Wer die Slowakei bereist, lernt ihre "Schwarzen" schnell kennen. Schon in der westlich anmutenden Metropole Bratislava sind sie nicht zu übersehen. Im ehemaligen Bergwerkszentrum Banskà ¦tiavnicà kann ein neugieriger Fremder in ein ausgelassenes Zigeunerfest auf dem Hof der Sonderschule hineingezogen werden - nicht schmachtende Violinen, sondern E-Gitarre, Schlagzeug und Bass geben den Ton an. Anderntags freilich findet er im tief eingeschnittenen Tal, abgesetzt vom architektonischen Juwel der Altstadt - Weltkulturerbe -, abgewrackte Plattenbauten. Weiter östlich häufen sich die zahlreichen, voll segregierten Apartheid-Dörfer abseits jeder Asphaltstraße, in die man nur wissentlich gelangt, jene Orte bei Poprad, Trebi¨ov, Jarovnice, Michalovce, Ko¨ice.
In seinem Buch "Die Hundeesser von Svinia" schildert der österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß seine Ankunft in der Zigeunersiedlung. Er geht allein durch den Regen zu Fuß dorthin: "Als ich vielleicht zehn Meter von der Biegung entfernt war und schon ein wenig in die Siedlung hineinblicken konnte, stieg mir unvermittelt ein Geruch in die Nase, so intensiv und ungewohnt, dass sich der Organismus sogleich wehrte, ihn aufzunehmen, und krampfhaft versuchte, das, was ich von ihm bereits eingeatmet hatte, wieder auszustoßen. Mit dem würgenden Geräusch eines unterdrückten Brechanfalls stolperte ich, den Oberkörper vornüber gebeugt, in die Siedlung, wo mich Dutzende Erwachsene, Jugendliche und Kinder aus erstaunten Augen ansahen und über meinen röchelnd hinuntergeschluckten Ekel in ein gutmütiges Lachen ausbrachen. Ich war mir sicher, sie wussten genau, dass mir der Gestank ihrer Siedlung den Atem geraubt hatte, der süße Geruch von Verwesung, der sich mit dem von Fäkalien, Benzin, vermodertem Holz, verbranntem Plastik verbunden hatte, diese Schwaden von Fäulnis, die aus jeder Ecke aufzusteigen schienen und betäubend durch den Ort zogen."
Sein genauer Blick dokumentiert nicht einfach ein Dorf von unvorstellbarem Aussehen. Aus der Ankunftsszene, die nicht bloß von Gestank imprägniert, sondern vor allem von Menschen geprägt wird, entsteht sehr schnell etwas: Ein fremder Mensch begegnet fremden Menschen, wahrscheinlich den fremdesten Europäern - Neugier und Freundlichkeit auf beiden Seiten, gewissermaßen auf gleicher Augenhöhe.
Es existiert ein Roma-Problem. Die Zigeuner haben ein Problem mit uns, den "Weißen". Und wir haben die Zigeuner, wieder einmal, als Problem entdeckt. Eigentlich nichts Neues. Im Westen, in den alten Mitgliedsländern der EU, lebten bisher schon, mehr oder weniger schlecht toleriert, 2,5 Millionen Calé, Manouches, Sinti, Jenische, Lowara und andere. Ein traditionsreiches Feindschaftsverhältnis, nur wissen wir davon sehr wenig. Und erst recht erfahren wir nichts über die "anderen", über das "fahrende Volk" (Schule: Fehlanzeige). Von ihnen haben wir bestenfalls ein paar romantisierende Klischees im Kopf, Zigeunerfreiheit, Zigeunerschönheit (ja, Carmen!), Zigeunermusik; und jede Menge tradierter Vorurteile.
Als Problem entdeckten wir sie wieder durch die Wende von 1989. Die Mehrzahl der Roma lebt in den ostmittel- und südosteuropäischen Ländern. Durch die Beitritte 2004 wurden rund 1,5 Millionen Roma EU-Bürger, und weitere 3,5 Millionen warten in Rumänien und Bulgarien. Auch in der Türkei leben etwa 700.000 von ihnen, schließlich gibt es noch in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens und in Albanien rund 1,3 Millionen Roma.
Als Problem entdeckten wir sie, als einige Tausend in den Westen aufbrachen, nach Belgien, England, Finnland, Schweden. Sofort abschieben - war die Reaktion. Bei den EU-Verhandlungen hakte es bei den Minderheitenrechten. Mit political correctness schob die EU-Kommission eine zusätzliche Antidiskriminierungsrichtlinie zum Amsterdamer Vertrag nach, die Bestandteil des zu erfüllenden "acquis communautaire" wurde. Ist damit das Problem gelöst?
Mit Schrecken registrierten wir 1999 den Mauerbau in der Maticnistraße von Ústí nad Labem (Aussig an der Elbe) in Tschechien, durch den sich "Weiße" vor einer Roma-Siedlung schützen wollten; der internationale Protest war stark genug, die Mauer fiel wieder. Spätestens im März 2004 kamen mit den Hungerplünderungen in der Ostslowakei die Roma-Slums auf die westlichen Bildschirme. Die Reduktion staatlicher Sozialleistungen durch die Reformen der Regierung Dzurinda hatte in dieser Region mit 80 bis100 Prozent Arbeitslosigkeit bei den Roma-Männern Verzweiflungsaktionen ausgelöst. Hohes Lob erntete die Slowakei bei der EU für ihr Investitionen förderndes Reformprogramm. Die Roma aber stehen in diesem neuen Europa mit dem Rücken zur Wand.
Auf einem Symposium an der Berliner Humboldt-Universität im Oktober 2004 erklärte der Historiker Wolfgang Wippermann, "nach Emnid hassen 68 Prozent der Deutschen Zigeuner". Bei einer früheren Umfrage stimmten in Tschechien 66 Prozent der Befragten zu, Roma sollten getrennt von der weißen Bevölkerung leben, und 52 Prozent wollten strengere Gesetze für sie. In Bulgarien ist es für 97 Prozent der Befragten unvorstellbar, eine Romni oder einen Rom zu heiraten; 61 Prozent halten Roma für "faul und verantwortungslos".
Antiziganismus ist mit hoher Selbstverständlichkeit eine weit verbreitete Haltung in europäischen Gesellschaften. Diskriminierende Äußerungen gehen Politikern leicht über die Lippen, die eine wenig informierte Öffentlichkeit kritiklos akzeptiert. Beispielsweise "warnte" im Februar 2004 der slowakische Wirtschaftsminister Pavol Hrusko die Roma vor gewalttätigen Reaktionen der Mehrheitsbevölkerung; er hielt ihnen das Beispiel Tschechiens vor, das nicht der einzige Staat sei, in dem Extremisten mit Baseballschlägern zur Tat schreiten (Radio Free Europe, 25. Februar 2004). Verbrechen an Roma werden schleppend verfolgt oder man versucht gar, sie zu vertuschen, wie Gauß in seinem Buch aufzeigt.
Die EU, Mutter aller Integration, bemüht sich auch hier zu beschwichtigen, zu vermitteln: Über mehrere Programme fließen Jahr für Jahr Millionen Euro in Infrastruktur-, Schul-, Ausbildungs- und diverse Programme mit dem Ziel, die Roma in die EU zu "integrieren".
Aber sind angesichts genannter Unversöhnlichkeiten solche Bemühungen nicht reine Kosmetik? Die Weltbank hat eben die "Dekade der Roma" ausgerufen. Die "Frankfurter Allgemeine" hat diese Zielsetzung - "gesellschaftliche Eingliederung der Roma bis zum Jahre 2015" - eine nicht zu übertreffende "Blauäugigkeit" genannt (3. Februar 2005). Ihr Kommentator zieht eine grobe Bilanz bisheriger Integrationserfahrungen: Durchaus bewundernswerte Künstler und Wissenschaftler habe diese ethnische Minderheit vorzuweisen; "ein bedeutender Teil aber blieb bisher stets das, was man eine Parallelgesellschaft zu nennen pflegt".
Für ihr Misstrauen gegenüber den "Weißen" haben die europäischen Roma viele Gründe, insbesondere eine erschütternde vielhundertjährige Geschichte unerbittlicher Verfolgung. Ihre Sozialstruktur, ihre ethischen Auffassungen und ihre Kultur waren die Voraussetzungen für ihr Überleben.
Auf einem Zeitraum zwischen 400 und 1000 nach Christus lässt sich aufgrund der Sprachentwicklung die Wanderung der Roma aus Indien, so der Sprachwissenschaftler Dieter Halwachs von der Universität Graz, datieren. Zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert erreichen sie über Anatolien Griechenland, bringen neue Technologien der Eisenschmiedekunst mit und berichten vom Grab Gottes. Verschiedene Gruppen durchkreuzen bald alle Teile Europas. Einer alten Legende ungarischer Roma zufolge seien sie zum ewigen Wandern verurteilt, weil sie einen Nagel aus dem Kreuz Christi gestohlen haben.
Geht man vom ersten schriftlichen Zeugnis aus, den Schriften des Heiligen Georg Antonsik vom Kloster Iviron auf Athos aus dem Jahr 1068, der die Neuankömmlinge als "Adsinkani" (nach Rajko Djuric) bezeichnet, so kann man von einer fast 1000-jährigen europäischen Geschichte der Roma sprechen. Doch existierte ihrerseits bis vor kurzem keine aufgeschriebene Geschichte. Zwar verfügen sie über eine reichhaltige Liedkultur, in der sich so etwas wie ein "kollektives Gedächtnis" ausdrückt. In den Liedern werden die Geschichten des Volkes von Generation zu Generation weitererzählt. Aber das war oft gar nicht möglich. Es gab einfach nicht "ein Volk", da es sich bei den Roma um eine Vielzahl von ethnischen Gruppen handelt: Lowara, Kaldara, Calé, Sinti, Manouche, Ardija, Gurbeta, Gomana, Gopti, Tamara, Mansusa, Lalleri, Jenische, um einige zu nennen.
Seit dem 15. Jahrhundert unterliegen die Roma in Europa permanenter Verfolgung und Versklavung. Sie waren bis hinauf ins 19. Jahrhundert zu brandmarkende Personen, Vogelfreie, die jedermann jagen und erlegen konnte, die schon mal bei herrschaftlichen Jagden mit der Beute mitgezählt wurden, denen per Erlass die Augen ausgestochen, die geteert und gefedert wurden, die auf königliche Anordnung lebenslänglich auf die Galeeren verbracht, die in Rumänien bis 1856 in Sklaverei gehalten wurden, die in die Kolonien verkauft wurden.
Roma waren noch rechtloser als Hexen und Häretiker zu Zeiten der Inquisition. Sie waren das "Muster" für die deutsche Polizeireform, an ihnen wurde Fingerabdruck-kartei und Personenstandsregister ausprobiert. Deutscher Hass steigerte sich in den Naziterror und schickte eine halbe Million von ihnen ins Gas. Und laut Rudko Kawczynski, Vorsitzender des Roma National Congress, gibt es seit 1990 eine weitere bittere Bilanz von rund 3.000 ermordeten Roma, die Balkan-Kriege nicht eingeschlossen. Sie sind das schwarze Loch der europäischen Zivilgesellschaft. Es gibt nahezu keine wissenschaftlichen Untersuchungen, sie sind fast unerforschte europäische Ethnien.
Denn bevor "wir" - Westeuropäer, oder auch osteuropäische Politiker oder wer immer außerhalb der Roma - uns über Integration oder Assimilation der Minderheiten äußern, sollten wir uns überhaupt erst ein einmal ein Bild von den Betroffenen machen, sie um ihre Meinung fragen, uns Gedanken machen über den Graben zwischen ihnen und uns.
Peter Huncik, Direktor der auf interethnische Fragen spezialisierten Marai-Stiftung in Dunajska Stredna, betont, dass Integration in die Gesellschaft als Ziel zu hoch gesteckt sei: Wir können nicht einfach wild drauflos globalisieren. Zuallererst müssen die einfachsten Grundlagen für die Zusammenarbeit der beiden Seiten geschaffen werden, um das da wie dort tief sitzende Miss-trauen zu mildern. Es muss überhaupt erst ein Bewusstsein voneinander geschaffen werden. Dabei wird von beiden Seiten, nicht nur von den Roma, ein Anpassungsprozess erwartet werden müssen. Eine Zwangsintegration ist undenkbar, würde den Grundlagen einer liberalen Gesellschaft diametral entgegenstehen. Denn das hätte es bereits unter dem Sozialismus gegeben, der den Roma zwar gewisse soziale Sicherheiten geboten, zugleich aber auch beinahe die Beseitigung ihrer Besonderheiten bedeutet hatte. Gerade um die Wahrung ihrer Besonderheit ist es den friedfertigen Roma aber während ihrer langen und schwierigen europäischen Geschichte immer gegangen.
Empfohlene Literatur:
Karl-Markus Gauß
Die Hundeesser von Svinia.
Zsolnay Verlag, Wien 2004; 120 S., 14,90 Euro
Arne B. Mann
Rómsky dejepis.
Kalligram Verlag, Bratislava 2000; 56 S., 3,- Euro
Iren Stehli
Libuna - A Gypsy's Life in Prague. A 27 years photographic study on the fascinating life of a strong woman. Texts by Anna Fárová, Milena Hübschmanová, Martin Heller.
Scalo Verlag, Zürich 2005; 288 S., 167 Duoton-Abb., 58,- US-Dollar
Jovan Nicolic
Zimmer mit Rad. Gedichte und Prosa.
Aus dem Serbokroatischen von Bärbel Schulte.
Romani Bibliothek, Drava Verlag, Klagenfurt/Celovec 2004; 128 S., 19,50 Euro
Mariella Mehr:
Das Sternbild des Wolfes. Gedichte.
Romani Bibliothek. Drava Verlag, Klagenfurt/Celovec 2003; 96 S., 14,- Euro