Momentaufnahmen aus einer außerirdisch anmutenden Welt flimmern über die Bildschirme: Pompiers zielen mit Schläuchen in den nächtlichen Feuerschein, martialisch auftretende Gendarmen verschießen Tränengasgranaten, Autobesitzer und Ladeninhaber stehen verzweifelt vor ihrem vernichteten Eigentum, steinewerfende Jugendliche huschen gespenstisch durch die Dunkelheit. Ein Flächenbrand. Herrscht Bürgerkrieg zwischen Lyon und Paris?
Nun, nach gut zwei Wochen der Exzesse scheinen die Unruhen allmählich abzuflauen. Doch es ist keine Befriedung, die einkehrt, es breitet sich eine erzwungene Stille aus: Nur mit Hilfe des aus der Zeit des Algerienkriegs (!) der 50er-Jahre stammenden Notstandsrechts mit Ausgangssperren und rechtsstaatlich eigentlich unzulässigen Sonderbefugnissen der Polizei vermögen Präsident Jacques Chirac, Premier Dominique de Villepin und Hardliner-Innenminister Nicolas Sarkozy einigermaßen "Ruhe" und "Ordnung" herzustellen. Gelöst sind die Probleme der Cités, der deklassierten Sozialbau-Ghettos am Rand der Großstädte, damit freilich nicht.
Eine aufgeheizte Atmosphäre, Schockstarre, Hysterie, politisches Kalkül: Diese brisante Melange des Augenblicks lässt einen nüchternen Blick auf die Ursachen der Explosion nur schwerlich zu. Kommentatoren in Medien und Politiker sprechen bereits aufgeregt von der "Intifada", vom "Kampf der Kulturen", von "Bagdad" im Herzen Europas - wovon wahrlich keine Rede sein kann, auch wenn einzelne Ghettojugendliche im situativen ekstatischen Größenwahn vor TV-Kameras solches triumphierend zum Besten geben. Ausgerufen werden das Scheitern und die Ummöglichkeit der Integration von Ausländern, um die es sich in diesem Fall indes gar nicht handelt. Plötzlich sollen die republikanische Idee und das Konzept der französischen Staatsbürgerschaft vor dem Aus stehen, die nicht auf Abstammung, sondern auf dem Geburtsort und der Anerkennung der Werte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit fußen. Sarkozy, als Null-Toleranz-Repressionspolitiker ganz nah am Stammtisch und in Umfragen vorn, sieht einfach Kriminelle und Gangster am Werk, die er mit dem Kärcher aus der Welt schaffen will.
Die Straßenschlachten und Flammenorgien dieser Tage konfrontieren das Land endgültig mit einem seit Jahrzehnten verdrängten und im Laufe der Zeit immer schlimmer gewordenen Grundübel, das Soziologen als "schlechtes Gewissen" Frankreichs bezeichnen, nämlich der sozialen Deklassierung und Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen und deren Verbannung in abgeschottete Siedlungen. Solche fast exterritorialen Zonen, solche Ghettos sind in der Bundesrepublik bislang noch unbekannt, so genannte "soziale Brennpunkte" in Hamburg, Frankfurt oder Berlin sind damit in keiner Weise zu vergleichen. Die Arbeitslosen, Erwachsene und in besonderem Maße junge Leute, tragen arabische und afrikanische Namen, haben aber französische Pässe. Gleichwohl werden sie weithin als Ausländer, als Fremde, als Andere wahrgenommen und abqualifiziert, republikanische Ideale hin oder her - und im Gegenzug grenzen sie sich zusehends von den "Franzosen" ab. Auch wenn in den Cités inzwischen sehr viele Moslems leben: Gerade bei Heranwachsenden spielt das religiöse Element nur eine untergeordnete Rolle, bisher jedenfalls.
Ob Clichy-sous-Bois bei Paris, ob Neuhof in Straßburg, ob Les Coteaux im südelsässischen Mülhausen: Überall in Frankreich zogen die Städte in den 60er- und 70er-Jahren Sozialquartiere mit uniformen Hochhäusern hoch. Dort wurden vorwiegend Zuwanderer aus dem Maghreb und aus Schwarzafrika untergebracht, wobei deren starker Zustrom auch eine Folge der kolonialen Vergangenheit Frankreichs ist. Diese Immigranten waren in den einstigen Boomphasen in Autofabriken und Stahlwerken durchaus willkommen. Jene Generation hatte in der Regel Jobs, gering bezahlte Jobs, aber man war nicht erwerbslos. Im Zuge der dauerhaften Wirtschaftskrise mit ihrem fortschreitenden Abbau von Arbeitsplätzen hat sich das dramatisch geändert. Die Kinder in der zweiten und dritten Generation, die jetzt die Benzinflaschen basteln, haben auf dem Arbeitsmarkt kaum Chancen: In den Banlieues liegt die Jugenderwerbslosigkeit bei bis zu 40 oder gar 50 Prozent.
Wer in den "heißen Vierteln" zwischen heruntergekommenen Wohnkomplexen mit Gittern vor Türen und Fenstern, verkokelten Mülleimern und zugenagelten Geschäften (sofern es überhaupt welche gibt) sein Dasein fristen muss, ist stigmatisiert. Oft vermasselt allein die Adresse bei der Jobsuche alles - auch im Falle einer qualifizierten Schulausbildung. "Wer es von hier aus und mit einem arabischen Aussehen weit bringt, der muss schon brillant sein", sagt Lai-b Arezki, Sozialarbeiter in Les Coteaux bei Mülhausen. Wenn 20-Jährige trotz guter Zeugnisse keine Arbeit kriegen, vermögen auch 14-Jährige den Sinn von Unterricht nicht unbedingt einzusehen: In den Cités ist die Schulabbrecherquote enorm hoch. Da wird es attraktiver, mit Kleinkriminalität wie Drogenhandel oder geklauten Mofas und gestohlenen Handys Geschäfte zu machen.
In diesem sich seit Anfang der 90er-Jahre verschärfenden Klima hat sich eine Subkultur mit Cliquen und Jugendbanden entwickelt. Diese abgeschottete Welt, in der "les kaids" als "kleine Führer" das Sagen haben und zu Vorbildern für Jüngere werden, hat sich zusehends verselbstständigt und ist zu einem eigenständigen Milieu mutiert. Es handelt sich, insofern sind fixe Vergleiche mit den Barrikadenkämpfen von 1968 aus der Luft gegriffen, nicht um politisch zielgerichtete Aufstände: Jedes Jahr werden in Frankreichs Banlieues Tausende von Autos in einem Akt von implodierender Selbstaggression angezündet - die Heranwachsenden vernichten die Fahrzeuge ihrer armen Mitbürger und mit Schulen, Nachbarschaftstreffs oder Sozialstationen die Lebensgrundlagen der Quartiere.
Von einer Art zerstörerischer Gefängnisrevolte zu sprechen, mutet gar nicht so abwegig an. Die Cités sind nicht nur sozial ausgegrenzt, sie werden auch von der Staatsmacht repressiv in Schach gehalten. Für diese Politik steht Sarkozy mit seiner Null-Toleranz-Strategie - die im Übrigen über all die Jahre augenscheinlich keinen Erfolg gezeitigt hat. Der Innenminis-ter hat nicht erst mit seinen wohlbedachten Äußerungen vom "Gesindel" und "Lumpenpack" Öl ins Feuer gegossen. Es ist die Atmosphäre des Kollektivverdachts im Alltag, die den Staat in den Augen der Jugendlichen zum Feind macht. Überwachungskameras allerorten nehmen nicht nur Missetäter, sondern ausnahmslos jedermann ins Visier. Auch ohne konkreten Verdacht auf eine Straftat werden Heranwachsende häufig von der Polizei kontrolliert, gefilzt, stundenlang auf Kommissariaten festgehalten, in Dateien registriert - es reicht, jung zu sein, eine schwarze Hautfarbe zu haben oder arabisch auszusehen und in einem "quartier sensible" zu wohnen. Auslöser des landesweiten Flächenbrands war der Tod zweier junger Leute in einer Transformatorenanlage, die vor einer Polizeikontrolle geflüchtet waren.
Langfristig auflösen oder zumindest entschärfen lässt sich der Teufelskreis aus sozialer Deklassierung, Rückzug in Parallelwelten, militantem Aufruhr und staatlicher Repression nur durch die Schaffung von Jobs auch für die Menschen in den Cités. Immer mal wieder wurden Gelder in die Banlieues gepumpt, für Fassadenverschönerungen, für Schulen, für Sozialarbeiter, für Sport, für Jugendzentren, für Bibliotheken. Jetzt will Paris wieder in Sozialprogramme investieren. Ohne Integration auch der Underdogs in die Arbeitswelt aber muss das alles Stückwerk bleiben. Wobei in Frankreich und andernorts gern die Frage umschifft wird, ob es bei Millionen von Erwerbslosen noch eine weitere Zuwanderung in den Arbeitsmarkt in größerem Stil aus Nicht-EU-Ländern geben kann.
Vielfach haben Wissenschaftler die sozialen Zusammenhänge analysiert, nur geschehen ist kaum etwas. Mitte der 90er-Jahre hatte Jacques Chirac weitsichtig gewarnt, dass es in den vernachlässigten Vorstädten eines Tages zur Rebellion kommen werde. Nun ist die Revolte da, und sie ist zwei Jahre vor den Präsidentschaftswahlen zum Spielball der Innenpolitik geworden. So wie es aussieht, kann Sarkozy im noch unerklärten Machtkampf mit Premier de Villepin um Chiracs Nachfolge mit seiner Politik der Härte fürs ers-te punkten. Gesindel, Lumpenpack, Hochdruckreiniger: Bei der Mehrheit der Franzosen treffen solche Parolen auf Zustimmung. Notstandsrecht, an die 3.000 Verhaftungen, drakonische Urteile durch (rechtsstaatlich fragwürdige) "Schnellgerichte": Sarkozy dürfte die Lage fürs erste beruhigen können. Aber solange es im Kessel brodelt, nutzt es auf Dauer nichts, den Deckel draufzuhalten: Irgendwann droht die nächste Explosion.