht in der Schlange anstehen müssen. Anna trägt mit hochrotem Kopf Tabletts zu den Tischen und findet immer noch für jeden ein Lächeln.
Die letzte Chance, Überlebenden zu begegnen - das ist ein Grund, den viele der jungen Ehrenamtlichen für ihr Engagement angeben, und genau das, hatte auch Gedenstättenleiter Morsch den jungen Menschen in Aussicht gestellt.
Für Wolfram hat sich diese Hoffnung zunächst nicht so erfüllt. Er hatte vergeblich auf die ihm zugeordnete Gruppe aus der Schweiz gewartet. Doch dann berichtet er ergriffen, wie Petro Mischuk im Rollstuhl auf einen anderen Überlebenden trifft, der ebenfalls über das Gelände gefahren wird. Minutenlang schütteln sie sich lachend die Hände und erzählen einander, der eine auf Französisch, der andere auf Ukrainisch.