Zwischen 1933 und 1939 wurden in Deutschland etwa 300.000 Menschen zwangssterilisiert, in den Kriegsjahren nochmals 60.000. An diesen Eingriffen starben 6.000 Frauen und 600 Männer. Die Zahl der deutschen Euthanasieopfer beläuft sich auf mindestens 216.000, die Getöteten in den besetzten Gebieten mitgerechnet auf rund 300.000. Grundlage dieses bis heute nicht gesühnten Massenmordes war das am 14. Juli 1933 erlassene und am 1. Januar 1934 in Kraft getretene "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses".
In der von Margret Hamm betreuten Dokumentation berichten Überlebende der Zwangssterilisierung von erlittenen Demütigungen und körperlichen Verstümmelungen, aber auch von der Ignoranz und Gleichgültigkeit, die sie nach Ende des Krieges erleben mussten. Denn das Leiden ging für die meisten weiter, weil der Staat die Zwangssterilisierungen als kein typisches NS-Unrecht anerkannt hat. Entschädigung und Anerkennung als Opfer gibt es nach dem Willen des Bundesgesetzgebers nur für Personen, die in Gegnerschaft zum Regime standen oder wegen ihrer Rasse, ihres Glaubens oder ihrer Weltanschauung verfolgt wurden.
So wurde das Gesetz von 1933 zwar 29 Jahre nach Kriegsende außer Kraft gesetzt, aber bis heute wurde es nicht aufgehoben - unter anderem mit der kaum zu begreifenden Begründung, auch andere Staaten hätten Gesetze zur Gesunderhaltung der Bevölkerung erlassen.
Gegenwärtig leben in Deutschland und in anderen Ländern noch rund 55.000 Zwangssterilisierte. Liest man, welchen Schikanen sie ausgesetzt waren und von welch traumatischen Erinnerungen sie noch immer heimgesucht werden, ist die von der Justiz vollzogene Ausgrenzung in keiner Weise nachvollziehbar. Es genügte, dass nahe Verwandte Mitglied der KPD waren, den Betroffenen keine ausreichende Arbeitsleistung zugetraut wurde oder jemand Spätentwickler war, und schon landeten Hunderte und Tausende auf dem Tisch skrupelloser NS-Ärzte.
Die "Grenzen zwischen Fortpflanzungsselektion und Vernichtungsselektion waren fließend", so der Psychotherapeut Michael Wunder in seinem Beitrag zu diesem Buch. Vielleicht bewirken die erschütternden Berichte der Überlebenden in Verbindung mit Analysen kritischer Wissenschaftler, dass es doch noch zur Außerkraftsetzung des skandalösen Erbgesundheitsgesetzes kommt und die Opfer als solche endlich anerkannt werden.
Margret Hamm (Hrsg.)
Lebensunwert zerstörte Leben.
Zwangssterilisation und "Euthanasie".
Verlag für Akademische Schriften, Frankfurt 2005; 254 S., 19,80 Euro