Armstrong erzählt die Geschichte der Fundamentalismen im Spannungsfeld eines im Vergleich zum Mittelalter neuartigen Dynamismus zwischen "Mythos" und "Logos". Unter Mythos ist das kollektive Gedächtnis einer Kultur zu verstehen, in das ohne Anspruch auf historische Wahrheit die Frage nach Transzendenz sowie nach Sinn und Bedeutung von Leben und Tod eingewoben ist. Der Logos ist die zum praktischen Leben notwendige Vernunft und Wissenschaftlichkeit.
In den vormodernen Agrarkulturen gab es kaum Konflikte zwischen Mythos und Logos, alle Menschen hatten Anteil an beiden Sphären. Erst als in Europa die technische Entwicklung unendliche Reproduzierbarkeit möglich zu machen schien, bekam der Logos die Oberhand. Diese Verschiebung erfaßte aber nie alle Menschen. Fundamentalismen entwickelte sich als Gegenbewegungen zum Säkularismus in jenen Teilen der Gesellschaften, die von Vorteilen der rationalen Weltsicht abgeschnitten blieben. Der Fundamentalismus versuchte, eine Gemeinschaft von Menschen in einer bestimmten Disziplin zusammen zu schweißen, die sich aus der Auserwähltheit von Gott ergibt.
Der Jude Spinoza konnte als Säkularer nur Wirkung entfalten, weil ihn die liberale Amsterdamer Gesellschaft auch aufnahm und unterstützte. Wo Juden aus den aufgeklärten Lebensbereichen ausgeschlossen und in Ghettos gezwungen wurden, lebte der Mythos weiter und konnte auch zur kämpferischen Intoleranz gegen die eigenen Leute werden, wenn sie sich seinen Gesetzen nicht beugen wollten.
Armstrong gibt eine geradezu enzyklopädische Darstellung der jüdischen fundamentalistischen Bewegungen besonders des 19. und 20. Jahrhunderts, wie sie kaum irgendwo anders zu lesen sein dürften. Ebenso wenig bekannt sind die amerikanischen fundamentalistischen Bewegungen, darunter die der Evangelikalen und Pfingstler. Charakteristisch für amerikanischen christlichen Fundamentalismus ist bis heute, dass er sich ins Gewand des Logos kleidet. Das heißt zum Beispiel, dass die Aussagen der Bibel für naturwissenschaftliche Wahrheiten erklärt werden. Seit den 50er- und 60er-Jahren versuchten fundamentalistischeGruppen über Wanderprediger wie Billy Graham und über das Fernsehen, Einfluß auf die liberale Mehrheitsgesellschaft auszuüben. Über die gemeinsame Bindung an das alte Testament ergab sich in den USA eine Annäherung von Teilen der christlich-fundamentalistischen und jüdisch-fundamentalistischen Bewegungen.
Obwohl sich Armstrong nicht scheut, die skurrilsten Erscheinungsformen der drei Fundamentalismen darzustellen, zeigt sie auch Verständnis für sie, insbesondere für den islamischen Fundamentalismus. Sie sah, dass er in den beiden von ihr behandelten Länder Iran und Ägypten durch die neokoloniale Abhängigkeit befördert wurde, der für die islamischen Massen den kalten Logos verkörpert. Mit dieser Empathie wollte die Autorin gegen den von Samuel Huntington herbeigeredeten "Clash of Civilisations" anschreiben. Weil ihr Buch vor dem 11. September publiziert wurde, peilte sie Lösungen innerhalb der Kulturgemeinschaften an, die heute naiv klingen:
Die Partisanen des Logos und des Mythos müssten sich aufeinander zu bewegen; die ägyptische Regierung müsste aufhören, Islamisten zu verfolgen. Aus heutiger Sicht erfährt man zu wenig darüber, weshalb sich die Entwicklungspotentiale der drei Fundamentalismen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts plötzlich nicht nur gegen die aufgeklärten Teile der eigenen Kultur wandten, sondern immer gewalttätiger auch gegeneinander Stellung bezogen. Die Annäherung Fundamentalisten und Säkularen innerhalb der Kulturen hat ja stattgefunden, wenn auch nicht in dem von Armstrong gewünschten Sinne. Es drückte sich im Entstehen von Ideologien aus, die zum Clash of Civilisations mißbraucht werden konnten.
Das ganze enorme Feld der Instrumentalisierung der Fundamentalismen durch politische Begehrlichkeiten von politischen Klassen kommt bei Armstrong nur in Andeutungen vor. Es fehlt zum Beispiel eine Untersuchung des Hegemoniestrebens der Saudis in der islamischen Umma, das sie zu Finanziers des weltweiten islamischen Fundamentalismus werden ließen. Unerwähnt bleibt folglich, dass der iranische Fundamentalismus nicht nur eine Eigendynamik entwickelte, sondern in der islamischen Welt in Wettbewerb mit dem saudischen Hegemonialstreben trat. Nur so ist Khomeinis Fatwa gegen Rushdie überhaupt zu verstehen.
Doch auch der christliche Fundamentalismus der USA, der zunächst das eigene Land und schließlich die ganze Erde zu Gottes Land machen will, wird von der konservativen Regierung für ihre Pläne zur Weltbeherrschung teilweise assimiliert und instrumentalisiert. Und die Sackgasse, in die der israelisch-palästinensische Konflikt geriet, wurde mitverursacht durch die Aufnahme fundamentalistisch-jüdischer Vorstellungen von der biblischen Ausdehnung Israels in die Handlungskonzepte der Regierung.
Trotz mancher Einschränkung handelt es sich um ein großartiges Werk, das im zivilgesellschaftlichen Kampf, der mittlerweile auch in der Etappe, zwischen den Partisanen des Logos in den drei Kulturen stattfindet, eine wichtige positive Rolle spielen kann. Wer Karen Armstrong gelesen hat, dürfte nicht mehr behaupten, dass in den anderen Kulturen mehr intolerantes Potential stecke als in der eigenen.
Karen Armstrong
Im Kampf für Gott. Fundamentalismus in Christentum, Judentum und Islam.
Aus dem Englischen von Barbara Schade.
Siedler, München, 2004; 608 S., 28,- Euro