Deutschland
Die Länder an der Ostsee investieren in Biotechnologie und »Medical Wellness«
Links geht es zum Empfang, rechts geht es nirgendwohin. Der Eingang des alten, mit Fliesen verkleideten Hochhauses ist zwar aus neuem Beton und Glas. Doch in der rechten Ecke hängen noch Kabel aus der Decke und die Glasverkleidung fehlt. Das Hauptgebäude des Universitätsklinikums Greifswald ist derzeit eine große Baustelle. Aber bis 2009 soll hier die modernste Klinik Deutschlands stehen.
Mecklenburg-Vorpommern will aufholen. Mit einer Arbeitslosenquote von knapp 16 Prozent, einem Industrieanteil an der Gesamtwirtschaft von rund elf Prozent, sinkenden Einwohnerzahlen und einer im Bundesdurchschnitt immer noch hohen Pro-Kopf-Verschuldung steht das Land im Deutschlandvergleich auf hinteren Plätzen. Der Solidarpakt endet 2019. Das Land muss sich weiterentwickeln. In Greifswald hat man das offensichtlich begriffen. Um das Klinikum herum, jenseits der Innenstadt, entsteht ein neuer Campus. Hier setzt man auf die Wissenschaft: Die Hansestadt mit dem sorgfältig restaurierten Zentrum und den knapp 53.000 Einwohnern ist jetzt schon einer der beliebtesten Studienorte für Medizin in Deutschland.
Neben Studenten will die Stadt Forscher und Unternehmen an die Ostseeküste locken. Wissenschaft kann Innovationen bringen und so Arbeitsplätze, so lautet der Plan. Deshalb steht das Biotechnikum, eines der sechs Biotechnologie-Gründerzentren des Landes, ebenfalls auf dem Campus. Es ist gerade einmal elf Jahre jung, die Architektur ist kantig mit viel Glas. Auf 4.300 Quadratmeter finden sich kleine, weiß gestrichene Büros und Labore. Das reicht für etwa 180 Arbeitsplätze.
Biotechnologie ist einer der Schwerpunkte, mit denen die Landesregierung das traditionelle Spektrum aus maritimer Wirtschaft, Lebensmittelfirmen und Tourismus erweitern will. 21 Millionen Euro hat das Greifswalder Biotechnikum gekostet. Finanziert wurde es zu 90 Prozent vom Land, dem Bund und der Europäischen Union. Die Stadt und später die Betreibergesellschaft, an der die Stadt zu 51 Prozent beteiligt ist, haben den Rest finanziert.
Gründerzentren wie dieses sollen vor allem kleinen und mittleren Unternehmen helfen, sich zu etablieren. Sie brauchen sich keine technischen aufwändigen und teuren Geräte kaufen, sondern können sie sich mit anderen Firmen teilen. So entsteht Platz für neue Ideen, für Firmen wie Decodon. Drei Räume plus Teeküche und Abstellraum belegen Markus Kolbe und seine acht Mitarbeiter im Greifswalder Biotechnikum. Darin stehen nicht viel mehr als einige Schreibtische und Computer. Kolbe und sein Team entwickeln Software für Genomforscher. Die Programme sollen Wissenschaftlern unter anderem helfen, ihre Versuche auszuwerten und zu präsentieren. Ein Nischenprodukt, aber nach Kolbes Angaben ist sein Unternehmen in dieser Sparte auf dem Weltmarkt führend.
Vor sieben Jahren hat er die Firma zusammen mit vier Forschern der Universität Greifswald gegründet, weil einer von ihnen genau so ein Programm brauchte. Die ersten Jahre wurden sie durch den Bund und das Land gefördert. "Wir sind jetzt im dritten Jahr mit Gewinn und das ist schon mal ganz gut", zeigt sich Kolbe zufrieden. Eventuell werde er in den nächsten Jahren weitere Mitarbeiter einstellen.
"95 bis 98 Prozent der Fläche sind vermietet", sagt Heinrich Cuypers. Er ist Sprecher von BioCon Valley, einem landesweiten Netzwerk zur Förderung der Biotechnologie, dem das Biotechnikum angehört. Zwei Drittel des Hauses nutzten Firmen, den Rest Forscher der Universität und Vereine, an denen sich Uni und Firmen beteiligten. Das Gebäude sei für die Stadt inzwischen kostenneutral. Durch die Mieten könnten auch die vier Verwaltungsangestellten bezahlt werden. Die Bevölkerung habe mit der Einrichtung, in der Gentechnik eine zentrale Rolle spielt, wenig Probleme. Als "kritisch, aber nicht destruktiv" beschreibt Cuypers die Haltung der Greifswalder.
Anfangs sei sie dennoch ein "großes Wagnis" gewesen. Und im Zuge des Börsencrashs 2000 und 2001 habe es auch einen schweren Einbruch in der Branche gegeben. "Viele haben in Projekte investiert, die noch nicht reif genug waren." Die Entwicklungszeiten in der Biotechnologie lägen bei zehn bis 15 Jahren. Bis ein Medikament auf den Markt komme, müsse eine Firma 500 bis 800 Millionen Dollar aufbringen, schätzt Cuypers. Nicht jeder habe das gewusst und sich darauf eingestellt. "Inzwischen hat sich die Branche aber berappelt."
90 Firmen mit insgesamt 2.200 Beschäftigten zählten heute im weiteren Sinne zur Biotechnologie-Branche Mecklenburg-Vorpommerns, knapp ein Drittel davon in Greifswald und Umgebung. Zwar habe das Biotechnikum in Greifswald bisher nicht besonders viele Arbeitsplätze geschaffen, gibt Cuypers freimütig zu. Es sei aber immerhin ein "kleiner Beitrag" und vor allem "eine Hülle, um aus dem Thema Wirtschaftskraft zu schöpfen".
Mecklenburg-Vorpommern fördert die Forschung auch, um seine Gesundheitswirtschaft zu stärken. Nach dem Willen der Landesregierung soll es zum Gesundheitsland Nummer 1 werden. Zur dieser Branche zählen alle Bereiche, die in irgendeiner Form mit Gesundheit zu tun haben: Kliniken, Hotels, Universitäten. Das Schlagwort heißt "Medical Wellness" und soll in etwa so funktionieren: Der Gast eines komfortablen Hotels erhält Behandlungen in der örtlichen Klinik, nutzt die Wellness-Abteilung seiner Unterkunft und besucht Theater und Restaurants im Ort. Auf diese Weise und mit Hilfe spezieller Angebote sollen Tourismus und andere Wirtschaftssparten einen höheren Profit erwirtschaften und mehr Arbeitsplätze schaffen. Das Profil des Tourismus' im Land, der bisher zu großen Teilen von Campern und Urlaubern mit wenig Geld lebt, soll dadurch facettenreicher werden.
Doch nicht nur Mecklenburg-Vorpommern hat dieses Ziel, Schleswig-Holstein will ebenfalls vom Gesundheitstourismus profitieren. Genauso wie sein Nachbarland setzt es dabei auf "Medical Wellness". Schleswig-Holstein kennt die strukturellen Probleme des östlichen Bundeslandes aus eigener Erfahrung. In den 70er-Jahren war es das am schwächsten industrialisierte Land in der Bundesrepublik. Gemessen an den durchschnittlichen Werten Norddeutschlands hatte Schleswig-Holstein zum Beispiel zu wenige Wissenschaftler und bot zu wenige Studienplätze an. Die Infrastruktur - Schienenverkehr, Autobahnen und -straßen - waren vergleichsweise schwach ausgebaut.
Das hat sich teilweise geändert, doch auch heute hat das Land noch Probleme. Es gibt zwar wieder mehr Arbeitsplätze. Die zuständige Arbeitsagentur berichtete im Juni stolz von knapp 19.000 Arbeitslosen weniger als im Vorjahresvergleich. Trotzdem suchten noch über 178.000 Menschen einen Job, also 8,2 Prozent der möglichen Erwerbstätigen.
Vor zwei Jahren startete die Regierung zusammen mit Vertretern der Ärzte, Krankenhäuser, Forschungseinrichtungen und Verbände eine landesweite "Gesundheitsinitiative". Einen Schwerpunkt legten die Akteure dabei auf den Tourismus. Das kommt nicht von ungefähr: Die Tourismuswirtschaft des Landes hatte laut Wirtschaftsbericht 2006 einen ebenso hohen Umsatz wie das Ernährungsgewerbe, der Maschinenbau und die Chemie-Industrie. In ihr arbeiteten fast so viele Menschen wie im verarbeitenden Gewerbe. Jetzt sollen Mediziner und Hoteliers stärker zusammen rücken.
In St. Peter-Ording zeigen Anbieter, wie das einmal landesweit aussehen könnte. Die Rehabilitationsklinik "Goldene Schlüssel" des Deutschen Roten Kreuzes wirbt dort mit Konzepten, die die Kunden "zum Manager ihrer eigenen Erkrankung" werden lassen sollen. Die Angebote sind auf die am stärksten verbreiteten Volkskrankheiten zugeschnitten - vor allem Rückenprobleme und Allergien - und bieten einen Mix aus Kursen zu Gymnastik oder Kochen mit Vorträgen und medizinischer Betreuung. Sechs Tage einschließlich Verpflegung und Unterkunft kosten 580 Euro. Die muss der Kunde weitgehend selbst zahlen, die Kranken- kassen übernehmen nur einen kleinen Teil.
Nach Ansicht von Ralf Duckert vom Wirtschaftsforschungsinstitut "dsn" in Kiel ist die Verbindung von Urlaub und ärztlicher Behandlung ein Weg, der Zukunft hat. "Es geht hierzulande im Tourismus nicht nur um schicke Hotels."
Die Gesundheitswirtschaft sei im nördlichsten Bundesland insgesamt nicht zu unterschätzen. Schleswig-Holstein habe "eine starke Medizintechnik und eine enorme Pharmaproduktion, dafür ist das Land gar nicht so bekannt". Ob die neue Form des Tourismus viele Arbeitsplätze geschaffen hat und noch schaffen wird, könne er allerdings nicht vorhersagen. "Es gibt Indikatoren, die dafür sprechen - etwa die gute Kliniklandschaft und die modernen Reha-Einrichtungen. Aber es fehlen belastbare Daten."
Die Autorin ist Volontärin dieser Zeitung.