Am 5. Juli 1999 befand ich mich in scheinbar guter Gesellschaft. Ich war umgeben von lauter frisch gebackenen Abiturienten, die ihre erste große Hürde im Leben genommen hatten. Nicht ganz ohne Naivität saßen wir in einem sichtlich überfüllten Unterrichtsraum der Karl-Günher-Kaserne im thüringischen Sondershausen, ohne auch nur zu ahnen, was das Soldatenleben im 4. Raketenartilleriebataillon 132 mit sich bringen würde. Doch während die Diskussion über unsere Leistungskurse noch in vollem Gange war, schrie ein Fähnrich: "Ihr Gehirn haben Sie hoffentlich an der Wache abgegeben, denn in Zukunft übernehmen wir das Denken für Sie!" Wir, damit meinte er 20-jährige Offiziersanwärter und Unteroffiziere, die bis vor einem Jahr selber noch "Schulterglatzen" (also Rekruten ohne Rangabzeichen) waren. Es folgte ein mit unfreiwilliger Komik versehener Abriss von dem, was uns die nächsten acht Wochen in der Grundausbildung erwarten würde. Anleihen aus dem Film "Full Metal Jacket" waren dabei in der Sprache des Fähnrichs unverkennbar. Erst als wir um Mitternacht immer noch mehr oder weniger erfolgreich den Gleichschritt übten und uns das Wecken für fünf Uhr angekündigt wurde, war auch dem Letzten das Lachen vergangen.
In den kommenden Wochen zogen unsere Ausbilder das komplette Rekrutenprogramm durch: Gefechtsmärsche, Formaldienst, Sport, Waffenkunde, ABC-Schutzübungen und das besonders verhasste Biwak - scherzhaft auch "Bundeswehrinternes Wohnen außerhalb der Kaserne" genannt. Wer geschickt genug war, konnte sich per Truppenarztbesuch um den ein oder anderen Marsch drücken und erhielt zudem das Universalheilmittel "Mobilat". Insbesondere kurz vor den Biwaks war das Wartezimmer stets gut besucht. Hatte man sein Leiden glaubhaft genug geschildert, konnte das Leben im Felde nicht nur bundeswehrintern, sondern vor allen Dingen kasernenintern erlernt werden. Eigens hierfür hatten unsere Ausbilder ein Zeltlager auf dem Dachboden der Kaserne errichtet. Wir Gesundgebliebenen krochen stattdessen durch distelüberwucherte Felder, schossen auf gesichtslose "Pappkameraden" und erstickten in der prallen Mittagssonne fast unter den übelriechenden ABC-Masken.
Doch gegen wen wir uns da eigentlich in der Gefechtsausbildung wappneten, konnte kein Vorgesetzter sagen. "Früher hieß der Feind Rot-Land und kam immer aus dem Osten. Heute heißt er Blau-, Gelb- oder Grünland und kommt mal aus dem Norden, mal aus dem Süden oder aus dem Westen.", meinte unser Gruppenführer. Sehr diplomatische Antwort. Überhaupt achtete man sehr auf die "political correctness". Im Politikunterricht wurde mit keiner Silbe erwähnt, dass sich die Bundeswehr zu Beginn des Kosovo-Krieges im März 1999 erstmals in ihrer Geschichte aktiv an Kampfhandlungen beteiligt hatte. Die humanitären Aufgaben der SFOR- und KFOR-Soldaten wurden da schon ausführlicher erläutert.
Schließlich sollte der Kosovo-Konflikt auch für uns bald näher rücken. Allerdings in einer Form, die wir so nicht erwartet hatten. Nach der Grundausbildung wurde unser Bataillon auf den Truppenübungsplatz Munster in die Lüneburger Heide versetzt. Die Aufgabe für die kommenden zwei Monate lautete: Ausbildungsunterstützung für das dritte KFOR-Bundeswehrkontingent. Doch wie bitteschön sollte ein Haufen Gefreiter altgediente Soldaten auf einen Auslandeinsatz in der instabilsten Region Europas vorbereiten? "In den kommenden Wochen werden Sie das Leben im Krisengebiet simulieren. Hierfür müssen Sie Ihr ganzes Schauspieltalent aufbringen.", meinte der befehlshabende Oberst. So eigneten wir uns schleunigst ein paar Brocken "Phantasieserbisch" an und schlüpften fortan in die Rollen von Kosovaren, Serben und Verwundeten. An unterschiedlichen Stationen sollten wir die KFOR-Soldaten in möglichst knifflige Situationen bringen. Dabei war es für die "Auszubildenden" sichtlich harte Arbeit, uns Schwerverletzte aus verunglückten Fahrzeugen zu bergen oder eine drohende Schlägerei zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen zu verhindern. Nur wenige Soldaten "deeskalierten" die Situationen fehlerfrei. Selbst gestandene Offiziere stießen oft an ihre Grenzen und mussten sich Kritik an ihrem Verhalten gefallen lassen. Wir konnten uns dagegen über das Lob der Vorgesetzten freuen, die unseren ungewöhnlichen Einsatz mit dienstfreien Tagen und einem Ausflug nach Hamburg belohnten.
Zurück in Sondershausen begann unsere eigentliche Ausbildung an den MARS-Raketenwerfern. Genervt übten wir jeden Tag stundenlang das Ausrichten der Raketenbatterie sowie das Be- und Entladen der Werfer. Die Computersteuerung aus den 70er-Jahren kapierte jedoch niemand so recht. Glücklicherweise schienen die Anwohner der Kaserne Mitleid mit uns zu haben. Es hagelte Beschwerden wegen der Lärmbelästigung, so dass unsere Übungen schließlich auf ein Minimum reduziert wurden. Fortan hieß es nahezu jeden Tag: Technischer Dienst. Konkret bedeutete dies Autowaschen, vorzugsweise mit Hilfe der Waschanlage in der 20 Kilometer entfernten Kyffhäuser-Kaserne in Bad Frankenhausen. Erst Anfang April 2000 konnten wir unser militärisches Wissen in die Praxis umsetzen. Wir kehrten nach Munster zurück, diesmal jedoch mit acht MARS-Raketenwerfern im Gepäck. So führten wir für die nächsten zwei Wochen erneut Krieg gegen einen unsichtbaren Gegner namens Blau-Land, bevor es am 30. April 2000 auch für uns hieß: "Abgänger!"
Michael Münch studiert an der TU Chemnitz und absolviert
derzeit ein Praktikum bei "Das Parlament".