Mit der Aufsehen erregenden Schau zeitgenössischer Kunst aus China mit dem Titel "Mahjong", die unlängst in Bern gezeigt wurde, wird sich dies ändern: Die Originalität und Qualität der Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen, Fotografien, Videoarbeiten und Installationen sind überzeugend. Die Exponate stammen aus dem Besitz von Uli Sigg, dem früheren Schweizer Botschafter in China, der bereits in den 90er-Jahren Gegenwartskunst kaufte, als es in China noch keinen etablierten Kunstmarkt gab - seine repräsentative Sammlung umfasst heute über 1.200 Werke von 180 Künstlern.
Der hervorragend gestaltete und mit über 380 prächtigen Abbildungen ausgestattete Katalog zur Ausstellung ist in mehrfacher Hinsicht ein Standardwerk zur chinesischen zeitgenössischen und Avantgarde-Kunst: Ausführlich werden Werk und Biographien von mehr als 80 Künstlern dokumentiert. Der Sammler selbst und bedeutende Kunsthistoriker, Künstler und Kuratoren wie Ai Weiwei, Hou Hanru, Li Xianting und Bernhard Fibicher geben mit ihren Texten einen umfassenden Überblick zur Entwicklung und gegenwärtigen Situation der chinesischen Gegenwartskunst und ihrer Rezeption im Westen.
Besonders hervorzuheben ist die detaillierte Chronologie der unabhängigen Kunstszene von 1979 bis 2005 mit Daten, Teilnehmern, Veranstaltern und Kurzbeschreibungen der zahlreichen inoffiziellen und offiziellen Ausstellungen sowie Symposien und wichtigen Publikationen in China und in anderen Ländern. Deutlich wird hier der lange Weg bis zur Anerkennung der chinesischen Gegenwartskunst und ihrer Protagonisten auch von offizieller chinesischer Seite, die sich nicht zuletzt in der zunehmenden Zahl öffentlich organisierter Ausstellungen und Events wie der Shanghai Biennale (seit 2002) und der Guangzhou Triennale (2002) manifestiert.
Auch private Galerien in Peking, Shanghai und anderen Städten tragen zur Verbreitung der Kunst bei, so die in- und ausländischen Galeristen des Künstlerviertels 798 im Norden Pekings, das in den 90er-Jahren auf dem Gelände einer ehemaligen Fabrik entstand.
Was ist das "typisch Chinesische" in der Gegenwartskunst? Diese Frage beschäftigt ebenso Künstler und Betrachter. Schließlich entstand die Avantgarde-Kunst nach längerer Isolation Chinas von der übrigen Welt in Auseinandersetzung und als Reaktion auf westliche Kunst. Sie durchlief mehrere Phasen, vom "Mao-Pop", über den "zynischen Realismus" bis hin zu Körperkunst, Video- und Rauminstallationen.
Nonkonform sind die Antworten der Künstler auf die existentiellen Folgen der enormen Modernisierungs- und politisch-ökonomischen Wandlungsprozesse, die China seit zwei Dekaden erfährt. Ebenso spiegeln die Werke persönliche Erfahrungen und Reflexionen kultureller Traditionen. Zu Recht problematisieren die Mahjong-Autoren die im Westen häufig verwendete Formel vom dissidenten Künstler, was deren Intentionen oft missversteht. Ebenso führe der Topos des chinesischen Künstlers als Bedrohung des internationalen Kunstbetriebes in die Irre, in dem alte Vorurteile weiterleben. Als weitere Topoi nennt Bernhard Fibicher den "nicht mehr chinesischen, sondern globalen Künstler" und den chinesischen Künstler als "Exoten".
Viele der im Katalog abgebildeten Werke zählen zu den "Ikonen" chinesischer Avantgarde-Kunst, wie Ai Weiweis Han-Vase mit Coca-Cola-Logo, die Glatzköpfe von Fang Lijun, Xu Bings "Xinglish"-Kalligrafien, Yue Min Juns Skulpturen breit lachender Männer, Yang Shaobins rote, verfremdete Porträts und Wang Jinsongs Fotografien chinesischer "Standardfamilien". In ihrer Vielfalt und Aussagekraft schafft die zeitgenössische Kunst auch einen Zugang zum modernen China. Im Herbst 2006 wird die Mahjong-Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle zu sehen sein.
Bernhard Fibicher und Matthias Frehner (Hrsg.)
Mahjong. Chinesische Gegenwartskunst aus der Sammlung Sigg.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit 2005; 360 S., 49,90 Euro