Das Parlament: Im November findet als Höhepunkt der Feierlichkeiten anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Bundeswehr das Gelöbnis in Bordenau bei Hannover statt. Sie wissen, zwei Tage später entscheidet die SPD bei ihrem Parteitag über das Schick-sal der Wehrpflicht. Die Zahl der Gegner ist groß. Werden Sie wehmütig, wenn Sie an diese Tage denken?
Wolfgang Schneiderhan: Die beiden Ereignisse trenne ich sehr sorgfältig. Das eine ist der Anschluss an die Traditionslinien der Bundeswehr, für deren Einführung ich außerordentlich dankbar bin. Wir gedenken an diesem Tag des 250. Geburtstages des Militärreformers Scharnhorst. Das andere sind das politische Leben in der Bundesrepublik Deutschland und die aktuellen Fragen, die diskutiert werden. Für mich ist das Ereignis von Bordenau nicht von Wehmut überschattet.
Das Parlament: Dennoch - wird es schwierig sein für Sie, wenn die Wehrpflicht abgeschafft werden sollte?
Wolfgang Schneiderhan: Es ist schwierig, mit wenn und dann zu diskutieren. Jetzt erörtert die SPD intern diese Frage. Das Ergebnis muss man abwarten. Generell ist meine Position eindeutig, ich halte eine Abschaffung der Wehrpflicht für unzweck-mäßig und falsch.
Das Parlament: Bundesverteidigungsminister Peter Struck lässt keine Gelegenheit aus, für die Wehrpflicht zu werben. In seiner eigenen Partei scheint es aber vergebene Liebesmühe zu sein.
Wolfgang Schneiderhan: Bei Liebes-mühen merkt man erst am Ende, ob sie vergebens waren.
Das Parlament: Sie haben ein Großprojekt vor, nämlich das Bundeswehrkonzept für die Jahre 2006 bis 2013 für den Verteidigungsminister zu erstellen. Warten Sie den Verlauf des SPD-Parteitags erst ab?
Wolfgang Schneiderhan: Parteitage setzen nicht den Rahmen für die Bundeswehrplanung. Der Bundesverteidigungsminister hat mir alle notwendigen Vorgaben gegeben, um eine Konzeption der Bundeswehr zu entwickeln, die wir bis zum Jahre 2010 in die Wirklichkeit umsetzen wollen. Das ist jetzt unabhängig von der jährlich fortzuschreibenden konkreten Planung, die reicht bis ins Jahr 2013. In dem Vorgang ist die Wehrpflicht verankert, und auf dieser Basis plane ich.
Das Parlament: Besteht aufgrund der kippenden Alterspyramide nicht die Gefahr der Überalterung der Armee, wenn die Wehrpflicht aufgehoben werden sollte?
Wolfgang Schneiderhan: Es ist nicht so sehr die Frage der kippenden Alterspyramide. Im Augenblick sind wir da ganz gut aufgestellt. Die Frage wird sein, was ist, wenn ab 2007 die geburtenschwachen Jahrgänge kommen? Bei den geplanten 250.000 Soldaten ergibt sich ein ganz natürliches Spannungsfeld zwischen der geringer werdenden Zahl junger Männer und denen, die für die Streitkräfte zur Verfügung stehen.
Das Parlament: Aber welche Erfahrungen gibt es mit Überalterung von Armeen?
Wolfgang Schneiderhan: Es gibt Streitkräfte, die auf die Wehrpflicht aus politischen Gründen verzichten. Dort lässt sich die Überalterung in einsatzwichtigen Positionen von Soldaten schon jetzt feststellen. Das ist aber eine längerfristige Entwicklung, die sich nicht sofort negativ auswirken wird.
Das Parlament: Wie sieht derzeit die Situation bei der Nachwuchsgewinnung aus?
Wolfgang Schneiderhan: Wir haben im Augenblick eine gute Bewerberlage. Gut bezieht sich vor allem auf die Qualität, aber auch auf die Quantität. Insgesamt bin ich zufrieden.
Das Parlament: Wie bekommen Sie die angespannte Arbeitsmarktlage auf die Moral der Soldaten zu spüren?
Wolfgang Schneiderhan: Was meinen Sie mit "auf die Moral"?
Das Parlament: Ein Fregattenkapitän erzählte, dass er es deutlich zu spüren bekomme, wenn junge Soldaten die Bundeswehr als Notlösung betrachten.
Wolfgang Schneiderhan: Man kann sicherlich nicht ohne Überprüfung die Behauptung aufstellen, dass die Quantität der Bundeswehr etwas mit der Situation auf dem Arbeitsmarkt zu tun hat. Es ist eine Wechselwirkung, die ich nur schwer ermessen kann. Ob es eine Wechselwirkung gibt, kann ich nicht ausschließen. Das würden wir erst merken, wenn die Wirtschaft anzieht und sich der Arbeitsmarkt für Jugendliche verbessert. Unter den Wehrpflichtigen kommt ungefähr ein Drittel aus der Arbeitslosigkeit. Das ist ja nun nichts Negatives.
Das Parlament: Die Bundeswehr hat einen Wandel vollzogen von der Präsenz- hin zur Einsatzarmee. Welchen Soldaten braucht die Bundeswehr heute - den archaischen Kämpfer oder den Staatsbürger in Uniform?
Wolfgang Schneiderhan: Wir sind in einem Wandel von den konzentrierten Masseneinsätzen weg hin zu kleineren Kontingenten, auf vielen Schauplätzen. Ich glaube allerdings nicht, dass der Gegensatz in Ihrer Frage der richtige ist. Das Konzept "Staatsbürger in Uniform", das sich ausrichtet an dem, was uns das Grundgesetz auferlegt, mit der Achtung der Menschenwürde an der Spitze, war die Grundidee der Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland und damit auch der Bundeswehr. Das ist unberührt von allen Wandlungen und Veränderungen - sei es in Struktur, im Umfang oder Aufgabenspektrum. Ich kann keinen Umbau verantworten, der nicht genau diese Maßgabe berücksichtigt. Die Aufgaben haben sich nicht grundsätzlich verändert, sondern sie sind vielfältiger geworden. Das Aufgabenspektrum des Soldaten ist ungleich breiter als es in der geordneten kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Staaten war. Wir haben die zivilen Aufgaben, die präventiven, die fast polizeiähnlicher Art. Das Spektrum endet mit dem klassischen Kampfeinsatz des Soldaten. Das ist das eine. Das andere ist, dass Veränderungen in der Gesellschaft nicht vor dem Kasernentor halt machen. Sie kommen über die Wehrpflicht und über alle anderen Angehörigen der Bundeswehr in die Kasernen herein. All dem müssen wir Rechnung tragen. Deshalb würde ich es nie an einem Gegensatz oder an einem Antagonismus versuchen aufzubauen, sondern einfach positiv sagen: Unsere Grundlage ist die Innere Führung, der Staatsbürger in Uniform, der Primat der Politik, die Beachtung der Menschenwürde, das Bild vom staatsbürgerlich mündigen Soldaten, der sich der letzten Konsequenz des Berufs des Soldaten bewusst ist: Einsatz von Waffengewalt und Einsatz des eigenen Lebens.
Das Parlament: Ist der Status des Soldaten unübersichtlicher geworden?
Wolfgang Schneiderhan: Ja, ich glaube, er ist zum einen durch die Vielfalt schwieriger geworden. Zum zweiten, weil die Vielfalt des Fähigkeitsprofils nicht mehr theoretisch ist und in Schulen, Hörsälen oder Übungen stattfindet. Sie macht vielmehr den Alltag aus. Fähigkeiten werden wahrhaftig abgerufen. Das ist der Qualitätssprung, den wir machen und beim Umbau beachten müssen. Es ist alles reales Leben geworden. Darin sehe ich die größte Veränderung.
Das Parlament: Sie sprachen kürzlich sogar vom Diplomaten in Uniform. Heißt das, dass der Staatsbürger in Uniform bei der Bundeswehr ausgedient hat?
Wolfgang Schneiderhan: So habe ich das nicht gemeint. Was ich sagen will ist, dass viele Tätigkeiten, die bisher nicht beim kämpfenden Soldaten angesiedelt waren, in den jetzigen Aufträgen Wirklichkeit sind. Schlicht deshalb, weil zumindest in Anfangsphasen von Einsätzen Diplomaten gar nicht da sind. Also müssen Soldaten Verhandlungen in Afghanistan mit den Bezirkszuständigen führen, wie beispielsweise in Feyzabad. Dass wir dann später gerne die Aufgabe an Diplomaten abgeben, das versteht sich für mich von selber.
Das Parlament: Die Definition der Inneren Führung bringt manchen ins Stocken. Die Umsetzung war zu allen Zeiten kein leichtes Unterfangen. Erinnern wir uns an 1957: Zwei Jahre nach Gründung der Bundeswehr wurde eine Übung in der Iller durchgeführt, obwohl sie im Vorfeld ausdrücklich verboten war. 15 Soldaten kamen zu Tode. Als Staatsbürger in Uniform hätten sie die Übung verweigern können. 2004 traten Fälle von Misshandlungen auf, die nur zufällig ans Tageslicht kam. Als Staatsbürger in Uniform hätten sich die Soldaten wehren müssen. Woran krankt die Innere Führung?
Wolfgang Schneiderhan: Ich bin jetzt nicht in der Lage, das Paar von Ereignissen sauber gegeneinander abzugrenzen. Das Illerunglück ereignete sich elf Jahre vor meinem Eintritt in die Bundeswehr, und Coesfeld fiel in meine Zeit als Generalinspekteur.
Das Parlament: Es geht nicht um die saubere Abgrenzung, sondern um die Nennung von Beispielen quer durch die Geschichte hinweg.
Wolfgang Schneiderhan: Ob die Situation beim Illerunglück so war, dass man Gehorsamsverweigerung hätte erwarten können, vermag ich nicht zu sagen. Was Coesfeld angeht, kommt eine Menge von Faktoren zusammen. Ich spreche aber nicht von einer Krise der Inneren Führung, auch nicht von einer Krise der Auslegung des Konzepts "Staatsbürger in Uniform". Da gab es Fehlverfalten von Vorgesetzen, das teilweise jetzt noch juristisch überprüft wird. Die militärische Bewertung ist mit Fehlverhalten richtig beschrieben. Desweiteren gab es Soldaten, die das gar nicht so schlimm empfunden haben. Da spiegelt sich auch für uns wahrnehmbar eine Einstellungsveränderung der jungen Männer wider. Und dann gibt es ein drittes Phänomen, dass Vorgesetzte in der Bundeswehr diese Umstellung, Einsatz ist die Wirklichkeit, falsch interpretiert haben. Sie haben sich ein Bild vom Einsatz gemacht, das einer Überprüfung weder in der Theorie noch in der Realität standhält, um zu zeigen, was für harte Kerle sie sind. Da kommen ganz verschiedene Faktoren zusammen. Aber ich empfinde es nicht als Krise. Der Minister hat in dem Zusammenhang ja aufgerufen, dass man sich meldet, wenn einem ähnliches widerfahren sei. Es hat mich sehr beruhigt, dass das Ergebnis keine Welle war, sondern auf definierbare, eingrenzbare Fälle beschränkt blieb. Dass es immer wieder Verhaltensformen beim Militär gibt, von denen ich sagen würde, das war jetzt grob oder das hätte so nicht sein müssen, das ist wahrscheinlich so normal, wie es auf jeder Baustelle oder in jedem anderen Betrieb jeden Tag auch stattfindet. Wir haben aber eine größere Verantwortung für die Menschen, die uns anvertraut sind.
Das Parlament: Im Kalten Krieg herrschten strikte Feindbilder. Sicherlich mit ein Grund, weshalb bei Soldaten der Nationalen Volksarmee (NVA) in der DDR die hohe Gefechtsbereitschaft erhalten werden konnte. Wie werden Soldaten heute motiviert, wenn sie in den Einsatz ziehen?
Wolfgang Schneiderhan: Ich glaube, das erste ist, dass wir Sinn und Zweck der Einsätze vermitteln müssen. Das ist im Kosovo anders als am Horn von Afrika oder in Afghanistan. Die Mehrheit der Soldaten, die in der Bundeswehr Dienst tut, wünscht, dass die Aufträge im Interesse der Völkergemeinschaft Frieden und Sicherheit dienen. Es geht um Hilfe und Schutz, Wiederaufbau, Demokratie, Schlichtung militärischer Auseinandersetzungen zwischen Staaten oder Bevölkerungsgruppen und die Verhinderung des Auseinanderfallens von Staaten, in denen Recht und Ordnung wieder zur Macht verholfen werden soll.
Das Parlament: Wie haben sich die Auslandseinsätze auf das Selbstbewusstsein der Bundeswehr ausgewirkt?
Wolfgang Schneiderhan: Unser Selbstbewusstsein war immer angemessen. Die Einordnung unter dem Primat der Politik hat für mich nichts mit meinem Selbstbewusstsein als Soldat zu tun, weil ich die Einordnung freiwillig und bewusst vornehme. Ich diene in vollem Bewusstsein und leiste freiwilligen Verzicht auf bestimmte Dinge. Wir können beweisen, dass wir den Anforderungen gerecht werden und unserem Vaterland gute Dienste erweisen.
Das Parlament: ... und vor dem Hintergrund unserer jüngsten Geschichte?
Wolfgang Schneiderhan: Freilich, müssen wir die Geschichte verarbeiten. Ich wäre aber nie auf die Idee gekommen, dass ich auf die Bundeswehr, auf ihre Leistung, auf ihre Menschen und auf mich selbst nicht stolz sein dürfte. Natürlich mussten wir uns rechtfertigen. Das war neu in unserer Militärgeschichte. Die Frage habe ich mir oft gestellt, warum ich als Soldat eigentlich erklären muss, dass wir von der Bundeswehr kommen? Das hat aber nicht an meinem Selbstbewusstsein gekratzt. Die Bundeswehr hatte bis 1990 einen Feuerwehrcharakter, immer mit dem Zusatz, hoffentlich müssen wir es nicht einsetzen. Wenn das zur erfolgreichen Überwindung der deutschen Teilung beigetragen hat, dann bin ich stolz. Ich bin in die Bundeswehr eingetreten, als sie umstritten war. Das hat sich positiv verändert.
Das Parlament: Wo liegt bei Ihnen die Schmerzgrenze bei der Zahl der Auslandseinsätze?
Wolfgang Schneiderhan: Auslandseinsätze können nicht über einen Kamm geschoren werden. Geschlossene Kontingente in Afghanistan mit 2.200 Soldaten oder im Kosovo sind eine andere Herausforderung, als wenn man jetzt bis zu 75 Militärbeobachter im Sudan oder zwei Schiffe für ein halbes Jahr in Afrika bereitstellen muss. Bei zeitlich festgelegten, in der Dimension übersichtlichen Einsätzen würde ich mich heute nicht mehr mit einer Schmerzgrenze beschäftigen.
Das Parlament: Das heißt, die Höchstzahl ist noch lange nicht ausgereizt?
Wolfgang Schneiderhan: Das ist pauschal nicht zu beantworten. Aber das Ziel unseres Transformationsprozesses gibt eine Richtung: Wir müssen aus 250.000 Soldaten mehr Einsatzfähigkeit gewinnen.
Das Parlament: Besteht bei den vielen kleinen Einsätzen nicht die Gefahr der Verzettelung?
Wolfgang Schneiderhan: Aus militärischer Sicht besteht die Gefahr. Ich glaube aber, wir müssen uns damit abfinden, dass die Zeit des Masseneinsatzes vorbei ist, und die enstprechenden Konsequenzen für Organisation, Führung und Ausbildung ziehen.
Das Parlament: Wird die Logistik damit aufwändiger?
Wolfgang Schneiderhan: Ja. Die Versorgung über drei Kontinente in neun verschiedenen Einsätzen ist eine andere Herausforderung, als wenn man nur einen Einsatzort hat. Auf der anderen Seite glaube ich, dass wir mit der Restrukturierung des logistischen Systems in der Bundeswehr, der angemessenen Zentralisierung, die richtigen Schritte eingeleitet haben.
Das Parlament: Werden Sie sich mit dieser Frage auch in Ihrem neuen Bundeswehrkonzept befassen?
Wolfgang Schneiderhan: Das ist ein zentrales Thema. Da wird die Führungsfähigkeit klar, die weltweite Aufklärungs- und Transportfähigkeit und der Schutz unserer Leute, wenn sie so weit von Zuhause weg im Einsatz sind.
Das Parlament: Herr Generalinspekteur, zum Schluss möchte ich Ihnen eine ganz unmilitärische Frage stellen: Sind Sie verwandt mit dem berühmten Geiger Wolfgang Schneiderhan?
Wolfgang Schneiderhan: Er war mein Großonkel.
Das Parlament: Und wie sieht Ihre musische Ader aus?
Wolfgang Schneiderhan: Mit dem Vornamen Wolfgang wollte man mir in die Wiege legen, dass ich der Nachkomme werde von dem Geiger. Daraus wurde nichts. Ich habe Akkordeon gespielt, aber ich empfand es als Zwang. Seit kurzem bin ich Großvater. Seit dem versuche ich mich ganz heimlich an der Mundharmonika.
Das Interview führte Almut Lüder