Seit einigen Jahren entwickeln sich in Südamerika Krisenszenarien, die zwar verschiedene Ursachen haben, in ihren, wenn auch unterschiedlich ausgeprägten, Verfestigungstendenzen jedoch eine Gefahr für die politische und ökonomische Stabilität des Subkontinents darstellen. In der Verengung internationaler, vor allem auch deutscher Lateinamerika-Wahrnehmung gerät dabei nahezu aus dem Blickfeld, in welchem Ausmaß sich Chile seit 1990 gleichsam zum Musterknaben Südamerikas entwickelt hat.
Dieser Weg ist trotz aller noch bestehenden Brüche oder noch ausstehenden Fragen beeindruckend. Er begann mit der Selbstbefreiung von der Diktatur Pinochets durch ein klares Ja zur Demokratie im Referendum über Pinochet, setzte sich fort mit der "Concertación", der Zusammenarbeit zwischen christdemokratischer und sozialistischer Partei, was den Versuch einer Kooperation bedeutete, ideologische Gräben der Vergangenheit zu überwinden, und ging bis hin zu einer mühsamen, von vielen als verspätet angesehenen, aber inzwischen unaufhaltsam in Gang gekommenen Aufarbeitung der Vergangenheit.
Chile konnte in diesen Jahren demokratische Stabilität und wirtschaftlichen Fortschritt verbinden. Höhepunkt dieser Entwicklung ist sicher die vor wenigen Wochen erfolgte Verfassungsreform, mit der die bislang beklagten "autoritären Enklaven", das heißt die verfassungsrechtlich schwer zu ändernden Erbschaften aus der Pinochet-Diktatur überwunden wurden.
Sofern die Demoskopen in Chile ihr Handwerk verstehen, dürfte Ende dieses Jahres die Kandidatin der "Concertación" zur Staatpräsidentin gewählt werden. Auch wenn sich verständlicherweise die traumatische, bis heute nachwirkende Erfahrung Chiles mit der Pinochet-Diktatur als nahezu durchgängiger Bezugspunkt durch diesen Band zieht, bietet gerade diese Verbindung von historischer Grundlage und aktueller Politik die Chance, auch die künftigen Herausforderungen des Landes besser einordnen zu können.
Das wahrlich schwergewichtige Buch setzt sich in 43 Einzelbeiträgen zu insgesamt gut gewichteten sechs Schwerpunktbereichen (Geographie und Bevölkerung, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur sowie Chile und Deutschland, zusätzlich eine detaillierte Chronologie) fundiert mit den verschiedenen Fragestellungen auseinander und ermöglicht so einen umfassenden Überblick über die unterschiedlichsten Facetten chilenischer Realität, der kaum einen grundlegenden bereich außer Acht lässt.
Bei einigen der Beiträge wäre aktuelleres, nicht auf Mitte der 90er-Jahre begrenztes Datenmaterial hilfreich gewesen, etwa zur immer wichtiger werdenden Debatte, wie bei anhaltend hohem Wirtschaftswachstum die Frage der Einkommensverteilung gestaltet werden kann. Dies sind aber Einzelanmerkungen, die den positiven Gesamteindruck dieses Bandes nicht beeinträchtigen können.
Stefan Jost Peter Imbusch, Dirk Messner, Detlef Nolte
(Hrsg.)
Chile heute. Politik, Wirtschaft, Kultur.
Bibliotheca Ibero-Americana.
Vervuert Verlag, Frankfurt/M. 2004; 957 S., 45,- Euro