Die Arbeitslosigkeit liegt in Berlin mit 19,4 Prozent um acht Prozent höher als im Bundesdurchschnitt. Das ist freilich keine neue Entwicklung. Betrug die Arbeitslosenquote 1991 im Bundesdurchschnitt 6,5 Prozent, so waren es in Berlin 9,5 Prozent. Und in den Folgejahren ging diese Kurve immer weiter auseinander. Mit allen entsprechenden Konsequenzen für die Bundeshauptstadt: Stark steigende Sozialleistungen, abnehmende Steuereinnahmen. Daran hat selbst der Umzug des Deutschen Bundestages und großer Teile der Bundesregierung vom Rhein an die Spree nicht viel geändert. War die Arbeitslosigkeit 1999 im Bundesdurchschnitt auf 10,5 Prozent gestiegen, so betrug sie in Berlin 15,9 Prozent.
Das wird auch in Zukunft nicht anders sein, prognostiziert zumindest Thilo Sarrazin (SPD), Finanzsenator im rot-roten Senat der Bundeshauptstadt. So hat er dieser Tage in einer Wirtschaftsrunde freimütig bekannt, dass sich Berlin vorläufig mit einer Arbeitslosenquote von 15 bis 17 Prozent abfinden muss. Selbst dann, wenn die Wirtschaft bundesweit anspringt und das Wachstum weit über ein Prozent steigt. Offene Worte, für die der Finanzsenator nicht nur Anerkennung gefunden hat. Die Wirtschaft lobt seine Ehrlichkeit, die Opposition im Abgeordnetenhaus kritisiert hingegen seine Schwarzmalerei. Mit Ausnahme der Grünen, die keineswegs nur insgeheim den Mut des Finanzsenators bewundern. Doch Schönfärberei war noch nie eine Sache des Mannes, der die Berliner das einserne Sparen gelehrt hat. Das ging sogar so weit, dass er das Urteil des Landesverfassungserichts mehr oder weniger offen begrüßte, sein Haushalt für das Land Berlin sei nicht verfassungsgemäß. Das wusste der Senator ohnehin, weil die Ausgaben für Investitionen unter der Höhe der Neuverschuldung lag. So hoffte er, die Kollegen vom Senat (und die Fraktionen im Abgeordnetenhaus) zu noch höherer Sparsamkeit zwingen zu können. Hatte nicht Klaus Wowereit (SPD), der Regierende Bürgermeister, bei seinem Amtsantritt ein Sparen verkündet, "bis es quietscht"? Freilich muss sich der Finanzsenator inzwischen mit einem Schuldenberg herumschlagen, der sich der 60-Milliarden-Euro-Grenze nähert.
Mitte kommenden Jahres will sich das Bundesverfassungsgericht mit der Klage des Landes Berlin befassen. Danach fordert die Bundeshauptstadt eine Entlas-tung des Bundes bei den Schulden um bis zu 35 Milliarden Euro. Nur so könne Berlin wieder einen ordentlichen Haushalt aufstellen und werde nicht auf unabsehbare Zeit von dem Schuldendienst aufgefressen. Doch der Bund hat selbst kein Geld und der zur Zeit geschäftsführende Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) ist keineswegs davon überzeugt, dass in Berlin ein Haushaltsnotstand ausgebrochen sei.
Ferner weist die Bundesregierung gern auf folgende Zahlen hin: Von 1994 bis 2004 flossen pro Jahr 10,5 Milliarden Euro Sondermittel des Bundes in die neuen Länder. Mit Ausnahme vom Freistaat Sachsen hätten die Länder aber dieses Geld nicht für Investitionen genutzt, sondern in erster Linie zur Sanierung der Haushalte. Das gelte auch für Berlin, das auf diese Weise pro Jahr etwa zwei Milliarden Euro erhielt. Das räumt Sarrazin auch unumwunden ein: "Wir geben von diesem Geld keinen einzigen Euro für Investitionen aus." Doch das tue man nicht leichtfertig. Vielmehr befinde man sich in einer extremen Haushaltsnotlage. Solle das Land mehr investieren, müsse es mehr neue Schulden aufnehmen. Das aber sei unverantwortlich. Außerdem ist er überzeugt, dass die Infrastruktur des Landes nicht schlecht ist. Investitionen also sind aus seiner Sicht nicht das eigentliche Problem, sondern die Einnahmen. Und diese hängen nun einmal auch mit der hohen Arbeitslosigkeit zusammen. Was Berlin fehlt, sind vor allem Arbeitsplätze in der Industrie und Arbeitsplätze für einfache Tätigkeiten. Arbeitsplätze in großem Stil also, die weder Bundesregierung noch Medien, weder Kultur noch Wissenschaft bieten können. Einzige Ausnahme ist der Tourismus, der in Berlin gegenwärtig boomt. Doch auch dieser ist sehr stark von der allgemeinen Konjunktur abhängig.
1991 gab es in Berlin noch rund 236.000 Arbeitsplätze in der Industrie. Gegenwärtig sind es noch 97.000. Tendenz weiter fallend. Denn die großen Firmen, die noch vor Ort in der Bundeshauptstadt sind, haben weitere Entlassungen in großem Stil angekündigt - von Herlitz, dem Bürowarenproduzenten angefangen, der 500 Arbeitsplätze streichen will, bis Samsung, das seine Berliner Niederlassung gleich ganz aufgeben will, was einen Verlust von 750 Arbeitsplätzen bedeuten würde. Siemens will bis 2007 rund 800 Arbeitsplätze einsparen und Bombardier, der größte Produzent von Schienenfahrzeugen, hat in den zurückliegenden Monaten bereits mehr als ein Viertel seiner 1.850 Arbeitsplätze aufgegeben. Das sind nur einige Beispiele. Und neue Firmenansiedlungen sind kaum in Sicht.
Auch in Berlin fliehen viele Menschen in die Ich-AG, eröffnen ein Geschäft oder ein Restaurant. Das gilt nicht zuletzt für die Einwohner ausländischer Herkunft, die in der Stadt leben. Wer jedoch mit offenen Augen durch die Straßen geht, stellt fest, dass gleichzeitig überall nach kurzer Zeit kleine Restaurants und Boutiquen auch wieder aufgegeben werden. In Berlin mangelt es eben an einer hohen Kaufkraft. Und diese fehlt ganz automatisch, wenn es an ausreichend Arbeit in der Industrie mangelt, die wiederum auch Arbeitsplätze in anderen Bereichen nach sich zieht, vor allem im Dienstleistungssektor.
Der FDP-Fraktionschef im Abgeordnetenhaus, Martin Lindner, wirft Sarrazin nach dessen düsterer Arbeitsmarktprognose vor, sich letztlich mit der hohen Arbeitslosigkeit abgefunden zu haben. Denn wenn man wolle, könne man in absehbarer Zeit sehr wohl eine durchschnittliche Arbeitslosenquote von sieben bis acht Prozent erreichen. Konkret nennt Lindner die Stammzellenforschung, die aber von SPD und PDS nicht gewollt und somit auch nicht gefördert werde. Aus der Sicht des Fraktionsvorsitzenden der CDU, Nicolas Zimmer, ist eine andere Förderpolitik des Senats notwendig. Die Politik müsse sich auf die Felder Gesundheit, Wissenschaft, Bildung und Forschung konzentrieren. Dies seien Märkte der Zukunft, die für Arbeitsplätze sorgten. Freilich kaum für die vielen ungelernten und wenig qualifizierten Arbeitskräfte, die in Berlin Arbeit nachfragen. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Sibyll Klotz, mahnt daher, einen dauerhaften zweiten Arbeitsmarkt aufzubauen, etwa im Sozialbereich.
Die Berliner Industrie- und Handelskammer, aber auch die regionalen Unternehmensverbände lasten die hohe Arbeitslosigkeit nicht dem rot-roten Senat an, sondern sehen sehr wohl den Zusammenhang mit der allgemeinen Wirtschaftspolitik. Auch könne man seitens der Landesregierung kaum verhindern, wenn große Konzerne aus Kostengründen Produktionsstandorte schließen würden. Wichtig sei ein nachhaltiger Wirtschaftsaufschwung, um Arbeitsplätze zu schaffen, aber auch eine weitere Privatisierung von Landeseigentum. Richtige Rahmenbedingungen für die Wirtschaft freilich könne eine Landesregierung sehr wohl setzen.
Die düsteren Prognosen des Finanzsenators sind nicht zuletzt auf ein so großes Echo gestoßen, weil in Berlin längst der Kampf um das künftige Abgeordnetenhaus begonnen hat, das im Herbst 2006 gewählt wird. Mit düsteren Wirtschaftszahlen kann man den rot-roten Senat treffen.