Vor einem Jahr sorgte sein Debüt "Geboren am 13. August", seine Abrechnung mit dem eigenen staatsnahen DDR-Leben, für beträchtliches Aufsehen. Immerhin steht der Vater - und PDS-Vorsitzende - Lothar Bisky für eine beachtliche Karriere als Partei-Intellektueller. Öffentlich kaum bekannt ist dagegen dessen gut benotete inoffizielle Arbeit für die MfS-Auslandsspionage (IM "Bienert", Reg.-Nr.: XV 2276/66). Während seiner Professur an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED abgeschaltet, wurde er als Rektor der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg neu aktiviert (IM "Klaus Heine", Reg.-Nr.: XV 437/87). Von 1992 bis 1994 leitete er den brandenburgischen Untersuchungsausschuss zu Manfred Stolpes Stasi-Verwicklungen.
"Vor den Vätern denken die Söhne", schrieb ein Kritiker zu Jens Biskys Abnabelung. Mit seinem zweiten, schnell nachgeschobenen Buch schlägt der studierte Kulturwissenschaftler und Redakteur der "Süddeutschen Zeitung" nun das vielschichtige und zugleich populär-populistische Medien- und Stammtischthema vom "Stand der Einheit" an.
Ganz im Trend und bisweilen in feuilletonistischem Event-Stil erklärt er, "warum die Einheit unser Land gefährdet". Ähnlich reißerisch wie der Buchtitel menetekeln Kapitelüberschriften über den "Abschied von leeren Landschaften" oder die "Vorboten der Angstgesellschaft". Als ostdeutsches Markenzeichen zeichnet er eine "stille Gesellschaft der Abschottung" in "Duldungsstarre". Ein Bild, das wenn überhaupt, wohl am ehesten auf eine Randgruppe verbitterter Altgenossen zutreffen dürfte.
Während mancher im Ausland respektvoll anerkennt, die innere Einheit Deutschlands sei weiter gediehen als etwa in Italien zwischen Mailand und Sizilien oder in Spanien zwischen Baskenland und Barcelona, kann Bisky des Beifalls Frustrierter in Ost wie West sicher sein, wenn er pauschal und flott erklärt: Der Osten drohe "zu verarmen..., zu vergreisen... zu verblöden". Was interessiert da das Mehrheitsbefinden, die vom Statistischen Bundesamt mit rund 7,5 (von 10 möglichen) Punkten ermittelte nahezu identische Lebenszufriedenheit in Ost und West - oder die seit Ende der 90er-Jahre erreichte Angleichung des Lebensstandards in den unteren und mittleren Einkommensgruppen?
Der heraufbeschworenen Dramatik der "Vergreisung" des Ostens durch demografische Entwicklung und Abwanderung der gut ausgebildeten Jugend widerspricht er selbst - wie er sich überhaupt mehrfach widerspricht -, wenn er 150 Seiten weiter 2,4 Millionen Abwanderern (1991 bis 2003) 1,6 Millionen Zuwanderer gegenüber stellt. Geburtenrückgang, das Ende der Überflussgesellschaft, höherer Investitionsbedarf in Bildung und Forschung sind wohl eher gesamtdeutsche Probleme, die sich allerdings in Ostdeutschland früher und schärfer konturieren.
Eine der längst unbestrittenen Ursachen dafür ist die - auch von Bisky reflektierte - verfehlte Wirtschaftspolitik, die mit der Währungsunion ohne Entlastung der Betriebe von verdeckten SED-Altschulden und mit der folgenschweren Treuhandpraxis der Privatisierung statt Sanierung zu einer so noch nie da gewesenen Deindustrialisierung führte. Angesichts der Überproduktion auf dem westdeutschen Markt bestand für die Produktivkraft Ost kaum Bedarf. Der Markt werde es schon richten - durch diese später selbst eingestandene Fehleinschätzung der Regierung Kohl bleibt ein selbsttragender Wirtschaftsstandort Ost wohl auf lange Sicht illusorisch.
Dennoch macht sich Bisky zum energischen Streiter wider den Solidarpakt II, zweieinhalb Mal soviel in den "sozialen Frieden" wie in den Aufbau Ost zu investieren. "Der Westen zahlt, der Osten leidet", steht so provozierend wie ungenau in dicken schwarzen Lettern.
Interessanterweise gleichen Zahlen und Argumente verblüffend denen des PDS-Euopaabgeordneten André Brie in seinem Beitrag "Deutsch-deutsche Fremdheiten" in dem ansonsten so informativen und analytisch kompetenten Band "Am Ziel vorbei" (Ch. Links, Berlin 2005)
Ideen sind gefragt. Jens Bisky versucht sich damit immerhin auf den letzten zwölf Seiten. Er sieht - kaum bestreibar - eine Einheit dauerhafter Differenzen, favorisiert steuerbegünstigte Zonen und verstärkte Bildungsinvestitionen gleichermaßen in schwächeren Regionen in Ost und West. Daneben verfällt er auf einige Abstrusitäten, plädiert für "Schrumpfungspolitik" nicht nur beim Wohnungsabriss in Satellitenstädten, sondern auch durch Auflösung kleiner Dörfer. Letzteres erinnert fatal an frühere administrative Zwangsumsiedlungen.
Oder er fordert: "Der Staat muss sich aus der Wirtschaftspolitik zurückziehen", so als hätten die wohlgesetzten Konjunkturspritzen unter Ludwig Erhard nicht erst diesen Sozialstaat ermöglicht, als hätte die politische Zurückhaltung bei der Privatisierung der DDR-Wirtschaft nicht wesentlich zur Problemlage Ost beigetragen. Das sind wohl eher Vorschläge für den Papierkorb.
Gleichwohl sind Zukunftsprojekte zwingend gefragt: Ausbau von Bildung und Forschung, um Lebensperspektiven für junge Menschen zu sichern; Investitionsprogramme, zugeschnitten auf die regionalen Besonderheiten und die demografische Entwicklung; Neudefinition von Arbeit, die gemeinwohlorientierte Tätigkeiten und soziales Engagement einschließt. Statt Schwarzmalerei und destruktiver Panikmache kann Ostdeutschland mit seinen einschneidenden Erfahrungen zu einem Modellfall und Vorreiter für die notwendige Kurskorrektur der gesamten Gesellschaft im postindustriellen Zeitalter werden. Die Einheit ist da, sie ist ein Ausdehnungsraum. Es liegt an uns, wie wir sie gestalten. Jens Biskys polemisch zugespitzte Betrachtungen regen zum Widerspruch und liefern Denkanstöße.
Jens Bisky
Die deutsche Frage. Warum die Einheit unser Land gefährdet.
Rowohlt Berlin, Berlin 2005; 224 S., 12,90 Euro