Nach der Entscheidung ist vor dem Showdown, nach der Einigung ist vor dem Konflikt: Fast im Akkord bekamen derzeit die TV-Kameras einschneidende, ja dramatische Momente von den Schauplätzen der Berliner Bühne in die Winkel der Republik - politische Ereignisse, von denen jedes einzelne unter "normalen" Umständen Medien und Bürger tagelang umtreiben würde. Angela Merkel wird zur Regierungschefin ausgerufen, Kanzler Gerhard Schröder verkündet seinen Abschied, Franz Müntefering steigt zum starken Mann seiner Partei im Kabinett auf, die SPD bestimmt ihr Minister-Team, Edmund Stoiber wechselt an die Spree, das Wirtschafts- und Arbeitsressort wird zweigeteilt, um die Zuständigkeit für den Aufbau Ost wird gestritten und was auch immer: Die Top-Meldung mutet schon am Tag danach wie Schnee von gestern an, so schnell überschlagen sich die Geschehnisse.
Und jetzt geht es ohnehin erst richtig ans Eingemachte: Nach der für den 17. Oktober von Merkel angekündigten Benennung der Ministerriege von CDU und CSU - bislang ist nur Stoiber für das Wirtschaftsressort "gesetzt" - wollen Union und SPD in mehrwöchigen Koalitionsverhandlungen die politischen Leitlinien für die nächsten Jahre festlegen. Viele dicke Brocken von der Etatsanierung bis zur Gesundheitsreform bergen dabei jede Menge Zündstoff in sich. Für aufregende News ist also weiterhin gesorgt.
Die Öffentlichkeit erlebt eine bemerkenswerte Premiere. Bisher wurden bei einer Koalitionsbildung zunächst Sachfragen geklärt, bevor sich die Parteien Ministerposten zuwandten. Dieses Mal ist es umgekehrt. Das hat natürlich damit zu tun, dass zuerst der Machtkampf zwischen SPD und Union ums Kanzleramt ausgefochten werden musste. Dieses Problem konnte nur im Rahmen eines Gesamttableaus gelöst werden. Angela Merkel, die diesen Triumph nach außen sehr zurückhaltend auskostete, soll nun also Regierungschefin werden - mitgewählt auch von einer Mehrheit bei der SPD, und dies trotz der frischen Erinnerung an die Konfrontation zwischen Schröder und der CDU-Vorsitzenden im Wahlkampf. Es wirkt schon sehr erstaunlich, wie zügig die politische Szene über den Rückzug des Amtsinhabers hinweggeht: Nach Schröders Rede vor der Chemiegewerkschaft Fernsehbilder für einen Abend, tags darauf Berichte in den Zeitungen - das war's, jetzt heißt es wieder business as usual.
Union und SPD werden im Kabinett annähernd gleich stark vertreten sein: Sieben Minister von CDU und CSU plus die Kanzlerin sitzen acht Sozialdemokraten gegenüber. Noch diskutieren Parteien und Auguren, welche Seite die zukunftsträchtigen, die wichtigen, die PR-trächtigen Ressorts ergattert hat. Das muss sich jedoch in der Praxis erweisen, und das hängt auch vom persönlichen Profil der Minister ab. Zunächst einmal sicherte sich die SPD durch die schnelle Auswahl ihrer Leute die Schlagzeilen, die Union zieht diese Woche nach. Franz Müntefering wird Arbeits- und Sozialminister sowie Vizekanzler, der bisherige Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier übernimmt das Außenamt, Leipzigs OB Wolfgang Tiefensee beerbt Manfred Stolpe bei Verkehr und Bau, Peer Steinbrück zeichnet verantwortlich für Finanzen, Sigmar Gabriel leitet das Umweltressort, Brigitte Zypries (Justiz), Ulla Schmidt (Gesundheit) und Heidemarie Wieczorek-Zeul (Entwicklungshilfe) bleiben im Amt.
Der Koalitionspartner in spe zeigt sich durchaus angetan. CSU-Landesgruppenchef Michael Glos spricht von einem "beachtlichen Wurf", CDU-Generalsekretär Volker Kauder von einer "respektablen Mannschaft". Ob indes die Riege aus SPD-Sicht einen Aufbruch zu neuen Ufern markiert, ist eine andere Frage. Immerhin stehen die bisherigen vier Regierungsmitglieder sowie Müntefering für jene Politik, die am 18. September in eine Niederlage mündete. Und Steinbrück wie Gabriel wurden als Ministerpräsidenten abgewählt.
Das Prinzip der gleichen Augenhöhe liefert den Stoff für den Streit um Merkels Richtlinienkompetenz, der dieses Bündnis vielleicht auf Dauer begleiten wird. Die Richtlinienkompetenz des Regierungschefs wird im Grundgesetz aufgeführt. Aber was heißt das in der Praxis? Müntefering warnt Merkel schon mal: In einer solchen Koalition sei diese Leitlinie "nicht lebenswirklich", deren Anwendung durch die Kanzlerin werde das Bündnis gefährden. Zum Ärger der CDU bläst auch der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber in dieses Horn: Bei fast gleich starken Partnern gebe es kein "klassisches Direktions- und Weisungsrecht". Das wichtigste Gremium dürfte der Koalitionsausschuss sein, der nur im Konsens entscheiden kann. Zudem vereinbarten Union und SPD, dass im Kabinett bei grundsätzlichen Fragen keine Seite überstimmt wird. Ob Merkel als Moderatorin in die Fußstapfen Kurt-Georg Kiesingers tritt? In der Großen Koalition zwischen 1966 und 1969 hatte sich der CDU-Kanzler den Ruf eines "wandelnden Vermittlungsausschusses" eingehandelt.
Was im Trubel um Pressekonferenzen, um Medieninterviews, um Sitzungen der Parteispitzen und um Kulissengeraune leicht untergeht: Eine beschlossene Sache ist die Elephantenhochzeit keineswegs, die Koalitionsverhandlungen starten ja erst am heutigen Montag. Nur in Zwischentönen deuten Beteiligte wie etwa Steinmeier hie und da an, dass man sich erst noch einigen muss. Allerdings grenzte es an ein Wunder, sollten Merkel und Müntefering nicht ihre Unterschrift unter einen Koalitionsvertrag setzen: Zu viele Pflöcke wurden schließlich schon eingerammt, von der Verständigung auf Merkel als Kanzlerin über die Aufteilung der Ressorts bis zur Nominierung von Norbert Lammert (CDU) als Bundestagspräsident.
Die politischen Streitpunkte haben es durchaus in sich. Zwar kam man bereits im Sinne der SPD im Prinzip überein, es bei der Steuerfreiheit für Zuschläge auf Schicht- und Sonntagsarbeit zu belassen und die Tarifautonomie nicht auszuhöhlen. Alles andere muss aber noch aus dem Weg geräumt werden. Der dickste Brocken ist zweifelsohne die Sanierung des defizitären Etats. Beim Gesundheitswesen stehen sich Bürgerversicherung und Kopfpauschale eigentlich unvereinbar gegenüber: Wird es ein neues Modell geben mit einer weiteren finanziellen Entlastung der Arbeitgeber und einer zusätzlichen Kostenüberwälzung auf Arbeitnehmer wie Patienten? Die Neuordnung des föderalistischen Systems kann kaum vertagt werden. Die Kalamitäten der Pflegeversicherung harren einer Lösung. Wie halten es Union und SPD mit einer Mehrwertsteuererhöhung, die vor dem 18. September so hart umkämpft war? Kommt eine Reform der Unternehmensbesteuerung? Hartz IV soll überarbeitet werden. Und, und, und ...
Die inhaltlichen Konflikte dürften die Oppositionsfraktionen stärker ins Spiel bringen, die bislang im Schatten des Koalitionspokers stehen. Immerhin weiß man schon etwas über die Rangordnung von FDP, Linkspartei und Grünen im Plenarsaal des Reichstags: Die Liberalen haben zwei Stühle in der ersten Reihe, die beiden anderen Parteien nur jeweils einen. Bei der FDP können sich Fraktionschef Wolfgang Gerhardt und Nachfolger Guido Westerwelle gemeinsam als Promis sonnen. Oskar Lafontaine und Gregor Gysi bei der Linkspartei sowie Renate Künast und Fritz Kuhn bei den Grünen müssen sich hingegen im Sitzplatz-Sharing üben.