Dem deutschen Verlangen nach Parteienproporz wäre diese Serie ein Gräuel: Sie spielt im Weißen Haus, ihr strahlender Held ist Präsident der Demokratischen Partei, der seine "liberalen" - auf Deutsch müsste man sagen "linken" - Gesetzesprojekte oft gegen sture Republikaner durchsetzen muss. Alles ist wie im richtigen Leben: Ideale werden im Kampf um den Machterhalt geopfert, der aber nötig ist, damit wenigstens ihr kleinerer Teil noch realisiert werden kann. In Wahrheit ist wohl kein Präsident, auch keiner der demokratischen Partei, so sympathisch wie die Figur, die Martin Sheen hier spielt. Aber wenigstens heißen die Dinge sämtlich wie in der Wirklichkeit und werden nicht, wie im deutschen Nachahmer-Projekt "Kanzleramt", befremdlich camoufliert, um dem Vorwurf zu entgehen, man mache Werbung für eine Partei.
Die ernsthafte fiktionale Darstellung politischer Verhältnisse ist in Deutschland so schwer vorstellbar, dass die ersten Presseberichte über die 1999 in den USA angelaufene Serie wie selbstverständlich davon ausgingen, es handle sich um eine Satire-Sendung. Interessanterweise ist nämlich die Parodie neben Nachrichten und Talkshows oft der einzige Modus, in dem Politik im Fernsehen abgehandelt wird. Im Übrigen stellt "West Wing" - der Titel leitet sich vom Arbeitsort des Präsidenten-Stabs, dem Westflügel des Weißen Hauses, ab - auch im Kontext amerikanischer Fernsehproduktion ein außergewöhnliches Projekt dar. Zwar hat der Mut, Fiktionales den exakten politischen Verhältnissen anzupassen, dort mehr Tradition. Das hängt mit dem Selbstverständnis der kommerziellen Sender zusammen: Wo die öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland ihre Unabhängigkeit in erwähnter Ausgewogenheit bewahren wollen, pflegen die Amerikaner einen verstärkten Autonomiebegriff. Sie würden es sich nicht nehmen lassen, die Parteien beim Namen zu nennen.
Was "West Wing" jedoch so herausragend machte, dass sie gleich im ersten Jahr den Emmy für die beste Serie erhielt (und drei weitere in Folge) waren andere Dinge. Auf den ersten Blick scheint sie für das sehr kleine Publikumssegment der Bildungselite geschrieben. Die "Staffer", die engsten Mitarbeiter des Präsidenten, die hier bei der Arbeit gezeigt werden, sind sämtlich das, was man abfällig "Besserwisser" nennt. In Schnellfeuerdialogen unterhalten sie sich über trockene Themen wie Bildungspolitik und überbieten sich dabei mit Detail- und Fremdwortwissen. Die Handlung zieht ihre, teilweise durchaus emotionale, Dramatik aus dem öden Stoff der Politikverwaltung: Statistiken werden erörtert, Informationen zusammengetragen und andere Entscheidungsträger umworben.
Doch damit nicht genug: Die komplizierten Sachverhalte werden in der Serie nicht so aufbereitet, wie man das vom "Bildungsfernsehen" erwarten würde. Ganz im Gegenteil, der dramaturgische Kniff des Autoren und Erfinders Aaron Sorkin besteht darin, den "high brow"-Aspekt sogar noch zu verstärken: Zu Beginn jeder Folge sieht sich der Zuschauer in eine Handlung hineingeworfen, von der er kaum etwas versteht. Das "West Wing"-Personal läuft durch die Flure des Weißen Hauses und wirft sich smarte, spitze Bemerkungen zu. Erst nach und nach schält sich der Handlungsschwerpunkt heraus - etwa dass der vorgesehene Kandidat für den freien Platz im Obersten Gericht doch nicht der geeignete sein könnte, weil er abstruse Ansichten zum Schutz der Privatsphäre hegt.
Der "West Wing"-Zuschauer wird also gefordert statt bedient. Es ist, als gehöre bereits zum Serienkonzept, dass die Interessierten unmittelbar nach der Sendung ins Internet gehen, um sich in Foren auszutauschen und weitere Fakten nachforschen. Anders gesagt, die Serienmacher setzten auf das raffinierte Konzept einer Kult-Bildung: Der Zuschauer von "West Wing" fühlt sich keiner breiten Masse, sondern einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten zugehörig. Solche Kulte aber sind ungeheuer werbewirksam. Tatsächlich erreichte die Serie in den ersten drei Jahren eine Traumquote von bis zu 18 Millionen Zuschauern in den USA. Um diesen Erfolg zu halten, passte man sich dann ironischerweise immer mehr dem Herkömmlichen an. Die Handlungsanteile von Liebe und Action wurden gesteigert. Die Quote sank trotzdem - oder auch gerade deshalb. Mittlerweile hat sie sich auf einem niedrigeren Niveau stabilisiert, das der Serie bis heute ein Überleben sichert. Ungeklärt ist bislang noch, wer der Nachfolger von Martin Sheen wird, der ja nach sieben Serienjahren ans Ende seiner Amtszeit kommt. Vielleicht zieht ja nun ein Republikaner in die Kulissen des West Wing.
"West Wing" kann süchtig machen mit seinen schnellen Dialogen, die von trockenem Witz sind, absolut cool, lässig und blasiert. Und natürlich sind die Helden "gut" in einem altmodischen humanen Sinn. Die Serie idealisiert nicht nur den Präsidenten, der hier schon mal selbstironisch von sich als dem "Führer der freien Welt" spricht. Sie idealisiert ein bestimmtes Arbeitsethos und eine Intellektualität, die das Fernsehen sonst so scheut, weil es denkt, die Mehrheit fühle sich davon abgestoßen. Der Mut zum Komplexen aber sorgt dafür, dass die Serie nicht populistisch wird. Und ist damit ein Grund, weshalb "West Wing" ein ideales Rezept gegen Politikverdrossenheit darstellt.
Denn die Genauigkeit, mit der die Serie die Konflikte und Vorgänge der Realität nachbildet, verschafft Einblicke in die spezifischen Schwachstellen der amerikanischen Politik. Nicht nur, dass Martin Sheen hier Kompromisse eingehen muss, nein, die Serie führt vor, dass selbst ein "linker" Präsident nicht am Waffengesetz rührt. Oder, noch krasser, dass ein überzeugter Gegner der Todesstrafe gegebenenfalls keine Begnadigung ausspricht. In der entsprechenden Folge werden die Argumente durchdekliniert: Der Präsidenten-Berater jüdischer Herkunft bespricht mit seinem Rabbi, was es mit "Auge um Auge" auf sich hat; die Pressesprecherin macht die Erfahrung, dass aus einem Namen ein menschliches Schicksal wird, je mehr man über eine Person erfährt, der Präsident selbst bestellt zuletzt seinen Priester ein - als Hommage an Kennedy ist er Katholik. Erzählt wird darüber hinaus von den skurril anmutenden Regelungen des Wann und Wie der Hinrichtung. Alles spricht gegen die Todesstrafe. Dann aber lässt der Präsident die Minuten einfach verstreichen, ohne einzuschreiten. Das Konzept der Mehrheitsdemokratie in seiner ganzen bitteren Zwiespältigkeit wird hier vorgeführt: Man braucht nicht nur die Stimmen der Mehrheit, um gewählt zu werden, man muss sie dann auch repräsentieren.
Das deutsche Regierungssystem mit seinen Parteien und Ortsgruppen und dem Ineinander von Bund und Ländern gäbe eigentlich einen herrlichen Stoff ab für eine Politik-Serie. Man müsste eben nur den Mut haben, die Dinge beim Namen zu nennen.