Die Debatte über die deutsche Leitkultur ist wieder aktuell. Nach Ansicht des neuen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU/CSU) bestünde in diesen Tagen wieder Redebedarf. Dies deutete er jüngst in der Wochenzeitung "Die Zeit" an. Dabei geht es, wie schon so oft, um die Frage, was die Deutschen im Innersten zusammenhält. Was also ist Deutsch und was somit nicht? Kurz: Es geht um Zuwanderung und Integration.
Hat man sich seit den Anwerbeabkommen Mitte der 50er-Jahre in der Bundesrepublik kaum Gedanken darüber gemacht, so sind Migration und Integration in den letzten Jahren in die Top Ten der bundesdeutschen Lieblingsdiskurse aufgestiegen. Nun hat sich auch das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin dieses Themas angenommen. Bis Mitte Februar ist hier noch die umfangreiche Ausstellung "Zuwanderungsland Deutschland. Migration 1500 - 2005" zu sehen. Unter der Leitung von Rosmarie Beier-de Haan hat das Geschichtsmuseum gut 400 Exponate von der frühen Neuzeit bis ins 21. Jahrhundert aufbereitet. Es ist eine weitläufige Erzählung, die nicht nur die Gründe für Aus- und Zuwanderung beleuchtet, sondern ebenso nach den jeweiligen Bedingungen innerhalb der deutschen Aufnahmegesellschaft fragt.
Gründe dafür, seine Heimat zu verlassen, gab es schon immer reichlich. Im Zeitalter der Reformation und der beginnenden konfessionellen Auseinandersetzungen war es zumeist fehlende religiöse Freizügigkeit. Ob Protestanten aus Salzburg und Böhmen oder Juden aus Spanien und Portugal: Die Intoleranz der einen, begünstigte nicht selten den wirtschaftlichen Aufschwung der anderen. Denn die Landesherren im Heiligen Römischen Reich waren in der Regel auf Migration angewiesen. Zwar bestimmten Stand, Religion und Herkunft nicht selten, wer aufgenommen wurde und wer nicht; die Zuwanderung von Fremden aber sicherte wirtschaftliche Prosperität und ein gewünschtes Bevölkerungswachstum.
Willkommen aber waren nicht alle. So zeigt die Ausstellung recht anschaulich, mit welchen Mitteln man bereits früh versuchte, Zuwanderung zu lenken und zu kontrollieren. Was in der heutigen Debatte Aufnahmelager und Schutzzäune an den EU-Außengrenzen sind, das waren im 16. Jahrhundert Warntafeln und Sonderregelungen. Zumeist sollten so Wandergesellen und Vogelfreie davon abgehalten werden, sich in den Städten niederzulassen. Aber auch Juden, Zigeuner und jegliche Nichtsesshafte waren der Ordnung der Ständegesellschaft oft ein Dorn im Auge. Das "fahrende Volk" - zu dieser Zeit immerhin gut zehn Prozent der Gesamtbevölkerung - wurde als Gefahr für das friedliche Zusammenleben betrachtet. In der Nähe von Frankfurt am Main etwa stellte man daher einen Hinweisstein mit einer klaren Abweisung auf. "Fahr du Gauner!", heißt es darauf recht barsch und ungastlich. In Hamburg wiederum versuchte man Zuwanderung anders zu reglementieren. Hier waren es vor allem spanische Juden, die sich die Hansestadt als Bleibe erkoren. Um ihren Zustrom besser zu kontrollieren, durften sie lediglich durch ein einziges Stadttor in die Mauern der Gemeinde einkehren. Noch heute zeugt das so genannte Millerntor von diesen frühen Überwachungsmethoden.
Die Probleme von damals, sind der heutigen Diskussion um Zuwanderung durchaus vertraut. Früh ging es um Anpassung und Assimilation. Die war zwar möglich, aber oftmals schwierig. Es war stets ein langer Kampf, wollten die Zuwanderer die Bürgerrechte ihrer neuen Heimat erlangen. Und gehörten sie nicht der gleichen Religionsgemeinschaft an, so wurden sie stigmatisiert.
Zuweilen aber war die Aufnahmegesellschaft durchlässig. So zeigt ein Ausstellungsexponat aus dem Jahr 1617 die Zwangstaufe eines Knaben aus dem Osmanischen Reich. Die Türkenkriege hatten dazu geführt, dass nicht selten Muslime als so genannte "Beutetürken" gefangen und später mit nach Europa verschleppt wurden. Das Abstreifen der alten Religion war für sie zumeist der erste Schritt zur Eingliederung. Hierdurch erhielten sie nicht nur einen neuen Glauben, sondern ebenso einen neuen Namen. Kulturelle Profile und Identitäten schienen somit mehr und mehr austauschbar zu werden.
Einen gesonderten Aspekt nimmt im DHM die beginnende Industrialisierung ein. Hier entstanden völlig neue Wanderungsbewegungen. In großen Massen strömten Menschen aus den Dörfern Ostpreußens in die neuen Industriestädte. Der so entstandenen "Leutenot" wurde mit der Anwerbung von polnischen Arbeitern begegnet. Ganz geheuer aber waren den protestantischen Preußen diese katholischen Fremden nie. Mit ausgeklügelten Kontrollmethoden versuchte man den oftmals irrationalen Ängsten und der Xenophobie Herr zu werden.
Das Empfinden der Zuwanderer war dabei meistens egal. Selbst in der späteren Bonner Republik, als ab 1955 erstmals Portugiesen, Italiener und Türken als so genannte "Gastarbeiter" ins Land geholt wurden, machte man sich über die Nöte und Probleme der Fremden wenig Gedanken. Stellvertretend für diese Arglosigkeit zeigt die Ausstellung einen beigen Briefkasten aus dem Jahr 1970. Darauf steht in Deutsch und in Türkisch die Aufschrift: "Kummerkasten der Ausländerabteilung der Arbeiterwohlfahrt Dortmund."
Das Leben zwischen den Welten, die Realität zwischen Schwerstarbeit und Rückkehrmythos jedoch war zu komplex, um in einer solchen Kiste Platz zu finden. Über 30 Jahre sollte es noch dauern, bis man in der dann wiedervereinigten Bundesrepublik endlich anerkennen konnte, das sich der Begriff des Staatsbürgers durch die Jahrzehnte nicht nur gewandelt hatte; er war vielleicht - die Ausstellung zeigt es - stets nur ein Konstrukt aus dem Zeitalter des Nationalstaats.
Der Migration in Deutschland fehlte es jahrelang an einer echten Erinnerungskultur. Dabei hat gerade im Herzen des europäischen Kontinents Zuwanderung immer eine bedeutende Rolle gespielt. Eine Ausstellung über Migration durch fünf Jahrhunderte kann immer nur exemplarisch bleiben. Unzählige Einzelfälle vermitteln allenfalls einen flüchtigen Eindruck davon, wie verschieden und doch oftmals gleich die Probleme waren, vor denen sich Fremde in Deutschland gestellt sahen. Der eigentliche Verdienst einer solchen Ausstellung ist ein anderer: "Zuwanderungsland Deutschland" erinnert daran, dass ein großer Teil der deutschen Bevölkerung irgendwo im familiären Gedächtnis noch eine zweite Heimat hat.