In der großen Pause gegen halb zehn zückt ein 16-jähriger plötzlich ein Messer und geht damit auf einen Mitschüler los. Der Streit zwischen den beiden Jugendlichen, so berichten Klassenkameraden später, hat eine Vorgeschichte. Dem Täter war ein paar Wochen zuvor das Handy gestohlen worden. Sein späteres Opfer hat er des Diebstahls verdächtigt, ständig mit ihm gestritten, ihn beschimpft und mehrfach körperlich bedroht. Jetzt entlädt sich die hoch geschaukelte Aggression in einem brutalen Akt der Gewalt: Der attackierte Junge wird von der Spitze des Messers am Ohr verletzt, muss im Krankenhaus ambulant versorgt und danach wochenlang psychologisch betreut werden.
Kein Alltag in deutschen Schulen, aber auch kein Einzelfall: Als das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen 12.000 Schüler nach ihren Gewalterfahrungen befragte, gaben fast zehn Prozent an, im letzten halben Jahr massiven Übergriffen ausgesetzt gewesen zu sein. Erschreckend im Vergleich zu früheren Erhebungen ist dabei weniger die Häufung von Gewalt an sich als die Schärfe und Verrohung der Konflikte. Alte Ehrbegriffe, wo die Grenzen einer "Klopperei" zwischen zwei Kontrahenten liegen, scheinen nicht mehr zu gelten. "Das hat eine neue Qualität, es geht nicht darum, jemanden ein bisschen einzuschüchtern oder zu quälen", beobachtet der Düsseldorfer Anti-Gewalt-Trainer Simon Steimel: "Oft ist das Ziel, jemanden zu zerstören."
Zusammen mit seinem Kollegen Holger Schlafhorst ist Steimel an den Schulen als "Feuerwehr" unterwegs. Die beiden Trainer, die eigentlich aus der Theaterszene kommen, haben in den letzten Jahren Zehntausende von Jugendlichen für das Thema sensibilisiert. Sie verstehen ihre Arbeit als Präventionsangebot, doch häufig werden sie erst gerufen, wenn eine Schule durch eine spektakuläre Auseinandersetzung öffentlich unter Druck geraten ist. Der gute Ruf steht auf dem Spiel, die Eltern sind aufgebracht, die Lehrer verunsichert und überfordert. Die meisten Pädagogen seien "auf solche Situationen nicht vorbereitet", warnt Siegfried Preiser, Professor für Psychologie.
Wer heute als Erwachsener auf die eigene Schulzeit zurückblickt, kann sich meist durchaus an handfesten Streit und gewaltsame Konflikte erinnern. Die sozialwissenschaftliche Forschung geht davon aus, dass die Zahl solcher Vorkommnisse an den Schulen im Verhältnis zu früher sogar deutlich zurückgegangen ist. Das Problem liegt offenbar woanders, nämlich in kulturellen Veränderungen: Der einst gültige, meist unausgesprochene Konsens über bestimmte Rituale der Konfliktaustragung wird nicht mehr von allen Beteiligten akzeptiert. Die soziale Kontrolle durch Freunde, Pädagogen und Eltern ist schwächer geworden. Mitschüler erinnern übergriffige Jugendliche nicht mehr selbstverständlich an die früher üblichen "Faustregeln" einer Rangelei - etwa, dass "man keine Mädchen schlägt" oder bestimmte Körperteile als "tabu" gelten. Manche Lehrer pflegen bei ihrer Aufsicht auf den Schulhöfen das Erziehungsprinzip eines falsch interpretierten Laissez-faire. In den Familien schließlich hat vor allem die väterliche Autorität, die in früheren Zeiten ein festes moralisches Wertesystem festlegte, an Bedeutung eingebüßt.
Weitgehende Einigkeit herrscht bei den Experten darüber, dass Hemmschwellen gesunken sind und die Fähigkeit zu Empathie abgenommen hat - nicht zuletzt durch die starke Präsenz von Gewaltdarstellungen in den Medien. Es sind überwiegend männliche Jugendliche, die ihre Interessen körperlich durchzusetzen versuchen. "Gewalt ist für Pubertierende etwas Konstruktives. Sie zeigen: Ab heute bin ich Mann", analysiert Lutz Eckensberger vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung. Es falle Jungen schwer, eine passende Rolle "zwischen Macho und Weichei" zu finden, häufig fehlten ihnen attraktive männliche Vorbilder. Statt dessen, so Eckensberger, werde die Gewalt "identitätsstiftend" und definiere ihren Sozialstatus im Klassenverband.
Um das Aggressionsproblem an den Schulen zu bewältigen, fordern Erziehungswissenschaftler eine verbesserte Ausbildung der Lehrer. Der Umgang mit Gewalt im beruflichen Alltag ist bisher kaum Studieninhalt. Künftig soll sich möglichst jeder Pädagoge mit Streitschlichtung und Mediation auskennen, damit er bei Konflikten kompetent vermitteln kann. Schon jetzt konzentrieren sich speziell geschulte Sozialarbeiter auf schwierige Fälle. Die Polizei setzt zur Prävention so genannte Jugend-Kontaktbeamte ("Jucops") ein. Bisher tun diese vorrangig an weiterführenden Schulen in den "sozialen Brennpunkten" der Großstädte Dienst. Geht es nach dem Verband Bildung und Erziehung (VBE), werden sie künftig bereits an den Grundschulen als Ansprechpartner für die Sechs- bis Zehnjährigen bereit stehen.
Zusätzlich bringen private Anti-Gewalt-Trainer wie Simon Steimel und Holger Schlafhorst den Schülern bei, sich mit Worten statt mit Fäusten auseinander zu setzen. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) beklagt, dass manche Schulen das heikle Thema Gewalt ganz unter den Teppich zu kehren versuchen. Viele Vorfälle werden gar nicht erst bekannt, weil die Schulleitung einen Imageschaden fürchtet. Die relativ niedrige Zahl der offiziell gemeldeten Gewalttaten hält die GdP für "völlig unrealistisch". Doch die Möglichkeiten der staatlichen Ordnungsmacht sind ohnehin begrenzt. "Erziehung beginnt nicht erst im Klassenzimmer", betont Udo Beckmann, VBE-Sprecher in Nordrhein-Westfalen: Schule sei eben kein "Reparaturbetrieb" für gesellschaftliche Fehlentwicklungen oder unzureichende pädagogische Fähigkeiten der Eltern.