An der Wand hängt eine Karte von Südamerika, aus dem Kassettenrekorder dröhnt Samba-Musik. Die siebte Klasse des Barnim-Gymnasiums in Ahrensfelde bei Berlin hat Sozialkunde und blickt so konzentriert in Richtung Tafel, wie es sich ihr Lehrer Holger Schaeffer nur wünschen kann. Der sitzt heute allerdings ganz hinten im Klassenzimmer und hält sich vornehm zurück. Denn jetzt hat Fabiana, die vorne an der Tafel steht, das Sagen. Die 29-jährige Brasilianerin ist nach Ahrensfelde gekommen, um den Schülern ihr Heimatland nahe zu bringen.
Nach ein paar Minuten heißer Samba-Rhythmen drückt Fabiana die Stopp-Taste des Kassettenrekorders und beginnt, von den verschiedenen Ethnien in Brasilien zu erzählen. "Schaut mich an", sagt sie fröhlich und mit leichtem portugiesischen Akzent. "Meine Urgroßmutter mütterlicherseits war Indianerin. Sie hat einen Portugiesen geheiratet. Und die Großmutter meines Vaters kam aus Deutschland und war mit einem Italiener verheiratet." Die Schüler staunen. Ein solch leibhaftiges Beispiel für Völkergemisch in ihrem Klassenzimmer ist natürlich viel eindrucksvoller, als es trockene Schulbuchlektüre über ethnische Vielfalt in Brasilien je sein könnte.
Den Besuch Fabianas verdanken die Schüler einem Projekt des World University Service (WUS), das im Juni 2003 startete und vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und von der Europäischen Union gefördert wird. Das Programm "Grenzenlos - Interkulturelles Lernen im Dialog" schickt junge Menschen aus Südamerika, Afrika und Asien, die an deutschen Universitäten studieren, in Schulen in Hessen, Brandenburg und Berlin. Dort erzählen sie vom Leben und von der Kultur in ihrem Heimatland. Ziel ist es, durch die Begegnung mit den ausländischen Studenten das Interesse der deutschen Schüler vor allem an den so genannten Entwicklungsländern zu wecken und Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit abzubauen.
2003 haben 15 Schulen ab der siebten Klasse an dem Projekt teilgenommen, im Jahr darauf wurde es auf 31 Schulen und auf die fünfte und sechste Jahrgangsstufe ausgeweitet. Das BMZ hat sich im März 2005 für eine Fortführung des Projekts und gegebenenfalls zu einer Ausweitung auf die übrigen Bundesländer ausgesprochen. Es erklärte sich außerdem zu einer Übergangsfinanzierung bereit und erteilte dem WUS die Aufgabe, bis Ende 2005 eine finanzielle Beteiligung der Länder zu erreichen.
Dass das Projekt dazu beiträgt, Rassismus vorzubeugen, davon ist Holger Schaeffer überzeugt. "Natürlich können auch wir Lehrer Wissen über andere Kulturen vermitteln", meint der 40-Jährige, der rein zufällig im Sommer 2003 von der Initiative des WUS erfuhr und sich sofort anmeldete. "Aber es ist etwas ganz anderes, wenn jemand, der aus einem fremden Land kommt, von diesem erzählt. Er hat einfach eine viel überzeugendere Ausstrahlung." Grundsätzlich seien die Schüler sehr neugierig, wenn ein ausländischer Student in den Unterricht komme.
Wichtig findet Schaeffer vor allem, dass die Gäste in der Lage sind, über ihre Kultur und ihr Land interessant zu berichten. "Und sie müssen in der Lage sein, den Schülern zuzuhören und auf ihre Fragen zu antworten", fügt der Lehrer für Geschichte und Musik hinzu. "Der Raum für die menschliche Begegnung ist das Entscheidende, weil nur über sie die Begegnung mit der fremden Kultur in Gang kommt."
Insgesamt 74 Studierende aus so unterschiedlichen Ländern wie Ghana, Georgien, Indien oder China wurden bislang als Kultur-Mittler in deutsche Schulklassen entsandt. Auf ihre Aufgabe werden sie vom WUS sorgfältig vorbereitet. In einem ersten Wochenend-Seminar machen sich die Studenten mit dem deutschen Bildungssystem vertraut, üben Methoden wie Gruppenarbeit und Diskussion und setzen sich in Rollenspielen mit möglichen Unterrichtsszenarien auseinander. In einem zweiten Seminar lernen sich die Studenten und die an einer Kooperation interessierten Lehrer kennen und verabreden sich für die gemeinsame Gestaltung einer Unterrichtsstunde.
Nach mindestens zwei Einsätzen an einer Schule treffen sich Studierende und Lehrer noch einmal, um ihre Erfahrungen auszutauschen und zu bewerten. Und schließlich kommen die Studenten zu einem weiteren Crash-Kurs zusammen, um ihre didaktischen und methodischen Grundkenntnisse auszubauen. Wer den Fortbildungs-Marathon durchhält, nimmt an einer Abschlussprüfung teil und erhält bei Bestehen ein Zertifikat, das ihn als "facilitator for global and intercultural education" ausweist.
Auch Fabiana hat so ein Zeugnis in der Tasche. Die Mutter eines vierjährigen Sohnes studiert Publizistik an der Freien Universität Berlin und ist eine überzeugte Verfechterin des Projekts "Grenzenlos". Sie will sogar ihre Magisterarbeit darüber schreiben. Allerdings hat sie noch keinen Professor gefunden, der ihre Begeisterung für das Thema teilt.
Dabei hat Fabiana nicht nur angenehme Unterrichtsstunden erlebt. In einer Klasse einer Realschule in Brandenburg schlugen ihr Desinteresse und auch Aggressivität entgegen. Als sie den Schülern das Bild eines brasilianischen Straßenkindes zeigte, hörte sie spöttische Bemerkungen über sein Aussehen. Entmutigen lässt sie sich von solchen Erlebnissen nicht. Dafür ist ihr das Projekt zu wichtig. Denn zum einen glaubt sie trotz manchem Rückschlag fest daran, dass es hilft, Vorurteile und Klischees abzubauen. Zum anderen erlebt sie ihre neue Rolle als begehrte Expertin in Sachen Brasilien auch als ein Stück Selbstbestätigung. Den Schülern der siebten Klasse am Barnim-Gymnas hat ihre lockere Art gefallen, und auch, dass sie alle Fragen beantworten konnte. Vor allem aber fanden sie es toll, dass ihnen nicht Klassenlehrer Schaeffer, sondern "eine echte Brasilianerin" von Brasilien erzählt hat.