War es der Mut des Verzweifelten oder auch verletzte Eitelkeit? Tatsache ist, dass der hochangesehene luxemburgische Premierminister und zu diesem Zeitpunkt noch amtierende Ratspräsident Jean-Claude Juncker in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament die üblichen Gleise der Rhetorik verließ. Anstelle der geläufigen diplomatischen Floskeln wählte Juncker bewusst die politische Konfrontation. Zunächst wirkte seine Aussage, Europa befinde sich in einer schwerwiegenden, aber auch völlig unnötigen Krise, etwas verbittert. Mit dem Nachsatz, dass jeder zukünftige Finanzkompromiss nur unbedeutend vom Luxemburger Vorschlag für einen EU-Finanzplan in Höhe von 1,054 Prozent (gemessen an der Wirtschaftsleistung aller Mitgliedstaaten) abweichen werde, setzte er sogar noch eine Spitze drauf. Und dann gab es noch eine Premiere: Erstmals gab ein EU-Politiker Einzelheiten aus den Beratungen der Staats- und Regierungschefs hinter verschlossenen Türen der Öffentlichkeit Preis. Dem britischen Premier sei es gar nicht um einige Milliarden mehr oder weniger gegangen. Er habe vielmehr zu diesem Zeitpunkt und auf dieser Grundlage eine Einigung um jeden Preis verhindern wollte.
Ausführlich ging Juncker auf die wesentlichen Streitpunkte ein. Sein letztes Angebot hätte Blair unter dem Stichwort Britenrabatt jährliche Rückzahlungen von über 5,5 Milliarden Euro eingebracht, mehr als im Durchschnitt der letzten 20 Jahre. Junckers Vorschlag wollte lediglich ein künftiges weiteres Ansteigen verhindern. Bei Blairs Zustimmung hätten die größten Nettozahler Deutschland und Schweden entlastet werden können, die Niederlande sogar um eine Milliarde Euro. Für den Rabatt an England wären nur die 15 alten Mitgliedstaaten herangezogen worden. London hätte zwar die Strukturhilfen für die zehn neuen Staaten künftig mitfinanzieren müssen, nicht jedoch deren Agrarförderung durch die EU. Aber selbst das habe Blair noch abgelehnt, als die zehn neuen Länder den Vorschlag machten, auf einen Teil der ihnen zugedachten Hilfen zu verzichten.
Als völlig verzerrt bezeichnete Juncker die britische Darstellung, wonach für die Landwirtschaft wesentlich mehr ausgegeben werden solle, als für die zukunftsträchtigen Sektoren Forschung und Energie. Die Gemeinsame Agrarpolitik - der einzige, vollständig vergemeinschaftlichte Bereich in der EU - hätte von 2007 bis 2013 mit 305 Milliarden ausgestattet werden sollen. Die staatlichen Aufwendungen der 25 Mitgliedstaaten und der Union zusammengenommen hätten für diesen Bereich jedoch 524,5 Milliarden ergeben. Insgesamt habe sein neuer Vorschlag eine Reduzierung der Landwirtschaftsausgaben um 17 Prozent vorgesehen.
In der übrigen Bilanz des Luxemburger Vorsitzes hob Juncker die Reform des Euro-Stabilitätspakts mit der Stärkung der vorbeugenden Maßnahmen und einem nicht zu flexiblen Korrekturmechanismus hervor. Der neue Anstoß zur Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung lege mehr Wert auf Forschung und Entwicklung unter Beibehaltung des sozialen Zusammenhalts. Befriedigt verwies Juncker auf die erreichte Zusage der EU-Staaten zur Aufstockung der öffentlichen Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens bis 2015.
Der Vorsitzende der EVP-Fraktion, Hans-Gert Pöttering, unterstützte Juncker mit der Ankündigung, jedem den Kampf anzusagen, der die EU auf eine Freihandelszone zu reduzieren versuche. Der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Fraktion, Martin Schulz hatte ebenfalls viel Lob für Junker: Er habe in seiner elfjährigen Zugehörigkeit zum Europäischen Parlament noch nie eine solch offene und beeindruckende Präsentation einer Präsidentschaft gehört. Das sei der Start zur Rückgewinnung der Glaubwürdigkeit gegenüber den Bürgern in Europa gewesen. Der Misserfolg in Brüssel habe einen Namen: Der Partikularismus der Staats- und Regierungschefs, von denen jeder nur an sich selbst denke.
Nicht einmal 20 Stunden nach dem Auftritt Junkers verwahrte sich der britische Premierminister Blair an gleicher Stelle gegen Vorwürfe, er wolle nur eine gehobene Freihandelszone und sei gegen eine politische Union. Bei der Vorstellung des Arbeitsprogramms seines EU-Vorsitzes im zweiten Halbjahr rief Blair die EU zu weit reichenden Reformen auf. Diese Aussprache müsse jetzt geführt werden, weil nach Annahme des Finanzpakets sieben Jahre lang kaum noch Veränderungen möglich seien. "Ich bin für das Europäische Projekt, ich will Europa verändern", erklärte Blair und bekräftigte seine Zustimmung zum Inhalt der europäischen Verfassung: "Ich will die Union stärken und nicht ruinieren."
In Sachen EU-Finanzkrise bekräftigte Blair seine Haltung, die künftige Finanzplanung müsse mehr Geld für Forschungs- und Zukunftsaufgaben vorsehen und dafür bei der Landwirtschaft sparen. Er wies die Vorwürfe Junckers zurück, wonach die EU in Anhänger einer Freihandelszone und Befürworter einer politischen Integration gespalten sei. Damit sollten nur Ängste vor Veränderungen geschürt werden.
Blair, der noch vor drei Jahren hinsichtlich der EU-Erweiterung für einen langfristigen Agrarkompromiss gestimmt hatte, sagte, ein modernes Budget dürfe nicht noch in zehn Jahren 40 Prozent für die Landwirtschaft verschwenden. Auch der von einigen geforderte Stopp der Erweiterung werde langfristig keinen einzigen Arbeitsplatz schaffen, kein Unternehmen retten und keine Firmenverlagerung verhindern. Dies bewirke nur einem Rückfall in Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit - der Erweiterungsfahrplan mit Kroatien und der Türkei solle wie vorgesehen fortgesetzt werden.
In der Debatte war es erneut der Fraktionschef der Sozialdemokraten, Martin Schulz, der am eindeutigsten Stellung bezog. Er rechnete dem "Parteifreund" vor, dass 0,47 Prozent des europäischen Sozialprodukts für die Landwirtschaft ausgegeben werden - aber nur 0,86 Prozent für Forschung und Entwick-lung. Etwas bissig erinnerte er daran, dass Blair die Europäische Verfassung in Rom mitunterschrieben habe. In den Reformdebatten aber seien die Briten - wie bei der Tour de France - meist dem Hauptfeld hinterhergefahren. Der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses, Elmar Brok, sagte, wenn Blair ein guter Europäer sein wolle, dann solle er sich endlich sowohl dem Schengenraum als auch dem Euro anschließen und sich so ganz in Europa integrieren.
Junckers Auftritt in Brüssel war für Blair zu einer Herausforderung geworden. In der Art, wie er sie nur einen Tag später annahm, verdiente er sich zumindest Respekt. Stieß er mit seinem Eingangsbekenntnis, ein "leidenschaftlicher Pro-Europäer" zu sein, noch überwiegend auf höhnisches Gelächter, wurde daraus bald Nachdenklichkeit und letztlich auch Hoffnung, dass die Krise ein reinigendes Gewitter bewirken könne. Es war der zweite Akt der von Juncker vorgegebenen Offenheit, aus der, so die Hoffnung zahlreicher Abgeordneter, eine fruchtbare Zukunftsdiskussion über Europa entstehen könnte.
Konkrete Projekte konnten von Blair in dieser Situation noch nicht erwartet werden. In sechs Monaten allerdings helfen Blair auch die leuchtenden Augen und seine brillante Rhetorik nichts mehr, denn dann muss er sich, so die Meinung vieler EU-Parlamentarier, an seinen Taten messen lassen.