Das Buch, erstmals 1930 im Jüdischen Verlag erschienen, gehört in den Kontext der Debatte über "die Judenfrage", in der - anders als nach 1933 - die Fronten zwischen Zionismus und deutsch-jüdischem Patriotismus verliefen. In diesem innerjüdischen Diskurs, der nach dem Beginn der NS-Herrschaft noch einmal aufflammte, wurde um jüdische Identität zwischen dem Bewusstsein und der Erfahrung des Pariadaseins, dem Bedürfnis nach Integration und Assimilation und der Forderung nach Rückbesinnung auf jüdische Werte gestritten.
Die Probleme, die Theodor Lessing bewegten, sind durch die jüdische Katastrophe im Nationalsozialismus erledigt: Jüdische Identität und jüdisches Selbstbewusstsein definieren sich nach dem Holocaust anders.
Trotzdem bleibt Lessings Buch spannend. Das Pathos und die Eleganz seiner Sprache bezaubern den Nachgeborenen, und das Wiederlesen lohnt sich schon wegen der sechs biografischen Skizzen, die den größeren Teil des Buches ausmachen. Sechs tragische Gestalten, außer Maximilian Harden alle längst vergessen, die sich vom Judentum abgewendet hatten und heftig dagegen agitierten wie Arthur Trebitsch, der im antisemitischen Verfolgungswahn endete, und Otto Weininger, der 23-jährig als Philosophiestudent das Aufsehen erregende Buch "Geschlecht und Charakter" schrieb und sich im Augenblick des Erfolgs das Leben nahm. Ferner Paul Reé, der Adept Nietzsches gewesen war, Max Steiner, der Chemiestudent aus Prag, und Walter Calé, der Dichter. Portraitskizzen genialischer Jünglinge am Beginn des 20. Jahrhunderts: als Mosaiksteine einer Geistesgeschichte frühreifer Intellektueller haben sie eigenen Rang, als Argumente für den "jüdischen Selbsthass" sind sie nicht mehr nachvollziehbar.
Leider fehlt der verdienstvollen Neuausgabe die notwendige biografische Notiz über den Verfasser, der 1926 nach antisemitischen Demonstrationen seinen Lehrauftrag für Philosophie an der TH Hannover verlor, 1933 nach Marienbad emigrierte, wo er von sudetendeutschen Nazis ermordet wurde.
Theodor Lessing
Der jüdische Selbsthaß.
Mit einem Vorwort von Boris Groys.
Matthes & Seitz, Berlin 2004; 271 S., 15,90 Euro