Erst sterben die Worte, dann stirbt die Erinnerung. Auf diese Formel ließe sich bringen, was seit 1945 im kollektiven Bewusstsein der Deutschen zu geschehen droht. Die Zeiten, in denen noch jedes Kind wusste, was sich hinter Begriffen wie "Verschüttete", "Kriegsversehrte" oder "Bundesausgleichsamt" verbirgt, sind lange vorbei. Im Deutschen Historischen Museum in Berlin indes werden diese Vorstellungswelten noch einmal lebendig. Nicht nur über die Sprache, sondern ebenso über die Bilder.
Wer sich durch den Parcours der jüngst eröffneten Ausstellung "1945 - Der Krieg und seine Folgen" schlängelt, dem präsentiert sich noch einmal die deutsche Nachkriegszeit samt der dazugehörigen Alltagswelten. Da gibt es die extra geschneiderten Hosen für beinamputierte Kriegsheimkehrer, Essbestecks für Kriegsgefangene und aufklappbare Uhren, mit deren Hilfe Kriegsblinde die Stunde Null und den Fortlauf der Zeit erfühlen konnten. Schon diese kleine Auswahl verdeutlicht: Zur Besichtigung steht eine Wunde.
Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen haben Nachwirkungen bis weit über die Gegenwart hinaus. Selten war das Interesse am Jahrestag der Befreiung so immens, wie rund um den diesjährigen 8. Mai. Für das Deutsche Historische Museum ist es in diesem Jahr bereits das zweite Mal, dass man sich mit einer Ausstellung dem Jahr 1945 zu nähern versucht. Nach "Mythen der Nationen. 1945 - Arena der Erinnerungen", in dem die Kuratoren die Bedeutung des Kriegs-endes für nicht weniger als 35 Einzelstaaten abzuklopfen versucht haben, widmet sich die nun gezeigte Schau ausschließlich der Geschichts- und Erinnerungspolitik in Deutschland.
Mit gut 500 Exponaten, verstreut über sieben Themenräume, hat das Team um den Kurator Burkhard Asmuss den Spuren von NS-Faschismus und Zweitem Weltkrieg in der deutsch-deutschen Geschichte nachgespürt. Dabei wird die juristische Aufarbeitung in Nürnberg oder Frankfurt, im Eichmann- wie im Auschwitzprozess ebenso thematisiert wie etwa die erneute Annäherung an die deutschen Nachbarn. Wiederbewaffnung und Westintegration werden in gleichem Maße berücksichtigt wie Neue Ostpolitik oder Warschauer Pakt.
Dort, wo aufgrund unterschiedlicher politischer Lebenswelten Differenzen zwischen früher Bundesrepublik und DDR bestanden, wird auf gesonderten Schautafeln auf diese hingewiesen. Insgesamt aber stechen die verschiedenartigen Interpretationen der nationalsozialistischen Vergangenheit in Ost und West in dieser Ausstellung nicht sonderlich hervor. Das führt auf der einen Seite dazu, dass keine unnötigen ideologischen Gräben aufgerissen werden, macht andererseits aber die verschiedenartige Vergangenheitspolitik in den beiden deutschen Staaten über weite Teile unverständlich.
Ob die ostdeutsche Enteignungspolitik oder der frühe Rückzug der DDR-Regierung aus der historischen Verantwortung: Ohne eine dezidierte Kritik am sozialistischen Faschismusbegriff sind solche Phänomene letztlich nicht nachvollziehbar. So bleibt an manchen Stellen dieser Ausstellung leider nur ein Schauen und Staunen, ein Rätseln und Wundern.
Plakativ ist auch die Darstellung der Wiederbewaffnung in Ost und West, die Einbindung in Pariser wie Warschauer Verträge. Zwar illustriert bereits das unterschiedliche Design der ausgestellten Uniformen von Bundeswehr und NVA, dass hier deutsche Brüder unterschiedliche Wege gegangen sind; die dahinter brodelnde Kontroverse aber wird nur oberflächlich angerissen. Kein Bild von einer Demonstration gegen die Wiederbewaffnung, kein Transparent gegen Adenauers "neue Wehrmacht" vermag letztlich die Debatte zu illustrieren, die besonders in Westdeutschland der frühen 50er-Jahre die Gesellschaft gespalten hat. Hier ging es nicht um differierende Stahlhelmpassformen, hier ging es um die Remilitarisierung einer eben noch kriegstreibenden Nation. Die Fragen nach der Zukunft der Bundeswehr waren zu Beginn auch immer Fragen nach der Vergangenheit der Wehrmacht. Zu verquickt war das Personal, zu identisch das neue wie das alte Feindbild.
Hinter all diesen konzeptionellen Schwachstellen schlummert letztlich das Grunddilemma zeitgemäßer historischer Ausstellungen zum Nationalsozialismus und seinen Folgen. Dennoch, spätestens mit der Abschlusstour der überarbeiteten Wehrmachtsausstellung scheint dieser dunkle Abschnitt deutscher Geschichte kaum noch tiefgreifende Kontroversen in der Gesellschaft hervorzurufen, was aber nicht bedeutet, dass das Interesse am Themen nachlassen würde. Gerade in diesen Tagen des Gedenkens sind Zulauf und Einschaltquote beim Thema Nationalsozialismus besonders hoch. Doch ermöglichen die jahrzehntelangen Diskussionen und die Tatsache, dass nur wenige Zeitzeugen noch leben, nun einen offeneren Blick. Denn die Täter unter den Zeitzeugen, die mit ihrer großen Schuld im Nachkriegsdeutschland oftmals als ganz normale Familienväter und Großväter in dieser Gesellschaft lebten, sind mittlerweile meistens gestorben. Ein befreiteres und offeneres Reden und Nachdenken der Nachkommen ist daher eher möglich als noch vor ein paar Jahren. Lediglich am rechten Rand tauchen immer noch skurrile Parolen auf. Etwa jenes in der Ausstellung gezeigte Plakat, auf dem mit dem Slogan "Opa war in Ordnung" gegen die historische Wahrheit in der Wehrmachtsausstellung polemisiert wird.
Hans Ottomeyer, Generaldirektor des Deutschen Historischen Museums, sorgte denn auch nicht für Verwunderung, als er zu Eröffnung der Ausstellung schlicht feststellte, eine einfache und unspektakuläre Bilanz der Geschichte ziehen zu wollen. Keine theatralische Inszenierung, kein Paukenschlag. Ein Vergleich mit der Erinnerungspolitik Japans in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg oder mit der Türkei in Sachen Armenien unterstreichen die deutschen Wandlungen 60 Jahre nach Kriegsende wohltuend. Sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, ist in den letzten Jahrzehnten eben nicht Ausnahme, sondern Regel gewesen.
1945. Der Krieg und seine Folgen. Noch bis zum 28. August im
Deutschen Historischen Museum Berlin.