Nach den grundlegenden Arbeiten von Arno Klönne zur Geschichte der Hitlerjugend (HJ) und zum Jugendwiderstand im Nationalsozialismus, die bereits Ende der 50er-Jahre erschienen und später vielfach erweitert wurden, gibt es nun eine weitere kompetente Übersicht. Der kanadische Historiker Michael H. Kater hat eine Geschichte der HJ vorlegt, die neue Perspektiven eröffnet und zugleich an seine früheren Arbeiten zur NSDAP und zur Jugendsituation in der Weimarer Republik anknüpft.
Kater beginnt mit der öffentlichen Politisierung des Generationenkonfliktes in der Weimarer Republik. Anfang der 30er-Jahre erfuhr der "Mythos Jugend" eine immense Politisierung; es waren die Nationalsozialisten, die von Schlachtrufen wie jenem Gregor Strassers "Macht Platz, ihr Alten" am meisten profitierten. In dieser Perspektive und mit Blick auf die Geschichte der bürgerlichen Jugendbewegung eröffnet Kater seine Darstellung, die er in fünf Kapitel gegliedert hat.
Im Anschluss reflektiert er den Dienst in der Hitler-Jugend, den Ausbau der Monopolstellung und die Uniformitätsbestrebungen - immer auch mit Blick auf das Verhältnis von bündischer Jugendbewegung und HJ sowie der Genese der HJ vor 1933. Im nächsten Kapitel widmet Kater sich dann den Mädchen in der HJ, also dem BDM, seiner Entwicklung, seinen Erziehungsangeboten und seiner unbestrittenen anfänglichen Attraktivität für viele Jugendliche - aber er geht auch auf die besonderen Herausforderungen im Zweiten Weltkrieg ein, denen die Jugendlichen ausgesetzt wurden.
Kater fragt, welchen Zielen die HJ diente, wie die Organisation funktionierte, wie das verzweigte Netzwerk der Indoktrination entstand, warum Indoktrination auf die Zustimmung der Indoktrinierten stieß und welche Rolle die HJ beiderlei Geschlechts im Weltkrieg spielte. Seine Aufmerksamkeit gilt damit den kollektiven Erfahrungen der zwischen 1916 und 1934 geborenen Alterskohorten. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Kater darauf verzichtet, eine chronologisch angeordnete Organisationsgeschichte oder eine auf Ideologiekritik setzende Ideengeschichte der HJ und des Erziehungssystems des NS-Staates vorzulegen. Sein alltagsgeschichtlicher Ansatz greift Geschichten, Episoden, Einzelbeispiele auf, die er geschickt mit einem narrativen Schreibstil verbindet, um so aber auch übergreifende Fragestellungen bearbeiten zu können.
Ähnlich wie Klönne richtet Kater dabei seinen Blick auf die resistenten und oppositionellen Jugendlichen im "Dritten Reich" und stellt hier vor allem Einzelfälle und regional ausgeprägte jugendliche Protestgruppen in das Zentrum seiner Beschreibungen. Mit ihnen verbindet er seine Analyse der staatlichen Reaktionsmuster auf das nonkonforme Verhalten dieser Jugendlichen und schildert ausführlich die Palette der repressiven Maßnahmen des NS-Staates vorwiegend während der Zeit des Krieges.
Katers flüssig und anschaulich geschriebenes, leider in einigen Punkten nicht fehlerfreies Buch endet mit einem Kapitel, in dem er über die "Verantwortung der Jugend" nachdenkt, die Besatzungspolitik der Alliierten skizziert und sich kritisch mit den politischen Einstellungen der westdeutschen Jugend nach 1945 auseinandersetzt. Dem kanadischen Historiker, der zu Forschungszwecken viele Jahre in deutschen Archiven zugebracht hat, ist es weitgehend gelungen, Einblicke in Psychologie und Funktionsweisen der HJ sowie in die komplizierte Lebenssituation Jugendlicher während der NS-Diktatur aus der Perspektive der Täter und der Opfer zu ermöglichen.
Michael H. Kater
Hitler Jugend.
Primus-Verlag, Darmstadt 2005; 288 S., 24,90 Euro