Gudrun Krämer, Professorin für Islamwissenschaft an der FU Berlin, beabsichtigt, die Beziehungsgeschichte des Islam in den Mittelpunkt zu setzen: "Das kann zugleich die Vielfalt und Wandelbarkeit islamischer Ideen und Lebenswelten beleuchten, die eben nicht geradlinig aus Koran und Sunna oder gar der beduinischen Kultur der Arabischen Halbinsel erwachsen sind."
Ganz in diesem Sinne setzt die Autorin mit einer Zustandsbeschreibung der Arabischen Halbinsel um das Jahr 600 ein, 30 Jahre nach der Geburt Mohammeds und ungefähr zehn Jahre vor seinem Offenbarungserlebnis. Mekka und Medina (damals noch Yathrib) lagen zwar am Rand der kulturellen Zentren der damaligen Zeit, aber sie waren doch nicht ganz abgeschnitten. Die Bevölkerung bestand aus Händlern, Bauern, Handwerkern und Nomaden. Das religiöse Spektrum auf der Arabischen Halbinsel war breit gefächert: verschiedene christliche Gruppierungen, Juden und heidnische Glaubensvorstellungen, aber auch Überlappungen von monotheistischen und heidnischen Vorstellungen. In Mekka wurden drei weibliche Gottheiten verehrt, die als "Allahs Töchter" betrachtet wurden. Ob Allah der Hochgott in diesem Götterpantheon war, ist nicht klar.
In dieser Umgebung tritt Mohammed mit der koranischen Offenbarung auf. Er wirbt für den einen Gott, spricht vom Jüngsten Gericht und vom Paradies. Die Frage, die die Autorin stellt, inwieweit der Islam Ergebnis autochthoner Enwicklungen ist oder vielmehr grundlegend auf äußere Einflüsse gründet, ist sicherlich schwer zu beantworten, da Gudrun Krämer auch darauf hinweist, dass sie für diese Phase nur auf muslimische Quellen zurückgreifen kann.
Trotzdem hätte man sich in Bezug auf den Inhalt des Korans eine tiefere Analyse gewünscht. Gleiches gilt für die Herausbildung des Ritus. Man liest zwar, dass der Islam in den ersten Jahrzehnten in Lehre und Praxis noch nicht ausgearbeitet oder dass alles im Entstehen begriffen war. Aber leider werden diese Bemerkungen nicht weiter ausgeführt. Ähnliches gilt für die Hadithe (die Aussprüche und Taten Mohammeds), deren Zahl im achten und neunten Jahrhundert stark zunimmt. Man erfährt zwar, dass die Hadithe oft zur Legitimation verschiedenster Auffassungen benutzt wurden und es sich bei vielen um Fälschungen handelte, aber auch hier wäre mehr "Beziehungsgeschichte" von Vorteil gewesen.
Geradezu spannend liest sich die Geschichte der ersten Jahrzehnte nach dem Tod Mohammeds (632), in der sich die junge islamische Gemeinde erbitterte Auseinandersetzungen um die Nachfolge des Propheten lieferte. Besonders deutlich wird in dieser Epoche das Gewicht sozialer Motive, wie etwa die Stammeszugehörigkeit und wirtschaftliche Faktoren wie die Aufteilung der reichen Beute der erfolgreichen Eroberungszüge gegen die Sassaniden und Byzantiner. Diese Auseinandersetzungen stellen den Ausgangspunkt für die Entstehung der Schiiten, Charidschiten und Sunniten dar. Die internen Streitigkeiten vermochten die islamische Expansion nicht zu bremsen. Zur Zeit des Kalifen Hischam ibn Abd al-Malik (724 - 743) war das Umayyaden-Reich das größte Reich, das die Welt bis dahin erlebt hatte. Ein idealer Nährboden für Vermischungen, Überlagerungen und verschiedene Formen der Koexistenz, aus der, so Krämer, eine neue, erkennbare arabisch-islamische Kultur entstand. Der Prozess der Vermischung und des Austausches setzte sich auch unter der Nachfolge-Dynastie der Abbasiden (750 - 1258) fort, in der die Blütezeit der islamischen Kultur liegt.
Die vielschichtige islamische Geschichte und eigenständige Entwicklung im Islam zeigen sich auch in den folgenden Jahrhunderten: die Autorin nennt die Nachfahren der Mongolen, die Safawiden im Iran, die Osmanen oder die Mogul-Herrscher in Indien. Das soziale Gefüge, die wirtschaftliche Lage oder die Position der Nichtmuslime haben dabei stets einen Platz neben der politischen Entwicklung der Dynastien.
Das Schwergewicht des Buches liegt auf der Zeit bis zum Ende des 18. Jahrhundert. Die europäische Expansion in das Gebiet des Islams, verschiedene Reforminitiativen, die Entstehung der Nationalstaaten bis hin zu den islamistischen Strömungen der Gegenwart werden nur in groben Zügen beschrieben. Zum Schluss zeigt Krämer die zunehmend konservative Tendenz, die viele islamische Staaten seit den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts erfasst hat, und die Dis kussion, die von islamistischen Themen dominiert wird, etwa die Einheit von Staat und Religion - eine islamistische Utopie, die geschichtlich nie existierte. Der Islam ist im Laufe seiner Geschichte viel zu facettenreich und anpassungsfähig gewesen, um sich auf die Wunschvorstellungen islamistischer Eiferer reduzieren zu lassen. Das wird in diesem Buch deutlich.
Gudrun Krämer
Geschichte des Islam.
Verlag C.H.Beck, München 2005; 334 S., 24,90 Euro