Rabia ist einer von mehreren Mädchenläden in Berlin. Die Cafés haben ein besonderes Konzept: Jungs und Männer sind hier nicht erwünscht. Die Mädchen sollen in einem geschützten Raum ihre Probleme besprechen können, Selbstbewusstsein und Vertrauen entwickeln. Weil auch die Eltern türkischstämmiger Mädchen wissen, dass Jungs in den Mädchenladen nicht hinein kommen, erlauben sie ihren Töchtern, denen sie ansonsten bisweilen wenig Freiraum lassen, Mädchencafés wie Rabia aufzusuchen. Für die türkischstämmigen Mädchen ist Rabia oftmals die einzige Möglichkeit, jenseits der Schule den engen häuslichen Milieus zu entkommen und kleine Freiheiten zu erfahren. Ganz wichtig ist neben der Hausaufgabentreuung die Projektarbeit. Dabei können sich die Mädchen weiter entwickeln, Fähigkeit ausprobieren. Sie lernen einen anderen Umgang mit Konflikten, kommen ihren eigenen Standpunkten auf die Spur, entwickeln Individualität.
Die 12-jährige Özlem, die schon seit zwei Jahren zu Rabia kommt, hat zusammen mit anderen bereits ein Hörspiel produziert. Jetzt arbeitet sie an einer Ausstellung über Unternehmerinnen bei der die Rabia-Mädchen Geschäftsfrauen im Kiez befragten, wie es ihnen mit ihrer Selbstständigkeit ergeht. "Spannend" findet Özlem solche Projekte. "Aber Mädchen aus anderen Teilen Kreuzbergs kommen nicht hierher", sagt die Sozialpädagogin Ulrike Pyplatz. "Der Weg ist zu weit, gerade für türkische Mädchen, deren Bewegungsradius ob der familiären Gebote oft sehr eng gesteckt ist."
Den Mädchenladen Rabia gibt es seit sechs Jahren. Etwa 20 Mädchen kommen unter der Woche täglich hierher, etwa 40 bis 60 weitere besuchen den Laden regelmäßig. Rabia ist das einzige große Kreuzberger Mädchenprojekt, das die Sparmaßnahmen der vergangenen Jahre überlebt hat. Berlin hat seine Förderung von Migrantenkindern rabiat auf genau das Minimum heruntergefahren, das durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz vorgeschrieben ist.
Rabia hat nicht nur viele Mädchen unterschiedlichster Herkunft durch Hauptschule und Gymnasium gebracht. Entgegen gängiger Vorurteile sind türkische Eltern oft sehr bildungsorientiert. Nur mangelt es ihnen oftmals aufgrund schlechter Deutschkenntnisse an den Möglichkeiten, ihren Kindern bei den Schulaufgaben zu helfen.
Obwohl nur eine einzige Sozialpädagogin fest angestellt ist und sich die anderen Mitarbeiterinnen durch ein Flickwerk von Projekten finanzieren müssen, haben die Pädagoginnen großen Erfindungsreichtum bewiesen, um mit der Finanznot fertig zu werden und den Mädchen Sinnvolles anbieten zu können. Dazu gehört das tägliche Mittagessen, das es gibt, seit Rabia-Mitarbeiterinnen feststellten, dass manche der Mädchen ohne Frühstück in die Schule gehen, und sich - von den Eltern mit ein paar Euro versehen - hauptsächlich von Süßigkeiten und Döner ernähren. Jugendhilfeträger sind für die Versorgung von Kindern nicht zuständig, Fördergelder für ein Mittagessen waren nicht aufzutreiben. Also traf Rabia eine Übereinkunft mit dem Verein Berliner Tafel, der nun kostenlos Gemüse, Salat und Obst liefert. 50 Cent zahlen die Mädchen für das Essen, das reicht für den Kauf der Grundnahrungsmittel. Vier Mal in der Woche kochen die Mitarbeiterinnen, einmal in der Woche kochen die Mädchen. Dann werden die Tische mit dem besten Geschirr und richtigen Tischdecken eingedeckt, und es wird am Tisch bedient. Inzwischen hat sich daraus ein eigenes Projekt zur Berufsförderung im Hotel- und Gastronomiegewerbe entwickelt. Das Mittagessen bei Rabia ist aber auch der Moment, wo sich Gespräche entwickeln, man neue Freundinnen gewinnen oder überraschende Hilfe bekommen kann. Es ist ein Ort der Stärkung.
Wie viel den Mädchen die Mittagessen bedeuten, zeigen unter anderem die Hörspiele, die Rabia in Kooperation mit umliegenden Schulen produzierte. Die Geschichten wurden von den Mädchen selbst erfunden, meist geht es um Streit in Cliquen. Streit, der entsteht, einfach weil ein Mädchen neu in die Klasse kommt oder ein Missverständnis vorliegt. Brutale Übergriffe von Älteren müssen ausgehalten, Allianzen mit anderen Mädchen gebildet werden. Lehrer, Eltern oder andere erwachsene Autoritätspersonen kommen als Hilfe nicht in Frage. "Du Opfer" ist in den Geschichten das schlimmste Schimpfwort.
Ähnlich verhält es sich mit vielen anderen Rabia-Projekten. Dem Projekt "Mädchenballplatz" etwa liegt die Idee zugrunde, dass Mädchen mehr Chancen haben sollten, öffentliche Orte zu nutzen, auch um dort Ball zu spielen. Wie schwer das ist, wurde im Problemkiez schnell sichtbar. Die Jungen wollten weibliche Gesellschaft auf "ihrem" Platz nicht dulden. Sie nahmen den Mädchen die Bälle weg und bedrohten die entsetzten Erzieherinnen. Die herbeigeholte Polizei schlug sich dann noch auf die Seite der Jungen. Fünf Jahre ist das her. "Seitdem haben wir viel dazu gelernt", sagt Pyplatz. "Darüber, wie wir gewalttätige Konflikte bewältigen, und wie wir Jungen in unsere Arbeit integrieren." Rabia will die Mädchen darin unterstützen, sich in der Öffentlichkeit freier zu bewegen, damit sie an Angeboten teilnehmen und sich behaupten können. Doch das funktioniert nur, wenn bei den prekären Beziehungen zwischen Jungen und Mädchen Vermittlungsarbeit geleistet wird. Heute gibt es den Mädchenballplatz immer noch. Als Koprojekt für Mädchen und Jungen, betreut von weiblichen und männlichen Sozialpädagogen.
Freundlich ist die Atmosphäre an einem normalen Tag bei Rabia, friedlich und konzentriert. Im geräumigen Café sitzen acht Mädchen über ihren Hausarbeiten. An anderen Tischen wird gemalt und gelesen, hinter der Theke beim Spülen geholfen. Ungefähr die Hälfte der Mädchen trägt ein Kopftuch. Oben im Musikraum proben Patricia und ihre Freundin an selbst geschriebenen Songs. In den Holz- und Metallwerkstätten im Seitenflügel, die einmal in der Woche nicht nur für Mädchen, sondern für die gesamte Nachbarschaft geöffnet sind, basteln Jungen und Mädchen an Bumerangs und CD-Regalen.
Doch die Ruhe kann schnell kippen - und das weiß jeder hier: Vor einigen Wochen kam es in einer Gruppe von Mädchen zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung, danach war der Mädchenladen für kurze Zeit wie ausgestorben. Jetzt haben die randalierenden Mädchen erst einmal Hausverbot. Nach Einzelgesprächen, bei denen die Bedingungen ausgehandelt werden, dürfen sie wieder kommen. "Dass die Tür offen bleibt, trotz ihres Verhaltens", sagt Ulrike Pyplatz, "das ist das Wichtigste. Das ist etwas, was ihnen in ihrem Leben nicht oft passiert."