Im Jahr 2005 bedarf die Besinnung auf die Wertegemeinschaft einer Erneuerung. In den Zeiten des Kalten Krieges wurde von der NATO nur noch die Rolle als Sicherheitsagentur wahrgenommen. Nach dem Ende der Systemkonfrontation kam der Stabilitätstransfer hinzu. Schnell übernahm sie in der sich verändernden Welt konkrete Aufgaben der Friedenssicherung. Das Einsatzgebiet der Allianz wurde immer weiter ausgedehnt, bis im Mai 2005 die erste NATO-Operation in Afrika dazukam. Diese Rolle als Stabilisationsorganisation, die vorwiegend mit militärischen Mitteln, mit Streitkräften wahrgenommen wird, prägt jetzt das öffentliche Bild der NATO. Die von vielen gewünschte Rolle als das transatlantische Konsultationsgremium trat in den Hintergrund.
Besonders augenfällig wurde dies während der Irak-Krise vor zwei Jahren. Darüber wurde in der Allianz nicht gesprochen. So konnte die NATO nicht als euro-atlantisches Instrument zum Interessensausgleich dienen. Dabei reichte dieser Konflikt an die Peripherie der NATO heran: Die Türkei ist Mitglied der Allianz. Auch der aktuelle Konflikt mit dem Iran wird in der Allianz nicht debattiert. Die Tagungen der NATO beschäftigen sich mit den Missionen, die unter ihrem Dach gegenwärtig geführt werden - im Kosovo, im Afghanistan, die Ausbildungshilfe für die neuen irakischen Streitkräfte. Diese operative Ausrichtung der NATO verhindert die Debatte über Krisen und ihre Bewältigung.
Die Kritik an der politischen Sprachlosigkeit wurde in den letzten Jahren immer wieder geäußert. Bei der Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik im Februar 2005 hat Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) seinen Unmut darüber spektakulär zu Protokoll gegeben. NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer hatte erste Schritte hin zu einer stärkeren politischen Debatte für das Treffen der Außenminister der Allianz in Vilnius im April vorbereitet. Während Außenminister Joschka Fischer (Grüne) die dortige Diskussion als die beste in seiner sechseinhalbjährigen Amtszeit bezeichnete, berichten andere, dass der Elan der dortigen Ministerdiskussion im Tagesgeschäft der Allianz wieder verpufft sei.
Die Beschlüsse der NATO auf ihren wöchentlichen Ratssitzungen müssen nach den Regeln der Allianz einstimmig fallen. Raum für Diskussionen, so argumentieren einige, gibt es da wenig. Da die NATO in Operationen engagiert ist, darf wegen der Außenwirkungen nicht der Eindruck der Uneinigkeit entstehen, der aber unvermeidbar ist, wenn man noch nach gemeinsamen Positionen sucht. Deswegen suchen die Verantwortlichen nach Wegen, wie ohne formelle Beschlussfassung solche Debatten mit dem Ziel des Interessenausgleichs möglich sind. Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestages, Ulrike Merten (SPD), nannte in einem Interview (mit der Fachzeitschrift "Europäische Sicherheit") zwei Beispielthemen: Die Europäer müssten unvoreingenommen überlegen, was geschehen soll, wenn ein Staat unzweifelhaft des Verstoßes gegen das Verbot der Weitergabe von Massenvernichtungswaffen überführt wird. Die USA müssten sich der Frage stellen, was passieren soll, wenn Demokratisierungsprozesse nicht zur erwünschten Stabilität führen.
Mit dem Ende der Blockkonfrontation hat die NATO ihre konzeptionellen Grundlagen der neuen Situation kontinuierlich angepasst. Das neue strategische Konzept, das die Allianz auf ihrem Gipfel 1999 in Washington beschloss, erwähnte erstmals die Bekämpfung des internationalen Terrorismus als Aufgabe.
Die Anschläge auf New York und Washington am 11. September 2001 haben deutlich gemacht, dass die asymetrischen Bedrohungen das eigentliche Sicherheitsrisiko dieser Jahre sind. Darauf war das Bündnis nicht richtig vorbereitet. Es hatte eine Struktur, die nach Regionen aufgebaut war. Ein strategisches Kommando für die Atlantik-Region in Norfolk (USA) und eines für die europäische Region in Mons (Belgien) führten die Einsatzverbände der Allianz. Um sich besser aufzustellen, wurde das Kommando in Norfolk zum Kommando für die Transformation der Allianz, das in Mons zum weltweit zuständigen Einsatzführungskommando.
Mit einem entsprechenden Unterbau in der Kommandostruktur hat die NATO sich für diese neuen Aufgaben fit gemacht. Hinzu kam die Schaffung einer der NATO Response Force, einer schnell und weltweit einsetzbaren Eingreiftruppe.
Diesen organisatorischen Rahmen müssen nun die Streitkräfte der Mitgliedstaaten ausfüllen. Diese Ausrichtung der Streitkräfte auf die jetzt aktuellen Herausforderungen gestaltet sich immens schwierig. Das hat zum einen mit der Haushaltslage in allen NATO-Staaten zu tun, die den Umgestaltungsspielraum sehr eng fasst. Zum anderen sind die Ausgangspositionen der Staaten für die Transformation sehr unterschiedlich.
Die alten NATO-Staaten müssen ihre Streitkräfte von den bisher auf Landesverteidigung in Europa ausgerüsteten Armeen auf mobile, weltweit operierende Kräfte umrüsten, die die gesamte Bandbreite militärischer Operationen - vom Blauhelmeinsatz bis zur Kriegsführung - leisten können. Die neuen NATO-Staaten müssen einen noch größeren Sprung vollziehen: Sie waren bislang auf Aufgaben des Warschauer Pakts ausgerüstet, zudem mit Gerät, das nicht kompatibel zum NATO-Gerät ist.
Auf der Gipfelkonferenz in Washington 1999 hat die NATO eine "Initiative" für neue Fähigkeiten beschlossen, die sehr umfangreich war. Alles, was finanz-wirksam war, wurde damals nicht umgesetzt. 2002 hat der NATO-Gipfel in Prag eine "Verpflichtung" für neue Fähigkeiten beschlossen, die weniger umfangreich, dafür aber bindend war. Auch jetzt kamen jene Maßnahmen nicht richtig voran, die die Etats deutlich belastet hätten. Ein Beispiel: Es dauerte allein zwei Jahre, den Plan umzusetzen, für den strategischen Lufttransport bis zur Beschaffung des Airbus 400 M Ende des Jahrzehnts eine Übergangslösung auf Leasing-Basis zu vereinbaren.
Das große Problem der NATO ist es, dass die Nationen nicht in ausreichendem Masse in der Lage oder bereit sind, die Aufgaben zu übernehmen. Die NATO hat im Juni 2004 gemeinsam eine Ausbildung der irakischen Streitkräfte beschlossen. Bis zum Mai 2005 ist so gut wie nichts geschehen. Es scheitert daran, dass die Mitgliedsstaaten keine Truppen zum Schutz jener Verbände bereitstellten, die im Irak die Ausbildung betreiben sollten. Der NATO- Oberbefehlshaber drohte damit, dafür die Dienste privater Sicherheitsdienste in Anspruch zu nehmen.
Die Koordination der militärischen Fähigkeiten muss intensiviert und verbessert werden. Es gibt erst sehr wenige erste Schritte hin zu einer wirksamen Aufgabenteilung. Nur selten hat man vereinbart, dass bestimmte Länder Aufgaben für die ganze Allianz übernehmen. Eines der Beispiele ist es, dass Deutschland und Tschechien eine besondere Fähigkeit im Bereich des ABC-Schutzes aufbauen.
Diese Arbeitsteilung muss einhergehen mit einer weiteren politischen Entscheidung: Wenn diese Arbeitsteilung gewollt ist, müssten die Mitgliedsstaaten bereit sein, die Truppen immer zur Verfügung zu stellen, wenn die NATO sie benötigt. Nationale Beschränkungen beim Einsatz der Truppen müssen abgebaut werden. Hier ist auch Deutschland gefordert. Die am Horn von Afrika eingesetzte Marine darf dort nicht eingreifen, wenn Piraten Handelsschiffe überfallen - sie muss dann Verbündete rufen -, sie darf nur im Anti-Terror-Kampf eingesetzt werden. Auch in Afghanistan beteiligt sich Deutschland nicht an der Drogenbekämpfung. Wenn Deutschland - wie geplant - die Verantwortung für den gesamten Norden Afghanistans übernehmen soll, muss sie diese Beschränkung zumindest überdenken.
Die weitere Reform der NATO hat also zwei Schwerpunkte: Zum einen muss sie ein Forum finden, um politisch alle sicherheitsrelevanten Themen zu besprechen und damit den Ausgleich der Interessen leisten zu können. Zum anderen müssen die militärischen Fähigkeiten der Allianz aufgebaut und ihr zuverlässig zur Verfügung gestellt werden. Dann kann sie die Aufgabe der Wertegemeinschaft, des Stabilitätstransfers und der Sicherung der territorialen Integrität der Mitgliedsstaaten auch künftig leisten.
Rolf Clement ist Redakteur beim Deutschlandfunk in Köln.